«Das Magazin»

19.02.2000

Dr. Faust

Die Brüder Wladimir und Vitali Klitschko sind aufgebrochen, die besten Schwergewichtsboxer der Welt zu verprügeln. Die Gegner haben Angst. Die Schlagkraft der zwei Ukrainer ist gewaltig.

Von Eugen Sorg und Peter Dammann/Lookat (Bilder)

Eine beinahe sakrale Stille senkt sich über das Publikum, als die beiden Boxer sich einander zudrehen und, den Kopf leicht nach vorn geneigt, für einen Moment zu erstarren scheinen. Matt glänzende Kriegerstatuen im Ring, ein Bild von klassischer Schönheit, dessen erhabene Friedfertigkeit nur gestört wird durch den Ausdruck in den Augen der zwei Figuren. Ein Hund wäre winselnd unter den Tisch gekrochen und ein Kind schreiend zur Mutter gerannt, hätte sie einer der furchtbaren Blicke getroffen, mit denen sich die Kämpfer zu durchbohren suchen. Ein Zeichen des Ringrichters löst den Bann. Die Boxer schütteln ihre Glieder, traben in die Ringecken, und die Zuschauer fangen wie auf Kommando an, zu schwatzen und zu rufen, als wären sie soeben aus einer Hypnose aufgewacht.

26 Profikämpfe hat der Mann in der roten Ecke bisher ausgetragen, Vitali Klitschko aus der Ukraine, 28 Jahre alt, amtierender WBO-Weltmeister im Schwergewicht. 26-mal hat er gewonnen, immer mit K. o., und meistens hat er den Gegner vor Ablauf der zweiten Runde erledigt. Eisenfaust wird Vitali in der Fachpresse genannt oder Dr. Faust oder Faust 1. Im Unterschied zu Faust 2, seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Wladimir, Olympiasieger und Europameister der Schwergewichtler, der unten am Ring sitzt. Dieser Abend jedoch, der 11. Dezember 1999 in der Alsterdorfer Sporthalle in Hamburg, gilt als Vitalis Reifeprüfung. Der Herausforderer Obed Sullivan ist der erste wirklich gefährliche Gegner. Zwar ist er zehn Zentimeter kleiner als der 2,02 Meter grosse Ukrainer mit dem Körper eines Basketballspielers, aber der ehemalige schwarze Gettojunge und Ex-Marine aus Phoenix hat mehr Erfahrung, gilt als brachialer Puncher und ist bekannt für seine explosive Schnelligkeit. Zudem sieht er nicht so aus, als könnten ihm menschliche Fäuste etwas anhaben. Sein immenser Oberkörper geht über in einen kompakten Stiernacken, der alle Schläge wie ein Punchingball abfängt, und dort, wo die meisten von uns eine Stirn haben, wölbt sich bei Sullivan ein harter Wulst, eine Art natürliche Stossstange, unter der die Augen lauern und hinter der gleich der Haaransatz beginnt.

Ein Kampf fängt lange Zeit vor dem Kampf an. Ein Boxer, der nicht überheblich ist, befasst sich intensiv mit seinem Gegner. Vitali hat sich die Aufnahmen von Sullivans Kämpfen angeschaut, immer wieder abgespielt, er hat dessen Bewegungen studiert, dessen Mimik, dessen Temperament, dessen Intelligenz. Er wollte den Körper des anderen lesen, dessen psychophysisches System verstehen, die Reaktionen wittern, die Dynamik vorausahnen können. Er wollte sich den anderen einverleiben, um ihn zu beherrschen. Als der Gong zur ersten Runde ertönt und Sullivan wie ein wütender Stier auf ihn losgeht, hat er das Gefühl, einen alten Bekannten zu empfangen.

Hinter dem Hauptbahnhof von Kiew, mitten in der Hauptstadt der Ukraine, erstreckt sich ein grösseres militärisches Areal. Truppenunterkünfte, Materialhäuser, Übungsplätze machen einen heruntergekommenen Eindruck, ebenso die Gerätschaften und Fahrzeuge, die vereinzelt herumstehen und vor sich hinrosten. Im ersten Stock einer der Kasernen befindet sich eine Art Turnhalle. Löchrige Bodendielen, zu Gewichten umfunktionierte Lastwagenachsen, drei zerschlissene Sandsäcke, der Geruch von Schweiss und Flüchen, und in der Raummitte ein Boxring. Es ist der Ort, wo sich Vitali zum Mann gehäutet hatte. Er war 19, ein schüchterner, hoch aufgeschossener Junge, als ihn sein Vater dorthin brachte und Wladimir Zolotarow vorstellte. «Mein Sohn will Boxer werden. Ich habe ihn mit harter Hand geführt, und du wirst jetzt mein Ersatz. Schau, dass etwas Rechtes aus ihm wird.» Vater Klitschko war General und Zolotarow ein Offizierskollege, Boxtrainer und ehemaliger Weltergewichtler. Die beiden Männer verband die Liebe zum Faustkampf.

Zolotarow begann sofort mit dem Training. «So, wie ein Offizier seine Soldaten drillt», sagt der freundliche Fünfzigjährige, «nur härter.» Morgens um acht antreten, Liegestützen, Seilspringen, Schattenboxen, auf den Sandsack hauen, einzelne Bewegungsabläufe eintrichtern, Schmerztraining, Gewichte stemmen, dann etwas essen, Theorie büffeln, später wieder Konditionsübungen. Und am Abend packte der Trainer seinen Zögling in den Lada, fuhr los und hielt auf irgendeiner Autobahnrampe in der Kiewer Agglomeration wieder an. Vitali stieg aus und rannte den ganzen Weg zurück. Anfänglich zehn Kilometer, bald zwanzig. Jeden Tag, bei jedem Wetter. Als Sohn eines Generals der Roten Armee war Vitali in Kasernen aufgewachsen. In Kirgisistan, Kasachstan, Litauen, Russland. Wo immer sein Vater gerade hinbeordert wurde. Pflichterfüllung und Schinderei waren für ihn so selbstverständlich wie Atmen und die 1.-Mai-Parade.

Vitali sei gehorsam gewesen und willig, sagt Zolotarow, doch es sei schwierig gewesen, ihm etwas beizubringen. Wenn er es aber kapiert habe, dann habe es gesessen. Wie ein Nagel in einem Klotz. Vitali habe keine besonderen Talente gehabt. Ausser dem einen. Dem Talent, unglaublich hart zu arbeiten. Und dem Willen, zu siegen. Der kleine Bruder, Wladimir, sei anders, der lerne schnell, verliere es aber auch wieder leicht. Schon nach einem Monat habe ihn Vitali zum Training mitgenommen. Er, Zolotarow, habe den Vierzehnjährigen gefragt, was er hier wolle. «Ich will Boxer werden», habe er geantwortet. «Warum?» «Ich will wie mein Bruder werden.» «Weisst du, wie streng er arbeitet?» «Ja.» «Willst du das auch?» «Ja.» Von da an habe er mittrainiert, wann immer es ging. Die Brüder seien sowieso unzertrennlich.

Zwei Wochen, nachdem Vitali in die schäbige Turnhalle eingerückt war, passierte Gewaltiges in der Welt. In der Ukraine demonstrierten Hunderttausende, das Recht auf einen eigenen Staat wurde gefordert, Bergarbeiter und Studenten streikten, die Gefahr eines Militärputsches lag in der Luft. Das grösste Imperium des 20. Jahrhunderts, die Sowjetunion, war am Auseinanderbrechen. Vitali kümmerte sich nicht darum. Seine Zeit war ausgefüllt mit martialischen Exerzitien. Er schwitzte und quälte sich durch das Mantra des Leidens, und immer, wenn sein Körper zu streiken drohte, bestrafte er ihn mit einer zusätzlichen Anstrengung. Wie jeder sowjetische Bub hatte auch Vitali einst davon geträumt, Kosmonaut zu werden. Längst hatte er aber einen neuen Traum. Er wollte der beste Boxer der Welt werden. Und natürlich wollte er dasselbe für Wowa, wie er den kleinen Bruder zärtlich nannte.

Nach einem Jahr wurde Vitali ukrainischer Landesmeister. Und noch fünf weitere Male in den folgenden Jahren. Unterdessen war die Ukraine selbstständig geworden. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte, abgesehen von einem kurzen Intermezzo nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Nach 350 Jahren Russifizierung sprach die Hälfte der Bevölkerung nur noch Russisch. Stalin hatte zehn Millionen Bauern, ein Fünftel der Bevölkerung, systematisch verhungern und fast die gesamte Intelligenz totschlagen lassen. Die junge Nation hatte Bedarf nach Helden, nach Menschen, zu denen sie emporschauen konnte, die das Beste eines Landes verkörperten, das sich kaum mehr selber kannte. Bedarf nach Menschen wie Vitali. Er verkörperte Neuanfang, Jugend, Stärke, Wille, Erfolg. Er wurde populär. Doch der beginnende Ruhm hatte auch seine Schattenseiten. Niemand getraute sich mehr, gegen ihn zu kämpfen. Er gewann sämtliche Fights mit K. o. Und sie dauerten alle nur wenige Minuten.

Der Trainer kümmerte sich um Vitali wie ein Vater. Er lehrte ihn Auto fahren, tröstete ihn bei Liebeskummer, schimpfte, wenn er Flausen zeigte, trieb ihn an zu noch mehr Einsatz, und wenn er ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf weckte, war Vitali innert einer Sekunde bereit zum Kampf. Und er sagte zu ihm: «Vitalik, mein Kleiner, Sinotschik, mein Söhnchen, hör zu: Boxen ist ein wunderbarer Sport. Ich habe dich gelehrt, dass es mehr ist, als wenn sich zwei um ein Stück Fleisch prügeln. Boxen ist Eleganz, ist Leichtigkeit, ist Schönheit. Boxen ist wie Ferien. Darum, Vitalitschek, musst du deine Gegner nicht immer gleich k. o. schlagen. Du musst spielen und zeigen, wie wundervoll Boxen sein kann. Die Leute wollen glücklich sein.» Vitali, der sonst immer gehorchte, hielt sich in diesem Punkt nicht an die Weisung des Coachs.

Für Trainingsfights konnte eine Lösung gefunden werden. Zolotarow kommandierte in seiner Eigenschaft als Offizier Soldaten zum Sparring mit Klitschko ab, im Ein-Minuten-Takt, vornehmlich aus Basketballeinheiten, wo sich die grösst gewachsenen Burschen befanden. Bei Meisterschaftskämpfen wurde es schwieriger. «Du brauchst keine Angst zu haben», versuchte der Trainer den Gegner zu beruhigen, «Vitali wird dir nicht weh tun, wir tun nur so für die Leute.»

Mit zwölf Jahren hatte Vitali zum ersten Mal in einem Klub für Militärangehörige geboxt. Immer, wenn er mit einem geschwollenen Auge nach Hause kam, hatte seine Mutter gesagt: «Mein Gott, Vitali, willst du das wirklich machen?» «Ja, Mutti», hatte er geantwortet, «denn ich bin ein mutiger Mann.» Als auch noch Wladimir mit Boxen anfing, mussten die Buben ihr wenigstens versprechen, dass sie nie gegeneinander antreten werden. Doch als einziger valabler Gegner von Vitali in der ganzen Ukraine verblieb bald nur noch Wowa. Einige Male missachteten sie Mutters Verdikt und kreuzten trainingshalber die Fäuste. «Danach kamen sie zu mir», sagt Trainer Zolotarow, «und weinten sich aus. Jedes Mal hatten sie Pech gehabt. Ein gebrochener Knochen, eine verstauchte Hand, eine Schramme im Gesicht. Sie liessen es wieder sein.»

Um neue Gegner zu finden, reisten der Trainer und sein Schützling nach Polen, nach Bulgarien, nach Aserbeidschan. 1000 Kilometer Autofahrt für drei Minuten Faustgefecht. Dies erweiterte den Erfahrungshorizont, brachte aber kaum Geld. Die Klitschkos hatten einen gesunden Appetit und benötigten anständige Kleidung. Um 1993 herum hätte Vitali den Bettel beinahe hingeschmissen. Jeder Bodyguard eines dieser neuen Geschäftsleute, die seit dem Ende des Kommunismus in Kiew auftauchten und mit teuren Mercedes oder polierten Geländewagen durch die Gegend kurvten, verdiente zehnmal mehr als er. Ohne sich anzustrengen. Zolotarow redete Vitali ins Gewissen und versprach ihm, wenn er jetzt durchhalte, werde er eines Tages gegen Tyson kämpfen. Oder Holyfield oder Lewis. Soldaten- und Sportlerehrenwort.

Vitali überwand die Krise. Neben dem Boxen studierte er Sportwissenschaften. Zusätzlich trainierte er Wrestling, Karate und Kickboxing. Letzteres nur wegen des Geldes. Die neuen Verhältnisse eröffneten mehr Möglichkeiten, verlangten aber auch, dass man flexibel blieb. «Er war Wachs in meinen Händen», sagt Zolotarow, «er konnte alles. Es war an einer Kickboxing-Weltmeisterschaft, und ich sagte ihm, geh in die erste Runde, aber warte ab und schau nur zu, was der andere macht. Nach der ersten Runde hatte sich die Haut von seinem grossen Zeh geschält, und er war praktisch kampfunfähig. Ich verband ihn und sagte, er müsse mit zwei Schlägen den Kampf beenden. Er ging zurück, und nach 20 Sekunden krümmte sich der Gegner auf dem Boden. Vitali wurde viermal Kickboxweltmeister. Wenn er aggressiv sein will, kann er es, wenn er verteidigen will, verteidigt er. Er ist perfekt.»

In Atlanta 1996 holte Wladimir, mittlerweile zwanzigjährig, olympisches Gold im Schwergewichtsboxen. Im gleichen Jahr zogen die Klitschkos in den Westen, nach Hamburg, wo sie vom Boxstall Universum unter Vertrag genommen wurden. Bald machte die Geschichte von den zwei Brüdern die Runde, die, aufgebrochen aus den Tiefebenen des wilden Ostens, mit unwiderstehlicher Gewalt einen abendländischen Profischwerathleten nach dem anderen in null Komma nichts umhauten. Die aber gleichzeitig bescheiden, hochanständig und mit putzigem Russenakzent in Talkshows plauderten; zum Ergötzen des Gottschalk-TV-Publikums seelenvolle russische Liedchen auf der Klampfe darboten; von ihrer Doktorarbeit in Sportwissenschaften erzählten und treuherzig verrieten, dass sie Mutti nicht enttäuschen möchten. Die Mischung aus archaischer Natur und kultiviertem Geist, aus Dschingis Khan und Dschingis Aitmatow kam an. Nicht nur bei den Liebhabern des Boxsports, auch bei den schicken Werbemenschen und den Akademikern des Feuilletons. Die Klitschkos wurden Kult.

In der Heimat verfolgten die Leute den Eroberungszug der Klitschkos mit Stolz und religiöser Verehrung. Die Videos mit den siegreichen Fights wurden an jedem Strassenkiosk verkauft, und die Boxklubs im ganzen Land wurden überrannt von Buben und Jugendlichen mit hungrigen Augen. Die Klitschkos beschlossen, ihrem Volk ein Geschenk darzubringen. Auf den 5. Dezember 1998 luden sie im Kiewer Sportstadion zur grossen Boxgala ein. Erster Kampf: Wladimir gegen Ross Puritty, zweiter Kampf: Vitali gegen Francesco Spinelli. Im Publikum sassen die Familie, die Freunde, der Staatspräsident, die Minis-ter, die Mafia, alle, die Rang und Namen hatten. Auf dem Unabhängigkeitsplatz am Kreschtschatik, den Kiewer Champs-Elysées, war eine Grossleinwand aufgebaut worden, und 175 000 Leute versammelten sich in der eisigen Winterkälte. Die Nation war in Feststimmung vereint.

Von der ersten Sekunde an atta-ckierte Wladimir. Das Publikum trieb ihn an, schrie, war ausser sich. Puritty, ein Koloss, duckte sich weg, verkroch sich hinter den Fäusten, rettete sich in Umklammerungen. Ununterbrochen hämmerte Wladimir auf den Gegner ein, er schlug beim Vorwärtsgehen, er schlug, wenn er einmal zurückwich, das Publikum tobte und wunderte sich höchstens, das Puritty auch nach vier Runden noch keinerlei Anzeichen von Schwäche zeigte. In der fünften Runde stockte plötzlich allen der Atem. Puritty erwachte. Innerhalb weniger Sekunden prasselte eine Serie von schrecklichen Brechern auf Wladimir nieder, vorgetragen aus heiterem Himmel und mit unbändiger Kraft. Wladimir wirkte hilflos, kam ins Taumeln, und wurde erst durch den Pausengong erlöst.

In der sechsten Runde stürmte Wladimir, angefeuert vom Publikum, erneut wie ein Verrückter vorwärts, und wieder beschränkte sich Puritty darauf, Kopf und Solarplexus zu schützen. Zolotarow, in der zweiten Reihe sitzend, Ex-Trainer der Klitschkows seit deren Westabgang, sah, was sich da vorne im Ring abspielte – er wähnte sich in einem Alptraum. Wowa war verzweifelt. Er hatte seinen Leuten zeigen wollen, was für ein grossartiger Boxer er geworden war, und nun hatte er sich total verrannt. Warum hatte ihm niemand gesagt, er solle seine Taktik ändern? Puritty war kein dumpfer Schläger, sondern ein intelligenter, ausgefuchster Fighter. Er spürte instinktiv, dass der Ukrainer mit der kopflosen Begeisterung eines Kindes kämpfte, und er wartete geduldig auf seinen Moment. Er wartete mit der Witterung eines Raubtieres, bis der andere sich müde gelaufen hatte und als Beute ihm wie von selbst zufallen würde.

Puritty explodierte in der zehnten Runde. Frisch, urgewaltig, schnellte er aus der Defensive heraus, durchbrach die mürbe gegnerische Deckung und feuerte eine Batterie schwerer Geraden in Wladimirs Gesicht, die ein Haus zum Einstürzen gebracht hätten. Wowa blickte einen Moment lang erstaunt, dann leer, seine Augen wurden trübe, er knickte ein und kippte rückwärts in die Seile, in die Nacht. Im Stadion herrschte vollkommene Stille. Der Ringrichter begann ihn auszuzählen, und irgendwo im Innern von Wladimirs Gehirn regte sich ein Wille, der ihm befahl, aufzustehen und weiterzukämpfen. Es war kein schöner Anblick. Der Zweiundzwanzigjährige torkelte wie ein Betrunkener, im Gesicht den Ausdruck blödsinniger Verständnislosigkeit. Schon bevor der Ringrichter den Kampf für beendet erklärte, hatte Puritty die Fäuste zum Triumph erhoben.

Es war Pech für Francesco Spinelli, dass er als Nächster hinstehen musste. Vitali hatte wie immer, wenn sein Bruder kämpfte, hinter der Ringecke gesessen, und er bebte noch immer vor Wut, als er selber in den Ring trat. Der Italiener sah aus, als wäre er von einem Schnellzug gerammt worden, als er nach knapp 100 Sekunden auf den Brettern lag.

Den zweiten Kampf hatte aber kaum jemand noch wirklich wahrgenommen. Von Lemberg über Kiew bis Donezk standen die Leute unter Schock. Man hatte sich auf eine grosse Feier gefreut und stattdessen einer Katastrophe beigewohnt. Abertausende brachen in Weinen aus, nachdem die erste Betäubung vorüber war. Der langen nationalen Lis-te unheilvoller Namen war ein weiterer angefügt worden: Ross Puritty. Nicht vergleichbar mit Zar Alexander II. oder Stalin oder Tschernobyl, aber immer noch schlimm genug. Das medizinische Personal in den Krankenhäusern hatte in dieser Nacht alle Hände voll zu tun. Die Ambulanzen lieferten ununterbrochen Patienten mit Kreislauf- und Herzproblemen an den Notfallstationen ab.

Jeder Boxer ist die Summe seiner Kämpfe, seiner Siege, seiner Niederlagen. Bei einem Klitschko kommen noch die Kämpfe des Bruders hinzu. Vitali hatte bei der Vorbereitung auf den Hamburger Weltmeisterschaftskampf gegen Sullivan sofort festgestellt, dass dieser nicht nur äusserlich Ross Puritty verblüffend ähnlich sieht, sondern dass er auch ähnlich fightet. Trotzdem wird Vitali in den ersten Sekunden von einem linken Jab, einer linken Geraden des Amerikaners überrascht. Er schüttelt leicht den Kopf, als ob er eine Fliege verscheuchen würde, und macht sich an die Arbeit. Ruhig, konzentriert, mit Umsicht. «Bei Klitschko merkt man», wird einer der Punktrichter nachher sagen, «dass er immer über seine Ak-tionen nachdenkt.»

Weil Sullivan die geringere Reichweite hat, muss er angreifen, muss er gleichsam in die Todeszone der gegnerischen Fäuste eindringen, will er einen Treffer landen. Vitali wehrt nicht nur die Mehrzahl der Vorstösse ab, sondern nützt die Chance, um in die für einen Augenblick geöffnete Deckung hineinzuschlagen. Gleichzeitig organisiert er seine eigenen Attacken, die er meistens mit trockenen, präzisen und harten Punches zum Abschluss bringt. In der zweiten Runde beginnt Sullivans rechtes Auge bedenklich anzuschwellen. In der fünften Runde fliegt Sullivans Mundschutz nach einem schrecklichen Haken in hohem Bogen meterweit durch die Luft und landet genau in der Jackettasche von Punktrichter Larry Hazzard jr. Ab der sechsten Runde ist Sullivans Auge hinter einem violett schimmernden Klumpen verschwunden, und die linke Gesichtshälfte ist aufgedunsen wie eine Semmel, die man eine Nacht lang in Wasser eingelegt hat. Beim Gongschlag zur elften Runde bleibt der Mann aus Phoenix in der Ecke sitzen. Halb blind, verprügelt und gedemütigt. Vitali hat ihn in jedem Moment kontrolliert.

Sofort wählt Wladimir auf dem Handy die Nummer von Mutter Nadjeschda in Kiew. Sie hat sich noch grössere Sorgen gemacht als sonst. Es war Vitalis bisher längster Kampf. «Sicher, Mutti», ruft er in den Hörer, «Vitali ist gesund und sein Gegner ebenso.» Am nächsten Tag publizieren die Fachblätter die Kampfstatistik. 322-mal hat Vitali seine Fäuste abgefeuert, 156-mal trafen sie Sullivans Kopf oder Körper. Sullivan haute 283-mal zu, landete dagegen nur elf Treffer. Ein gezielter Schlag eines Schwergewichtlers von der Klas-se Tysons oder Klitschkos trifft den Kontrahenten mit dem Gewicht von zehn Kartoffelsäcken oder 500 Kilos.

Momentaner Weltmeister aller Klassen der drei bedeutendsten Boxorganisationen ist Lennox Lewis. Er hat den alternden Evander Holyfield vom Thron geprügelt, der seinerzeit Mike Tyson abgelöst hatte. In den deutschen Boulevardgazetten wird bereits gespöttelt, welcher der beiden Klitschkos wohl «den Lewis verhauen darf». Vitali selber soll verlauten haben lassen: «Lewis, Holyfield oder Tyson: Ich bin bereit.» Vor vierzig Jahren war der Schwede Ingemar Johansson, genannt Thors Hammer, für kurze Zeit Worldchamp der Königsklasse. Er war der letzte Weisse, der die Krone trug. Er sage es nicht gerne, gestand der Promoter Sullivans nach dem Hamburger Fight einem Sportreporter, aber die Klitschkos würden in den kommenden Jahren die Schwergewichtsklasse beherrschen. Das Schleifen der schwarzen US-Bas-tion soll in diesem Sommer beginnen. Mit dem Kampf Vitali Klitschko gegen Mike Tyson.

Die Brüder pendeln zwischen Hamburg und Kiew. Hamburg ist Arbeit, Kiew ist Heimat. In Hamburg werden sie von einem Tross von Mana-gern, Pressesprechern und Wichtigtuern abgeschirmt. In Kiew besuchen sie Familie und Freunde und kommen ihren Pflichten als Nationalhelden nach. Ob ich sie in Kiew besuchen dürfe, fragte ich sie deshalb in einem unbeaufsichtigten Moment. Und weil sie nette Kerle sind, sagten sie, gerne, und gaben mir eine Telefonnummer. Und als ich eine Woche später von Kiew aus anrief, wir seien jetzt da, konnten sie sich nicht mehr erinnern, irgendjemandem eine Telefonnummer gegeben zu haben. Aber weil sie nette Kerle sind, sagten sie, man wolle schauen, was sich machen liesse. Und standen plötzlich in der Wohnung, Faust 1 und Faust 2, mit breitem Grinsen, sechs Handys und sanftem Händedruck. Guten Tag, grüsste man in die Höhe, guten Tag, tönte es freundlich zurück.

«Dr. Vitali Klitschko, ich gratuliere Ihnen zum Weltmeistertitel.»

«Danke, vielen Dank.»

«Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Sullivan schlagen werden?»

«Wenn ich dem Gegner in die Augen schaue, weiss ich, wie der Kampf aus-gehen wird.»

«Ich habe gelesen, dass Sie Ihren Gegner vorher so genau studieren, dass Sie wissen, dass, wenn es zum Beispiel um seine Nase zuckt, sogleich seine linke Faust folgen wird.»

«Ah, ich sehe, Sie sind kein Profi im Boxen. Jeder Boxer studiert die Schwächen und Stärken seines Gegners.»

«Viele Leute sagen, Boxen sei primitiv. Was ist der Unterschied zwischen einer Wirtshausprügelei und einem Boxkampf?»

«Boxen ist Kunst, sage ich. Und je besser der Boxer ist, desto besser wird der Kampf. Es ist eine sehr einfache Sportart, alle Menschen gucken zu, und alle Menschen verstehen, was Boxen ist. Boxen ist eine der populärsten Sportarten. Das ist eine Tatsache.»

«Sind Boxer andere Menschen?»

«Jeder Mensch ist etwas anderes. Kein Mensch ist gleich.»

Eines der drei Handys von Vitali klingelt; Wladimir übernimmt das Gespräch.

«Das ist eine ganz einfache Frage, und da gibt es eine ganz einfache Antwort. Ein Künstler ist ein Künstler, und ein Busfahrer ist ein Busfahrer. Das kann man nicht vergleichen. Jeder Beruf stempelt ein wenig den Charakter eines Menschen. Sie sind ein Schreiber, das sieht man sofort. Ich weiss nicht warum, aber es ist so.» Er lacht.

«Ein normaler Angestellter geht ins Büro, erledigt seine Arbeit und geht wieder nach Hause. Ohne Leidenschaft, ohne grosse Emotionen. Bei einem Boxkampf hingegen hat man den Eindruck eines intimen, dramatischen Geschehens, als ob es um Leben oder Tod ginge.»

«Ich habe keine Ahnung. Davon weiss ich nichts.»

«Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie im Ring stehen?»

«Was geht mir durch den Kopf…»

«Hassen Sie den Gegner?»

«Ich möchte den Gegner nicht umbringen. Ich möchte ihn besiegen. Ich nüt-ze alle seine Schwächen aus, aber nach dem Kampf unterhalten wir uns freundlich: Also dieser Leberhaken, das war brutal, und dies und das. Aber wir haben eine gesunde Beziehung zueinander.»

«Joe Frazier hat einmal gesagt, er wolle seinen Gegner nicht k. o. schlagen, sondern ihn treffen, zur Seite gehen und zusehen, wie er leidet, er wolle sein Herz. Und Tyson hat gesagt…»

«Es gibt verschiedene Menschen, natürlich. Wenn einer das Ohr abbeisst, sieht das komisch aus, etwas stimmt nicht mit ihm. Er schlägt Menschen auf der Strasse oder vergewaltigt Frauen, wie kann er das machen? Oder einer verliert, und nachher kommt er zu mir und sagt, das nächste Mal mache ich dich fertig. Der hat mich ganz falsch verstanden. Natürlich hat man ein anderes Gefühl im Ring, als wenn man privat mit einer Frau zusammen ist. Aber Boxen ist ein Sport, da gibt es Sieger und Verlierer. Das ist eine Waage, wie das Leben. Für den einen Menschen geht es gut, für den anderen gleichzeitig schlecht.»

«Wie war das bei Ihrer Niederla…?»

«Meine Niederlage war der Anfang meines Lebens und meiner Karriere.»

«Warum?»

«Sie hat mir viel beigebracht. Sie war der Anfang von etwas sehr Grossem. Wie gross, sage ich nicht. Sonst sagen Sie, ich hätte eine grosse Klappe. Man wird es sehen. Sie hat mich verändert.»

«Würden Sie weiterboxen, wenn Sie jemanden totschlagen würden?»

Vitali hat unterdessen fertig telefoniert und übernimmt wieder das Antworten.

«Das ist eine gute Frage. Zum Beispiel für einen Formel-1-Fahrer.»

«Wenn bei einem Formel-1-Rennen jemand stirbt, dann ist es meistens der Fahrer selbst. Aber wenn Sie jemanden töten, was ist dann? Allein in den USA sind seit 1945 rund 400 Boxer an den direkten Folgen von Treffern gestorben.»

«In jeder Sportart gibt es ein Risiko. Ich kämpfe ohne solche Gedanken. Ich möchte nicht daran denken. Manchmal, nach einem schweren K. o., habe ich mit dem Gegner Mitleid. Aber das ist unser Sport. Einer muss als Sieger hinausgehen.»

«Was sagt die Mutter?»

«Unsere Mutti hat riesige Angst um uns. Aber Boxen ist ein mutiger Sport.»

«Was ist der Unterschied zu den Gladiatorenkämpfen bei den Römern?»

«Das ist ein grosser Unterschied. Sie hatten keine Handschuhe, keinen Mundschutz und keinen Intimschutz.»

«Hatten Sie Angst um Wladimir, als er gegen Puritty kämpfte?»

«Selbstverständlich. Immer, wenn er kämpft, bin ich nervös. Wenn ich selber kämpfe, bin ich ruhig.»

«Sie haben noch nie richtig Treffer eingesteckt.»

«Gott sei Dank. Das ist unser Motto: Der Boxer muss selber schlagen und keine Schläge kriegen.»

«Sullivan traf Sie elfmal.»

«Neunmal.»

«Merkt man dies noch lange? Schmerzt es?»

«Das waren keine richtigen Schläge. Eine Stunde später sah ich wieder ganz frisch aus. So muss das sein.»

«So wird das aber nicht immer sein. Die Gegner werden besser.»

«So muss das sein auch bei besseren Gegnern.»

«Das wäre ideal. Für Sie.»

«So muss das sein. Denn es ist kein Geheimnis. Schläge auf den Kopf, das ist ungesund.»

Die Brüder entschuldigen sich, sie müssen wieder los, irgendeine Auszeichnung der Kiewer Polizeiakademie soll ihnen überreicht werden.

Die Ehrung findet im Freien vor der Kommandantur statt. Es ist Winter und windig. Passanten bleiben stehen, Autos halten an, innert weniger Minuten bildet sich ein Volksauflauf. Scheu nähern sich die Leute Vitali und Wowa, ihren Heiligen, aufgewühlt, glücklich, die Kälte vergessend und den Hundedreck. «Bosche moi, mein Gott, Maruschka», sagt eine junge Frau unter einer riesigen Pelzmütze zu ihrer Freundin, «schau doch mal, wie schön sie sind. Und wie stark.» Und sie lächelt noch selig, als die Götter in ihren dunkel glänzenden Geländewagen längst im Verkehr entschwunden sind.

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