Basler Zeitung
08.11.2013
«Die Seife des Mannes ist das Schiesspulver»
Von Eugen Sorg
Albaner sind stolz auf ihre Herkunft und ihre Geschichte. Aber sie stehen mit ihrer Eigenbeurteilung fast alleine da. Bei den übrigen Nationen geniessen sie einen miserablen Ruf. Und sind daran nicht unschuldig.
Die Wahlen vom letzten Wochenende in Kosovo, von der Patronatsmacht EU stolz als «historische» bezeichnet, konnten nicht regulär zu Ende geführt werden. Im Norden des jungen Balkanstaates, wo die serbische Minderheit lebt, wurden Wahlbüros und Wahlurnen verwüstet. Vermummte serbische Schlägertrupps, aber auch albanische Gangster verbreiteten ein Klima der Einschüchterung. Beide Seiten haben kein Interesse an legalen Verhältnissen. Kosovarische Polizisten, Angehörige der Eulex, der Europäischen Justiz- und Polizeimission, OSZE-Beobachter und Nato-Soldaten der Kfor schauten dem wüsten Treiben hilflos zu.
Trotz Milliarden an EU-Geldern und teurem europäischem Personal ist es nicht gelungen, Kosovo in einen halbwegs verlässlichen Rechtsstaat zu verwandeln. Die Behörden sind korrupt, und die Gelder versickern in dunklen Kanälen. Verbrechergangs, oft familiäre Clanunternehmen, mit Angehörigen in Deutschland oder der Schweiz, kontrollieren von Kosovo aus das europäische Heroingeschäft, betreiben Frauenhandel und waschen Geld im grossen Stil, mit einem Reisebüro, einem Restaurant, einem Lebensmittelladen als Tarnbetrieb. Die albanischen Gangs zeichnen sich aus durch Flexibilität, undurchdringliche Verschwiegenheit und hemmungslose Brutalität.
Natürlich ist es eine Minderheit, die Drogen in ihre Gastländer ein- und Schwarzgeld oder Raubgut wieder ausführt. Doch viele der 200 000 albanischen Emigranten in der Schweiz bringen aus dem Balkan etwas mit, das in der neuen Heimat ebenfalls auf wenig Gegenliebe stösst: ein ultra-patriarchalisches Weltbild und archaische Vorstellungen von Scham und Sühne. «Der Mann ohne Waffe ist ein Weib», wird den Jungen von den Altvorderen gelehrt und ebenso die Maxime: «Die Seife des Mannes ist das Schiesspulver.»
Seit Jahren erregen immer wieder Fälle wie jener des albanischen Maurers Gani L. aus Einsiedeln grosses Aufsehen, der zuerst seine Tochter hinrichtete, weil sie einen Freund hatte, und dann seine Frau erschoss, weil er sie beschuldigte, Sex mit einem anderen gehabt zu haben. Vor der Tat soll er die Einwilligung des Schwagers geholt haben, um sicherzugehen, dass er keine Blutrache auf sich ziehen würde.
Oder der Fall des Ded Gecaj aus Kosovo, der in St. Gallen den Lehrer seiner Tochter erschoss. Die Schülerin hatte diesem anvertraut, dass sie von ihrem Vater seit Jahren misshandelt und sexuell missbraucht werde. Da sich der Lehrer in eine Familienangelegenheit einmischte, indem er sich vor die Tochter stellte, musste er sterben. Aber auch das Mädchen lebt seither ohne Kontakt zur Familie irgendwo in der Schweiz unter falschem Namen. Sie hat das eherne traditionelle Gesetz, «das Geheimnis des Hauses zu schützen», gebrochen, wurde deswegen verstossen und muss nun befürchten, von ihren Brüdern und Verwandten getötet zu werden.
Bei all dem geht es um verletzte Ehre der Familie und des Mannes, um das «schwarze Gesicht» der Unehre, das mit Blut reingewaschen werden muss. Die Täter folgen nicht nur niedrigen Impulsen wie Eifersucht, gekränkter Liebe, Hass, sondern auch einem über Jahrhunderte von Generation zu Generation überlieferten Gewohnheitsrecht, dem Kanun, dem Recht der Berge. Der Kanun schreibt aber nicht nur Modalitäten der kruden Blutrache vor, er regelt auch alle Angelegenheiten des Zusammenlebens – Heirat, Erbschaftsfragen, Jagdrechte. Und er enthält den schwer übersetzbaren Begriff Besa, der unter anderem Versprechen, Ehrenwort, Friedenspakt, Sicherheitsgarantie bedeutet.
Das Konzept der Besa trug dazu bei, dass während des Zweiten Weltkrieges Albanien, zu dem damals auch Kosovo gehörte, zum Land der Judenrettung wurde. Schon 1935 hatte der damalige König Zogu den bedrängten Juden Deutschlands Visa und sogar die Staatsbürgerschaft angeboten, um beim Aufbau seines armen Staates zu helfen. Die internationale Diplomatie nahm erstaunt dieses «Land ohne Antisemitismus» zur Kenntnis. Tausende sollten in den nächsten Jahren dort vor dem Holocaust Zuflucht finden.
Die italienischen und ab 1943 die deutschen Besatzer verlangten von den albanischen Behörden Namenslisten und Aufenthaltsorte der Juden für die Deportation. Die Behörden weigerten sich schlichtweg und warnten stattdessen viele Bedrohte und stellten ihnen falsche Papiere aus. Auch in der Bevölkerung gab es keine Verräter. Egal ob einfache Schafbauern, Beamte oder städtische Intellektuelle, alle schützten die Juden und brachten sie an Orte, wo sie vor den nazistischen Menschenjägern sicher waren.
Xhemal, einer der Retter, erzählte 65 Jahre später der Zeitung «Jüdische Allgemeine», wie er als 15-Jähriger mit einem Maulesel von Tirana loszog, um die Familien Ben Yosef und Mandil auf einem tagelangen Marsch in seinen Heimatort Kruja im nördlichen Küstengebirge zu bringen. «Alle Einwohner von Kruja wussten, dass wir Juden verstecken. Die Mandils waren manchmal sehr unruhig. Ich fragte mich, wie die Angst haben können, wo sie doch so sicher bei uns sind. Wir selbst wollten nicht an die Gefahren denken, die uns drohten, wenn die Deutschen uns entdeckt hätten.»
Derselbe vormoderne Sittenkodex, der Frauen als «Schlauch, in dem die Ware transportiert wird», definiert und dessen fatales Konzept der Blutrache ganze Sippen an den Rand der Auslöschung gebracht hat, stellt hingegen mit dem Begriff der Besa ein zutiefst humanistisches Modell vor. Besa bedeutet, dass man in Zeiten der Not die Verantwortung für das Leben der Gefährdeten übernehmen muss. «Das Haus des Albaners gehört Gott und dem Gast», drückt dies der Kanun aus.
69 Albaner wurden bisher von der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als «Gerechte unter den Völkern» ausgezeichnet, ein Ehrentitel für jene, die unter Einsatz ihres Lebens Juden retteten.
Der Ruf der Albaner ist schlecht. Zum Teil sind sie daran mitschuldig. Aber auf einiges können sie tatsächlich stolz sein.