Basler Zeitung
26.04.2013
Noam Chomskys später Sieg
Der dicke Elefant im Raum
Von Eugen Sorg
Eine Umfrage des Gratisblattes «20minuten» ergab, dass rund 57 Prozent der Schweizer glauben, die US-Regierung habe die Terroranschläge vom 11. September 2001 selber inszeniert oder im Voraus von ihnen gewusst – sie willentlich nicht verhindert. Zwar war die Umfrage nicht repräsentativ. Aber es wäre falsch, das Resultat als zufällig, bedeutungslos abzutun. Die Auffassung, amerikanische Politeliten seien zu jeder Teufelei fähig, findet sich nicht nur bei Konsumenten von Gratisheftchen, sondern wird auch von vielen Gebildeten und Akademikern geteilt. Vor wenigen Jahrzehnten noch waren solche Verschwörungstheorien die Spezialität sowjetischer Propagandastäbe und spinnerter linksradikaler Sekten. Heute jedoch zweifelt kaum jemand mehr an der geistigen Zurechnungsfähigkeit einer Person, die im Ernst behauptet, die Regierung der mächtigsten Demokratie der Welt habe 3000 ihrer Bürger ermorden lassen – das gewaltigste Täuschungsmanöver der Geschichte, ohne dass irgendeiner der notgedrungen vielen Mitwisser je etwas ausgeplaudert hätte.
Aus diesem trüben Befund lässt sich schliessen, dass das Weltbild Noam Chomskys in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, dass eine Mehrheit von uns Chomskysten geworden sind, auch wenn viele nicht wissen, wer Chomsky ist. Der 84-jährige amerikanische Sprachwissenschaftler erlangte früh akademischen Weltruhm als Begründer der Generativen Grammatik. Doch neben seiner linguistischen Forschung führt er seit 50 Jahren eine Parallelexistenz als rastloser politischer Essayist und Aktivist. Sein Weltmodell, verlockend simpel wie ein Comic, hat ihn zur Kultfigur von Generationen von Globalisierungs- und Kapitalismuskritikern werden lassen.
Beeinflusst von den anarchistischen Autoren des 19. Jahrhunderts, sieht Chomsky zwei Grundkräfte in der Gesellschaft am Wirken: Einerseits Machthunger und Profitgier, verkörpert in den gigantischen amerikanischen Firmen. Diese kontrollieren und manipulieren die Medien, die Intellektuellen und die Regierungen; sie lösen Kriege aus, wenn es ihnen passt, stürzen Kontinente ins Elend, wenn es ihnen nützt. Andererseits existiert ein Freiheitsinstinkt, quasi genetisch angelegt in den einfachen Menschen, minderen Klassen und Völkern, die sich immer wieder gegen ihre Machtlosigkeit auflehnen.
Mit dieser Schablone deutet er jeden Konflikt der neueren Geschichte. Aufständische Minderheiten, vermeintlich Schwächere, sind prinzipiell im Recht, moralisch unangreifbar, auch wenn sie zu rüden Mitteln greifen. Die ökonomischen Herren des Universums hingegen sind für jedes Unglück auf dem Planeten verantwortlich, sind a priori schuldig. Und wenn die Realität mit der Theorie kollidierte, was meistens der Fall war, liess sich Chomsky nicht davon beeindrucken.
Als in den 1970er-Jahren die Bauernkommunisten der kambodschanischen Roten Khmer Millionen von Städtern in die Reisfelder trieben und mit unsagbarer Brutalität einen Viertel der Bevölkerung ermordeten, tat Chomsky diese Nachrichten als Gräuelpropaganda der vom Grosskapital gekauften Medien ab. Und falls trotzdem gegen alle Wahrscheinlichkeit ein Genozid stattgefunden habe, räumte der Gelehrte ein («The Political Economy of Human Rights», 1979), dann seien gleichwohl die US-Konzerne schuld. Sie hätten schliesslich den Krieg nach Indochina gebracht.
Ähnlich reagierte Chomsky auf die Terrorattacken von 9/11. Osama bin Laden und seine Gotteskrieger seien nicht nur von US-Geheimdiensten eigenhändig geschaffen worden, sondern auch im weiteren Sinne Produkt der US-Politik. Der Hass auf Amerika sei die logische Konsequenz imperialistischer Anmassung gegenüber der Dritten Welt. In Chomskys Universum gibt es keine ungelösten Fragen. Schuldige und Opfer stehen zum Vornherein fest, unermüdlich treibt der Professor seine Gedanken durch die intellektuelle Endlosschlaufe. Der Preis der redundanten Selbstbestätigung ist analytische Impotenz. Chomsky und seine linken Anhänger haben in der Wahrnehmung und Beurteilung neuer gesellschaftlicher Phänomene versagt. Seit mehr als 30 Jahren zum Beispiel hat sich, ausgehend vom Nahen Osten, der radikale Islamismus ausgebreitet. Eine totalitäre, politisch scharfgemachte Variante des Islam, hält er die muslimische Umma zunehmend als Geisel, hat in einigen Staaten bereits die Macht erobert oder ist auf dem Wege dazu und geniesst beunruhigend viele Sympathien in der muslimischen Diaspora des säkularen Westens.
Der Islamismus ist kein Aufstand der Freiheit gegen westliche Unterdrückung oder vergangenes Kreuzrittertum. Er ist eine eigenständige, irrationale und nihilistische Ideologie, ein pseudoreligiöser Kult des Massakers, in dessen Namen seit dem 11. September 2011 über 20 000 tödliche Anschläge verübt worden sind. Er ist eine «pathologische Massenbewegung» (Paul Berman), vergleichbar mit anderen apokalyptischen Bewegungen in der Geschichte.
Seinen jüngsten Auftritt verschafften ihm die «Marathon-Bomber», die Brüder Tsarnaev in Boston. Mit selbst gebauten Bomben wollten sie an einem Sportanlass möglichst viele Zivilisten töten und verstümmeln. Ungemütlich war nicht nur die Tat, sondern auch die Reaktion eines beträchtlichen Teils der Presse. Als über die Täterschaft noch nichts bekannt war, spekulierten viele Kommentatoren redselig über rechtsextreme, christliche Terroristen, offensichtlich ideologische Wunschkandidaten. «Hoffentlich ist der Bomber ein weisser Amerikaner», fasste die linke Onlinepublikation «Salon» den perversen Wunsch zusammen. Kurz darauf wurden die Attentäter identifiziert: Muslime, gebürtige Tschetschenen. Viele Journalisten schienen peinlich berührt. «Einzeltäter», murmelten sie kleinlaut, «keinerlei Motiv ersichtlich». Als ob es nicht gerade ein Merkmal des Jihadismus, des politischen Islamismus wäre, keine Bekennerbriefe zu hinterlassen. New York, London, Madrid, Bali, Mumbai: Das Blutbad im Alltag, zerfetzte Körper, maximaler Schrecken, das ist ihre Unterschrift. Jeder weiss das. Nur die Chomskysten der Mainstreampresse stellten sich dumm. Der islamistische Terror ist wie der dicke, gewaltige, bedrohliche Elefant im Raum, um den alle herumstehen und so tun, als bemerkten sie ihn nicht.
Der Islamismus ist kein Aufstand der Freiheit gegen westliche Unterdrückung. Er ist ein pseudoreligiöser Kult des Massakers.