Die Weltwoche

02.06.2005

Die einsame Masse

Von Eugen Sorg und Nathan Beck (Bilder)

Für den wohlhabenden Westen sind es Menschen in Anführungszeichen: quadratisch, hässlich, doof. Doch wer ihnen bei der Europameisterschaft in Sofia zusah, weiss: Gewichtheber ertragen mehr, als sie verkraften ­ und das Sympathische: Sie geben deswegen nicht an.

Der Auftritt der Kolosse, der Athleten der obersten Gewichtsklasse «105 Kilogramm plus», bildet den Höhepunkt der 84. Gewichtheber-Europameisterschaft in Sofia. Doch für den Bulgaren Velichko Cholakow, Vorjahressieger und hünenhafter Liebling des fast ausschliesslich einheimischen Publikums, droht die Veranstaltung in einer Blamage zu enden. Cholakow ist in der Kategorie Reissen mit dem Hantelgewicht von 200 Kilo in den Kampf eingestiegen, mit mehr als jeder der sieben Konkurrenten vor ihm. Mehr als der Pole Najdek beispielsweise, ein solider Heber mit kugelrundem, gemütlichem Gesicht, der mit 180 Kilo begonnen und sich in den zwei folgenden Versuchen ungefährdet auf anständige 187,5 Kilo hochgehievt hat.

Cholakows erster Versuch hingegen ist gescheitert, und als er nun zum zweiten auf die Bühne steigt und sich wie zum Gebet hinter die mächtige Hantel krümmt, halten seine Anhänger, die eben noch geschrien und gejubelt haben, den Atem an. Jeder in der etwas schäbigen Universitätssporthalle spürt, dass Cholakow zu hastig, zu übermotiviert an die Arbeit geht. Vielleicht weil er noch jung ist ­ erst 23 Jahre ­, vielleicht weil ihn die frenetische Unterstützung des Heimpublikums zur Selbstüberschätzung verführt hat. Schnell reisst er das Gerät in die Höhe, springt fast gleichzeitig darunter, fängt es auf in der Hocke und mit gestreckten Armen, hält für die Dauer eines Herzschlags inne, saugt Luft ein und beginnt sich auf dem peinvollen, unendlich lang scheinenden Weg in die aufrechte Position zu stemmen.

Der ganze Körper bebt, am kurzen, sockelähnlichen Hals treten die Adern hervor, der kleine Kopf verfärbt sich erst rot, dann dunkelrot. Cholakow stöhnt wie ein verwundetes Tier. Es gelingt ihm, die Beine durchzudrücken, aber er hat Schwierigkeiten, die über seinem Kopf schwebende Last zu stabilisieren. Langsam beginnt die Hantel nach vorn zu kippen, Cholakow versucht mit blitzschnellen Schrittchen ihren Niedergang zu unterlaufen, seine Arme zittern, die Äuglein scheinen aus dem knorpelartigen Kopf zu quellen, und als er realisiert, dass er den Kampf gegen die Schwerkraft verliert, stösst er das Gewicht mit einem Wutschrei von sich, dreht sich um und stapft vom Podest. Er sieht nicht mehr, wie die Hantel am Boden aufprallt, über den Bühnenrand hinausrumpelt, ein Kamerastativ umhaut und sich die Fotografen mit grossen Sätzen in Sicherheit bringen. Er sieht nur noch den letzten Versuch, der gelingen muss, will er die totale Schmach verhindern.

Die Athleten sind während der Meisterschaft im Hotel «Vitosha» untergebracht, einem Neubau am Stadtrand von Sofia. Vor und nach ihren Wettkämpfen hängen sie manchmal in der Lobby herum, schauen sich auf Eurosport die Auftritte der anderen Heber an, rauchen eine Zigarette, wechseln ein paar Worte mit Betreuern oder Kollegen. Kein Aussenstehender käme auf die Idee, dass hier die stärksten Männer Europas sitzen, Landesmeister, Olympiasieger, Weltrekordler. Niemand will ihr Autogramm, kaum ein Journalist taucht je im Hotel auf. Die Champs sind ruhige, unkomplizierte, zu Übergewicht neigende Typen in Trainingsanzügen, die ausschauen, als würden sie jeden Samstagmorgen im Supermarkt zwei, drei Harasse Bier einkaufen, damit am Wochenende keiner ihrer Freunde und Kumpel Durst haben muss.

Erst wenn einer aufsteht und den Raum durchquert, bemerkt man, dass etwas an ihm anders ist. Die Arme baumeln wie Fremdkörper an den Seiten herunter, und die Beine schieben sich ungelenk vorwärts, als hätten sie das Gehen verlernt. Ein Gewichtheber in Horizontalbewegung wirkt wie eine Fehlkonstruktion. In ungezählten stählernen Exerzitien hat er sich die Oberschenkel eines Pferdes und den Rücken eines Ochsen antrainiert. Die Muskelapparatur dient dazu, aus der Hocke in den Stand zu gelangen und dabei riesige Lasten zu balancieren ­ um geradeaus zu laufen, sind die mächtigen Bizepsformationen unnütz.

Hoden? Peanuts!

Der Kampf gegen die Hantel ist nicht ohne Risiko. Vor allem die Knie, aber auch die Hüften und Schultern sind verletzungsanfällig. Die Belastung der Gelenke ist riesig, gelegentlich glaubt man sie knirschen zu hören. Am vorletzten Wettkampftag zum Beispiel konnte der Russe Jarkin die 212,5 Kilo Gewicht über seinem Kopf nicht unter Kontrolle bringen, die Hantel begann sich im Kreis zu drehen, er drehte sich mit ihr, stampfend und zitternd, bis sie nach hinten kippte und ihn mit zu Boden riss. Er blieb liegen und schrie wie wahnsinnig vor Schmerz, als hätte er einen Bauchschuss eingefangen. Später stellte sich heraus, dass die Schulter ausgekugelt und angerissen worden ist.

Pech hatte auch ein Sportler an einer Veranstaltung in England. Beim Versuch, sich in die Aufrechte zu wuchten, entfuhr ihm nicht nur der übliche Furz, sondern es platzte die Naht seiner Hose, und der Darm stülpte sich nach aussen. Ein Fotograf dokumentierte das Malheur und stellte das Bild ins Internet: ein Kranz violetter und rot-praller Eingeweide, nicht unähnlich einem fleischigen Zierkürbis.

Die nachhaltigste Gefahr aber resultiert aus der Versuchung, mittels geruchloser, winziger, jedoch potenter Substanzen der Natur ein wenig nachzuhelfen. Anabolika beispielsweise fördern den körperlichen Aufbaustoffwechsel, das heisst, sie verkürzen die Regenerationszeit zwischen den Trainings. Welcher schwer arbeitende Athlet könnte da widerstehen? Die Masse von Dopingfällen bei den Hebern ist legendär und hat dazu geführt, dass seit einigen Jahren keine andere Disziplin derart streng und systematisch kontrolliert wird. Anabolika stimulieren aber auch die Testosteronbildung. Werden sie über längere Zeit eingenommen, gewöhnt sich der Körper an die Fremdzufuhr, wird bequem und stellt die Eigenproduktion männlicher Sexualhormone allmählich ein. Während die Nackenmuskulatur wächst, schrumpft der Hoden. Gross, ja gleichsam religiös muss die Hingabe des Athleten an seinen Sport sein, dass er für zehn Kilo mehr auf der Hantel Eier, klein wie Erdnüsse, in Kauf nimmt. Oder gibt es andere Gründe für die erstaunliche Opferbereitschaft?

Grusel und Belustigung

Im Westen ist die Gewichtheberei dem Aussterben nahe. Die Verbände röcheln, der Nachwuchs bleibt aus, die internationalen Medaillen ebenso. Nicht in erster Linie wegen der notorischen Dopinggeschichten ­ der Velorennsport wurde ebenfalls von Dopingskandalen heimgesucht, hat aber deswegen an Popularität nichts eingebüsst. Das wettkampfmässige Hantelnstemmen gilt im wohlhabenden Teil der Welt schon seit langem als Primitivsportart, als archaischer Zeitvertreib beschränkter Kerle. Anders als in den Armenhäuslerregionen des Ostens, wo es Achtung geniesst und wo die starken Männer als Helden verehrt werden. Seit Jahrzehnten dominieren die Athleten aus Russland, Bulgarien, Armenien, China, aus der Türkei, der Ukraine, dem Iran die Wettbewerbe. Das verweichlichte und arrogante Alteuropa schaut auf sie herunter mit einer Mischung aus Gruseln und Belustigung. Die schwer schnaufenden Kraftmaschinen kommen ihm vor wie plebejische Untermenschen, wie Überlebende aus einer Zeit, als man die Mietwohnung noch mit Kohle heizte, die man aus dem Keller hochschleppte, als das Wort Freizeit noch unbekannt war und als ein Mann höchstens ein Mal im Monat die Unterhose wechselte. Sind Gewichtheber dumm?

Dies bei den Betroffenen in Erfahrung zu bringen, erwies sich als nicht sehr einfach. Gewichtheber scheinen nicht gern zu reden, und zwar je höher die Gewichtsklasse, umso weniger gern. Wladimir Gluschko beispielsweise, 140-Kilo-Mann, EM-Final-Teilnehmer: Der Russe und ich sind beide im zehnten Stock des «Vitosha» einquartiert. Weil der Hotellift häufig defekt ist, begegneten wir uns mehrmals täglich. Wir warteten vor der geschlossenen Lifttüre, wir stiegen zusammen die Nottreppe hinunter, wir harrten in der Kabine aus. Solche Dinge schweissen auch Wildfremde zusammen. Nicht so Gluschko und mich. Ich grüsste ihn, lächelte ihn an, verwarf die Hände, verdrehte die Augen, zuckte resigniert die Schultern ­ er reagierte auf nichts. Er schaute mich nicht einmal an. Ab Ende des zweiten Tages sagte ich auch nichts mehr. Schweigend stellten wir uns vor dem Lift auf, schweigend schloss ich mich an, wenn er sich zur Treppe begab, ein wenig schwankend, wie eine Seekuh auf Landgang. Ab und zu musterte ich ihn verstohlen. Sein Gesichtsausdruck war auch am vierten Tag noch derselbe. Ungerührt, dumpf, undurchdringlich.

Mehr Glück hatte ich mit Cholakow. Immerhin willigte der bulgarische Champion in ein Interview am Finalvortag ein. Aber seine Antworten waren minimalistisch, kraftsparend. Sie gewährten keine Chance auf Nachfragen. Sie waren kompakt wie Kieselsteine.

Wann hast du mit Gewichtheben begonnen?

Mit dreizehn.

Warst du besonders stark?

Nein. Schwach und dünn. Aber gross.

Warum Gewichtheben?

Der Trainer sagte, ich hätte die Technik.

Wirst du dieses Jahr wieder Europameister?

Hoffentlich.

Wer wird morgen der stärkste Gegner sein?

Der Lette. [Cholakow meint Viktor Schirbatihs aus Lettland, der bei der Olympiade 2004 in Athen Zweiter wurde. Vor dem drittplatzierten Cholakow.]

Was ist dessen Bestleistung?

Ich weiss es nicht. Es kümmert mich nicht. [Cholakow dreht sich zur Übersetzerin: «Hat er noch mehr Fragen?»]

Was ist das Geheimnis des guten Athleten?

Disziplin.

Warum bist du besser als andere?

Ich bin nicht besser. Ich gewinne einfach.

Warum?

Das ist meine Aufgabe. [Zur Übersetzerin: «Wie viele Fragen kommen noch?»]

Was wirst du in zehn Jahren machen?

Ich denke nur bis zur Olympiade 2008. Dort will ich den Iraner besiegen. [Der «Iraner» ist Hossein Rezazadeh, auch Iranischer Herkules genannt, Olympiaerster von Athen und Sydney.]

Was ist der Unterschied zwischen Gewichtheben und Boxen?

Keiner. Beides ist Männersport. [Zur Übersetzerin: «Wie lange dauert das noch?»]

Du wirst ins Fernsehen eingeladen, du wirbst auf Plakaten für Jogurt, jedes Kind in Bulgarien kennt dich. Wie ist das, ein Idol zu sein?

Das beschäftigt mich nicht. Ich konzentriere mich nur auf meine Hanteln. 24 Stunden am Tag.

Bist du verheiratet?

Nein.

Du bist bestimmt begehrt bei den Frauen.

Ja.

Hast du eine Freundin?

Ja. [Und zur Übersetzerin: «Kann ich jetzt gehen?»]

Bei der Verabschiedung entfaltete er eine für seine Verhältnisse überschwängliche Herzlichkeit: Er zwinkerte mir mit seinem rechten Auge kurz zu. «Falls du noch Fragen hast», sagte er, «kannst du jederzeit kommen.»

Während in einer Garderobe der Universitätssporthalle Cholakow sich auf seinen letzten Versuch vorbereitet, betritt Gluschko, mein Liftpartner, die Bühne. Er hat sich 190 Kilo auflegen lassen. Auch für ihn ist es der letzte Versuch. Er sammelt sich, scheint auf etwas zu warten, bis plötzlich ein Ruck durch seinen Körper fährt und er einen furchtbaren, heiseren Beller ausstösst. Als er sich nach der Hantel bückt, ist er ein anderer Mensch. Alles Tumbe, Schwerfällige ist von ihm abgefallen. Gluschko detoniert. Im Bruchteil einer Sekunde katapultiert er die Last nach oben und stösst mit seinem Körper nach, brüllend, gewalttätig, ein Geschoss. Kurz vor dem Ziel, bevor Athlet und Gerät zu einem Standbild erstarren, beginnt sich die Hantel nach links zu neigen. Gluschko bäumt sich nochmals auf, er brüllt noch lauter, sein Gesicht ist schrecklich verzerrt, er wütet wie ein absaufendes Krokodil, und als er das Gerät trotzdem loslassen muss, weiss jeder in der Halle, dass er alles gegeben hat. Und auf einmal wird mir sein Verhalten im Hotel klar.

Die Existenz eines Gewichthebers vollzieht sich im Auftritt. Ein Mann wie Gluschko bündelt Aggression, Leidenschaft, Hass, alle Emotionen, um sie in diesen vier Sekunden zur Explosion zu bringen. Sein ganzes Leben ist eine Vorbereitung auf diesen Moment. Den Augenblick der Wahrheit. Wer den besten Roman geschrieben oder das schönste Gebäude errichtet hat, ist Geschmackssache. Über Kilos aber kann man nicht streiten. Gewichtheben ist ehrlich. Der Triumph ist messbar.

Im Unterschied zum Boxer ist der Gewichtheber mit sich allein. Sein Gegner ist die eigene Person. Tag für Tag, Jahr für Jahr unterwirft er sich im Kraftraum denselben drei oder vier stupiden Übungen. Rücken stärken, Beine stärken. Die Monotonie setzt ihm zu, und er verflucht die Schmerzen. Dies ist der härteste Kampf: stärker zu sein als die Lust, aufhören zu wollen. Cholakow übertrieb nicht, als er sagte, er sei 24 Stunden mit seinen Hanteln beschäftigt. Der Sieg über sich selbst erfordert totale Selbstkontrolle in jedem Moment. Und von daher rührt die stumpfsinnig wirkende Ruhe Gluschkos und seiner Kollegen. Gewichtheber sind nicht dumm. Sie sind hochkonzentriert. Sie sind Tantriker der Muskelkraft und lassen sich durch nichts von ihrer Dauermeditation ablenken. Gewichtestemmen ist die hohe Schule der Geduld, des Aufschubs und des Verzichts.

Am Bühnenrand wird Cholakow präpariert. Der Physiotherapeut traktiert seinen Nacken, verabreicht ihm Ohrfeigen, schlägt auf die Oberschenkel. Unsereins würde vor Schmerz aufheulen, für Cholakow sind es aufmunternde Tätscheleien. Er prustet, schüttelt den Kopf wie ein Pferd, tritt vors Publikum und beugt sich zum dritten Mal über das 200-Kilo-Eisen. Mit einem Urschrei schleudert er das Gerät in die Höhe, taumelt, hält stand, brüllt in trotzigem Triumph. Unter tobendem Beifall verschwindet er wieder hinter der Bühne.

Der schöne Chigischew kommt

Erzrivale Schirbatihs hat ebenfalls 200 Kilo geschafft. Aber weil der bullige Lette 23 Kilo weniger Körpergewicht hat als der 161 Kilo schwere Cholakow, wird er auf der Rangliste vor diesem platziert. Der Zwischenstand kurz vor dem Abschluss: Goldmedaille für den Letten, Bronzemedaille, immerhin, für Cholakow. Nur noch ein Athlet ist im Rennen, der Russe Evgeni Chigischew. Fasziniert von der Dramatik des Duells und der drohenden Schmach des einheimischen Stars, hat kaum jemand auf den 27-Jährigen geachtet, der sich 205 Kilo auf die Hantel laden lässt. Und noch zwei Versuche frei hat.

Der Russe sieht völlig anders aus als seine Heberkonkurrenten. Diese sind in der Regel massige, trollartige Gestalten. Chigischew aber ist wohlgeformt, mit schönem, offenem Gesicht und blondem Lockenkopf, ein Cherub, wie ausgedacht von einem schwulen Modedesigner. Er lächelt, als er vor das pfeifende Publikum tritt, und er lächelt, als er die Hantel mühelos in die Höhe zaubert, mit perfekten Bewegungen, elegant wie eine Eislaufkür, und für eine kleine provozierende Ewigkeit zum griechischen Götterdenkmal gerinnt. Und er lächelt sogar noch, als er sich höflich vom Publikum verabschiedet, das noch lauter pfeift, weil er Cholakow aus den Medaillenrängen verdrängt hat.

Es ist nicht der Tag des Bulgaren. Nach der Niederlage in der Kategorie Reissen misslingt ihm auch die zweite Disziplin, das Stossen. Schirbatihs siegt, der Armenier Ashot Danielyan wird vor dem schönen Chigischew Zweiter, Cholakow Letzter.

Nach dem Wettkampf steht er auf dem Parkplatz vor der Sporthalle. Er sieht zerknittert aus, Freunde klopfen ihm auf die Schultern. Dann steigt er in seinen Audi und fährt allein davon. Er wird wieder kommen. Gewichtheber können warten.

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