Die Weltwoche

16.10.2008

Hochmut und Skepsis

Von Eugen Sorg

Vor über vierhundert Jahren verfasste Michel de Montaigne die «Essais». In einem unerhörten philosophischen Selbstversuch nahm sich der Franzose die eigene Person zum Thema. Das Buch geriet ihm zur Ode an das Leben und hat bis heute nichts von seiner Leuchtkraft eingebüsst.

Wenn sich bewährte Institutionen, allgemeine Gewissheiten, gar Ersparnisse in Luft auflösen, ist Panik eine verständliche, aber trotzdem falsche Reaktion. Sie verleitet den Betroffenen zu Schritten, die ihn in eine noch schlimmere Situation führen. Besser dran ist, wer zu den Ereignissen, mögen sie noch so unerfreulich sein, eine gewisse Distanz halten kann. Diese verhindert, dass er und seine Umgebung unerträglichen Existenzängsten anheimfallen, und sie ermöglicht klügere Entscheide.

Der kühle Kopf ist eine Frage des angeborenen individuellen Temperaments. Aber nicht nur. Er ist auch das Resultat einer gewählten inneren Einstellung, einer Lebensphilosophie.

Wer sich, so die Maxime, nicht zu sehr an die Dinge bindet, wird «auch ohne sie zurechtkommen, sollten wir sie eines Tages verlieren». Und wer erkannt hat, dass alles zwischen Himmel und Erde sich ständig verändert, wird auf deren plötzlichen Verlust eher vorbereitet sein. «Die Welt ist nichts als ein ewiges Auf und Ab. Alles darin wankt und schwankt ohne Unterlass: Die Erde, die Felsen des Kaukasus und die Pyramiden Ägyptens schaukeln mit dem Ganzen und in sich. Selbst die Beständigkeit ist nur ein verlangsamtes Schaukeln.»

Autor der zitierten Sätze ist Michel de Montaigne, Verfasser der «Essais», eines der aussergewöhnlichsten Werke der Weltliteratur. Der Jurist Montaigne, geboren 1533 als Sohn eines Kaufmanns in der französischen Grafschaft Périgord, hatte sich 1571 nach langen Jahren der Tätigkeit an obersten Gerichtshöfen in den Turm des Familienschlosses zurückgezogen, um sich dem Schreiben zu widmen. In der Abgeschiedenheit der Privatexistenz und weil «ich nun allen anderen Stoffs ermangelte», «machte ich mein Selbst zum Gegenstand meines Buchs, das auf der ganzen Welt das einzige seiner Art ist: geplant planlos, gleichsam Wildwuchs. An der Sache verdient ausser dieser Absonderlichkeit nichts hervorgehoben zu werden.»

In den nächsten 21 Jahren bis zu seinem Tod entstanden 107 «Essais», Versuche, ein einmaliges Zeugnis unerhörter Selbst- und Welterkundung, eine Auslotung menschlicher Motive und schliesslich der condition humaine. Über 400 Jahre später wirken die Aufsätze immer noch frisch und lebendig. Der Renaissance-Mensch Montaigne, dem jegliche «Künstelei und Affektiertheit» zuwider war, bevorzugte eine Sprache, die «einfach und natürlich» ist, «voller Kraft und Saft, kurz und bündig». (Die «Essais» waren das erste philosophische Buch nach dem Mittelalter, das in der Muttersprache und nicht lateinisch geschrieben war.)

Er entwickelt seine Gedanken scheinbar willkürlich und ziellos. Voller Einfälle, Beobachtungen, jäher Richtungswechsel, gleicht der Vortrag eher einem Gespräch in einer geselligen Runde als einer philosophischen Abhandlung. Der Verzicht auf System ist gewollt, der frei schweifende Stil entspricht dem Inhalt. Montaignes Haltung ist diejenige der radikalen Skepsis gegenüber jeglicher Ordnung, Doktrin, Endgültigkeit. «Nicht um die Wahrheit zu verkünden, sondern um sie zu suchen», schreibe er. Und: «Ich sträube mich sogar gegen Wahrscheinliches, wenn man es mir als untrüglich darstellt.»

Heitere Skepsis

Die «Essais» entstanden, während in Frankreich ein fürchterlicher Glaubens- und Bürgerkrieg tobte. Montaigne war Zeuge der Schlächtereien und Hexenverbrennungen und wurde als Vermittler zwischen den Parteien von beiden angefeindet. Mehrmals wurde er überfallen und ausgeraubt, einmal in die Bastille geworfen. Weder im katholischen noch im protestantischen Lager konnte er irgendwelche noblen Beweggründe ausmachen, und er verurteilte die Verbündung des Glaubens mit den niederen Instinkten. «Unsere Religion ist geschaffen, die Laster auszurotten; doch sie beschirmt sie, zieht sie gross und spornt sie an.» Dem Umstand, selber katholisch zu sein, mass er keine besondere Bedeutung zu. Glaube verdanke sich dem Zufall der Herkunft. «Ein anderer Himmelsstrich, andre Glaubenszeugen, ähnliche Verheissungen und Drohungen könnten uns auf dieselbe Weise einen entgegengesetzten Glauben einpflanzen.» Ein Betrüger oder Narr also, wer behauptet, im Besitze des einzig wahren Glaubens zu sein.

Immer wieder nimmt er sich der intellektuellen Eliten an. Er spöttelt über deren Buchwissen, Hochmut, Aufschneiderei, hinter denen sich Unwissen und Unfähigkeit verbergen. «Die Schwerverständlichkeit ist ein Falschgeld, dessen sich die Gelehrten wie die Taschenspieler bedienen, damit die Nichtigkeit ihrer Kunst nicht ans Licht kommt.» Anschauungsmaterial für das Theater des Lebens bot ihm auch seine Tätigkeit an den Gerichten. Er streut Beispiele ein, die von durchtriebenen Richtern, stumpfsinnigen Gesetzen und Urteilen berichteten, die jedes Gerechtigkeitsempfinden verhöhnten. Mehr Vertrauen hatte er in das Urteilsvermögen des normalen Volkes, der Bauern, Handwerker, Händler. «Er war ein einfacher, ungeschliffener Mensch », schreibt er über einen Bekannten, «was ja eine günstige Voraussetzung für wahrheitsgetreue Aussagen ist.»

Als Ratgeber von König Heinrich III. und Heinrich von Navarra, dem späteren König Heinrich IV., hatte Montaigne intime Einblicke in die höchsten politischen Kreise der Zeit. Er kam zum Schluss, dass der Verehrung der Herrscher eine Verwechslung von prunkvollem Amt und Person zugrunde liege. «Wir beurteilen ihn nicht nach seinem Wert, sondern, wie es bei Spielmarken üblich ist, nach dem Rang der von ihm besetzten Stelle.» Und weil die Mächtigsten nicht nach Verdienst, sondern nach Herkunft ausgewählt würden, seien sie geradezu eher «die minder Befähigten». Die meisten unserer Tätigkeiten seien Possen. «Die ganze Welt treibt Schauspielerei. Wir müssen unsre Rollen darin gebührend übernehmen, aber eben als Theaterfigur. Aus Maske und Aufmachung sollte man nicht ein wirkliches Wesen machen und aus Fremdem nicht Eignes.»

Die Eitelkeit des Menschen – «das hochmütigste aller Geschöpfe» – verleite diesen dazu, die Beschränktheit seines Wissens und seines Einflusses zu verkennen. So sei es «unklug, zu meinen, die menschliche Klugheit könne die Rolle des Schicksals übernehmen. Und aussichtslos ist das Unterfangen dessen, der sich einbildet, Ursachen und Wirkungen zugleich zu beherrschen.» Höchstens das Privatleben hänge von unserem Verhalten ab, das öffentliche Geschehen, der Lauf der Politik und der Geschichte werde von «Glück und Unglück», zwei «selbstherrlichen Mächten», bestimmt. Was dem Einzelnen bleibt, ist, bereit zu sein: «Ich singe und sage mir beständig vor: Alles, was eines Tages geschehen kann, kann noch heute geschehen.»

Mit derselben Skepsis beurteilte Montaigne die eigenen Bemühungen. Auch diese gehorchten wechselnden Stimmungen, und oft «ergeben sich diese Schwankungen von selbst, ohne mein Zutun. Mein Denken unterliegt den Eingebungen und Anstössen des jeweils zufälligen Tagesgeschehens.» Oder über seine «Essais»: «…die Exkremente eines vergreisten Geistes: mal hart, mal weich und immer unverdaut.»

Der Blick Montaignes ist entlarvend. Unablässig entdeckt er neue Formen der Kluft zwischen Schein und Sein. Aber er ist weder hämisch noch schadenfreudig. Er ist heiter. Nicht Ressentiments oder Misanthropie oder Zerknirschung treiben ihn an, sondern die Freude an der Welt und am eigenen Selbst. Die Skepsis ist gepaart mit einer unersättlichen Neugier. Dienen ihm anfänglich die Denker der Antike noch als Sehhilfe, macht sich sein Blick zusehends frei. Mit der Verwunderung des ersten Menschen werden die Verhältnisse erkundet. Montaignes Sätze haben die Leuchtkraft der Authentizität. Nicht: Wie sollen die Dinge sein?, sondern: Wie sind sie?, ist die Fragestellung dieser fröhlichen Wissenschaft. Alles ist von Interesse, nichts ist der Beachtung unwürdig, die Welt erstrahlt im heidnischen Glanz.

Die Auffassung von der Relativität alles Wissens – auch des eigenen – ist die Grundlage von Montaignes Toleranz. Aber es ist keine faule Liberalität der Herablassung oder der Denkfaulheit. Seine Toleranz verdankt sich der Erfahrung der Vielfalt der Welt, dem Staunen darüber, «wozu Menschen fähig sind». Er liess sich gerne von fremden Ideen belehren, räsonierte am Beispiel «des häufigen Ungehorsams des männlichen Glieds» über die Grenzen der Willenskraft, war begierig auf Berichte von neuentdeckten Naturvölkern, verglich den Kannibalismus mit den Ketzerverbrennungen in seinem Land, notierte amüsiert Wunderlichkeiten wie die jenes Kaufmanns aus Cremona: «Ihm entfuhren die Blähungen durch die Ohren – und dies mit einem solchen Ungestüm, dass er fast keine Nacht mehr schlafen konnte! Selbst wenn er gähnte, schossen ihm aus den Ohrn flugs mächtige Fürze.»

Der Schriftsteller Egon Friedell hat auf die Gefahr der moral insanity hingewiesen, die jedem konsequenten Skeptizismus innewohne. Montaigne glitt nie in den «moralischen Wahnwitz» ab. Seine Menschlichkeit, sein Mitempfinden verhinderten jene bedrohliche Haltlosigkeit, die entsteht, wenn Gut und Böse nicht mehr unterschieden werden können. Die Leiden anderer rührten ihn «zu Tränen», Hinrichtungen oder Folterungen konnte er «nicht mit ungerührtem Auge ansehen». Das Mitleiden gehe bei ihm bis zu einer solchen «Weichlichkeit, dass ich keinem Huhn den Hals abdrehen sehe, ohne dass es mir weh tut, und es kaum ertrage, einen Hasen unter den Zähnen meiner Hunde ächzen zu hören, obgleich die Jagd ein mitreissendes Vergnügen ist».

Die Welt, die Montaigne vor Augen hatte, wurde zu seinen Lebzeiten wahrscheinlich gewaltiger umgekrempelt, als wir es heute als Zeugen der Globalisierung erleben. In Frankreich herrschten afghanische Verhältnisse, die Pest wütete, der christliche Glaubens- und Wertekosmos zerbrach. Ohne Gewissheiten, ohne Leitplanken, nur mit der Frage: «Was weiss ich?», machte sich Montaigne auf, sich selbst zu erkunden, rückhaltlos, ehrlich, und so die Welt neu zu vermessen.

Die «Essais» sind nicht nur ein Steinbruch an Ideen, Aperçus, Einsichten. Sie sind auch ein Dokument einer gelungenen modernen Existenz, der «triumphale Durchbruch des freien Menschen», wie es der Historiker Herbert Lüthy enthusiastisch formuliert. In der Bejahung seiner selbst, «so bin ich», und der Welt, «wie sie ist», in der Akzeptanz der Vorläufigkeit aller Meinungen und Verhältnisse fand Montaigne zur Freiheit des nach eigenen Entscheiden urteilenden Individuums. Und er erkannte, dass dieses Leben sein einziger Besitz ist, «ist es doch unser Sein, unser ein und alles». Ein unendlich köstlicher Besitz, neben dem alle anderen Dinge nichts wiegen. «Ich liebe das Leben.»

Michel de Montaigne: Essais. Erste moderneGesamtübersetzug von Hans Stilett. Die andereBibliothek, Eichborn, 1998. 573 S., Fr. 138.

Hans Stilett: Von der Lust, auf dieser Erde zu leben. Wanderungen durch Montaignes Welten. Eichborn. 271 S., Fr. 45.90

Freude, unersättliche Neugier: Jurist und Autor Michel de Montaigne 1533—1592.

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