Basler Zeitung

22.04.2015

Das Sterben auf dem Mittelmeer könnte beendet werden.

«Europa wird schwarz»

Von Eugen Sorg

Im August 2010 schlug der damalige libysche ­Diktator Gaddhafi bei einem Staatsbesuch in Rom der italienischen Regierung einen erpresserischen Deal vor. «Italien muss seine europäischen ­Alliierten überzeugen», sagte Gaddhafi, «den ­libyschen Vorschlag zu akzeptieren – fünf ­Milliarden Euro jährlich für Libyen, damit es die illegale ­Einwanderung stoppt.» Denn: «Europa läuft Gefahr, durch die illegale Einwanderung schwarz zu werden, sich in Afrika zu verwandeln. Wir brauchen die Unterstützung der EU, um diese Armee aufzuhalten, die über Libyen nach Europa gelangen will.»

«Wie werden», fuhr der Beduinendespot ­maliziös fort, «die weissen, christlichen Europäer auf diese Massen von hungrigen, ungebildeten Afrikanern reagieren?» Um mit einer weiteren Frage unheilvoll orakelnd zu antworten: «Wissen ­wir, ob Europa ein fortgeschrittener, ­vereinter Kontinent bleiben oder ob es zerstört werden wird, wie es damals durch die Barbaren­invasionen geschah?» Im Übrigen riet er den ­Europäern noch, zum Islam überzutreten.

Europa hatte den Libyer bereits mit zwei­stelligen Millionenbeträgen alimentiert, um den ­Menschenschmuggel über das Mittelmeer zu unterbinden. Nicht ohne Erfolg. Doch die Fünf-Milliarden-Forderung war eine Unverschämtheit, und Italien und Europa gingen nicht nur nicht darauf ein, sondern beteiligten sich ein Jahr ­später gar an einem Nato-Waffengang, der ­Gaddhafi und sein Regime beseitigte. Der bedrängte Diktator hatte noch gewarnt, sein Sturz würde das Mittelmeer in ein «Meer des Chaos» verwandeln. Die Verantwortlichen des westlichen Militärbündnisses aber, die smarten Politiker ­Sarkozy, Obama, Cameron, verwendeten keine Gedanken darauf, welche Ordnung auf Gaddhafi folgen würde. Mit dem katastrophalen Resultat, dass ein weiterer gescheiterter Staat in der ­arabo-islamischen Kernregion entstand, eine ­weitere zivilisatorische Wildniszone mit sich bekämpfenden Banditen, Clankriegern und ­Blutmuslimen. Vielleicht denkt sich heute ­mancher der Politiker insgeheim, man wäre damals doch besser auf das Angebot ­Gaddhafis ­eingegangen.

Von der Gesetzlosigkeit profitierten sofort ­wieder die Schlepper, skrupellose Kriminelle, die mit den Auswanderungswilligen und Flüchtlingen ein Millionengeschäft machen. Immer wieder säuft eines der Boote ab, vergangene Woche ­beinahe im Tagestakt. Es sind in der Regel alte Kähne und Gummiboote, heillos überfüllte ­Seelenverkäufer. Wo Platz für 80 Passagiere wäre, werden über 300 reingepfercht – dies ergibt ­Einnahmen von einer halben Million Euro für eine einzige Fahrt. Ob das Ziel erreicht wird, kümmert die gewissenlosen Unternehmer nicht. Die ­Passagiere zahlen bar im Voraus.

Als im vorletzten Oktober vor der Insel ­Lampedusa wieder einmal ein Kahn kenterte und 400 Migranten hauptsächlich aus Somalia und Eritrea ertranken, war der Aufschrei in Europa gross. Die Medien geisselten die «Abschottungspolitik», die «Herzlosigkeit», die «Untätigkeit» der Politik angesichts der Tragödien vor den Ufern Europas, und auch die Kirche mobilisierte den ­tiefen Fundus an Schuldgefühlen in den empfindsamen europäischen Seelen. Auch wenn man nicht jeden aufnehmen könne, mahnte ein ­deutscher Erzbischof, «dürfen wir niemanden an den Grenzen zu Tode kommen lassen».

Unter dem Beschämungsdruck der ­moralischen Öffentlichkeit lancierte Italien die Operation «Mare Nostrum». Die italienische Marine kreuzte vor der Küste Libyens, brachte überladene Kähne auf, nahm Tausende von Flüchtlingen und Migranten an Bord und fischte weitere Tausende von Schiffbrüchigen aus dem Wasser. Trotzdem ertranken im Jahr 2014 gegen 4000 Menschen, mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die Zahl der Reisewilligen hatte sich nicht zuletzt als Folge der durch die Rettungs­aktionen geweckten Hoffnungen erhöht, und die Schlepper konnten die Kadenz ihrer Transporte und ihren Umsatz steigern. Wie zynisch Letztere die humanitäre Operation ausnützten, zeigte sich daran, dass einige der Schlepperkapitäne nur gerade so viel Benzin tankten, dass die Fahrt auf halber Strecke endete. Dann alarmierten sie die italienische ­Küstenwache und vertrauten auf ein altes Gebot der christlichen Seefahrt, dass ein in Seenot ­geratenes Boot nicht im Stich gelassen werden soll.

Die Operation «Mare Nostrum» hatte redliche Absichten und erreichte wie so häufig andere gut meinende, aber naive Unternehmen das Gegenteil des Erwünschten. Nach einem Jahr stellte Italien sie wieder ein. Das Sterben auf dem Mittelmeer könnte beendet werden. Es gäbe dazu genau zwei Strategien. Aber um diese gegeneinander abzu­wägen, bräuchte es zuerst einen nüchternen Kopf, eine unsentimentale Haltung und die Stärke, die schlimmen Bilder noch eine Weile auszuhalten.

Die erste Strategie wäre, dass die euro­­­päischen Staaten ihre Einwanderungsgesetze anwenden, alle illegalen Migranten konsequent abfangen und in ihre Ursprungsländer zurück­führen würden. Damit wäre natürlich nichts gegen die afrikanische Armut getan, dafür gäbe es keine jämmerlich ertrunkenen Menschen mehr, den Schleppern wäre die Fracht ausgegangen. Australien unter dem konservativen Regierungschef Abbott hat gezeigt, wie es geht. Seit 2014 erreichte kein einziges Schiff mit illegalen ­Einwanderern mehr den Fünften Kontinent. ­ Und auch am Horn von Afrika gelang es einer ­multinationalen Flotte, die Plage der somalischen Piraterie zu beenden.

Die zweite Strategie bestünde darin, Europas Grenzen abzuschaffen und in einer koordinierten Aktion zu Wasser und zu Land den sicheren ­Transfer der Einwanderer zu garantieren. Eine Million soll bereits jetzt an der libyschen Küste auf eine Überfahrt warten, so gefährlich diese auch ist. Bei einer Grenzöffnung würden sich ­Abermillionen umgehend auf den Weg machen, und der irre Gaddhafi entpuppte sich im ­Nachhinein als Prophet: «Europa wird schwarz.»

Man kann es drehen und wenden, aber eine dritte Strategie zur Vermeidung der Schiffs­tragödien gibt es nicht. Solange die Situation ist, wie sie ist, werden Leute aus ärmeren Regionen versuchen, nach Europa zu gelangen, und das Risiko laufen, dabei zu sterben.

Der bedrängte Diktator ­Gaddhafi hatte noch gewarnt, sein Sturz würde das Mittelmeer in ein «Meer des Chaos» verwandeln.

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