Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

24. 8. 2008

Lost Boys

Von Eugen Sorg

Die wundersame Reise des Emmanuel Sunday de John

Nach einem Besuch auf der Redaktion des Khartoum Monitor, einer kleinen englischsprachigen Tageszeitung in der sudanesischen Hauptstadt Khartoum, bat ich den Herausgeber, mir einen Übersetzer für südsudanesische Sprachen zu vermitteln. Der Herausgeber rief einen Mitarbeiter ins Zimmer, einen jungen und ernsten Mann, den er als Emmanuel Sunday de John vorstellte. Er werde uns helfen können, da er aus dem Süden stamme.

Wir spazierten durch eine Siedlung am Stadtrand, wo ich mich ab und zu mit Anwohnern unterhielt, Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Süden, und Emmanuel übersetzte konzentriert und aufmerksam, nicht ohne jedes Mal zu fragen, kaum war das Gespräch zu Ende, welches der nächste Schritt sei, den ich zu unternehmen gedenke. Planloses Schlendern schien ihn als unverständliche Zeitverschwendung nervös zu machen.

Auf der Rückfahrt erzählte er, dass er jeden Nachmittag für zwei Stunden auf der Redaktion sei, um seine Kolumne „Das dritte Auge“ zu schreiben, in der Regel ein politischer Kommentar. Später sollte er mir einige seiner Kolumnen zum Lesen geben. Sie waren so wie er selbst: etwas atemlos, ohne Zeit für stilistischen Eitelkeiten, ohne Ironie oder Doppelbödigkeit, aber immer ernsthaft und mit einem moralischen Fazit, wie es afrikanische Kommentatoren lieben. Das Schreiben, sagte er, sei ein Nebenjob, hauptsächlich studiere er Medizin. Und wenn er sich nicht ablenken lasse, keine Freundinnen habe, wie einige seiner Kommilitonen, werde er 2011 mit dem Studium fertig sein.

Als ich ihn fragte, wo er aufgewachsen sei, meinte er, zuerst an verschiedenen Orten im Südsudan, dann für ein paar Jahre in Äthiopien, später wieder im Südsudan. Wann er in Äthiopien gewesen sei? Von 1988 bis Ende 1991. Warum er Äthiopien wieder verlassen habe, obwohl im Sudan immer noch Bürgerkrieg herrschte? Die neue  Regierung in Äthiopien habe keine sudanesischen Flüchtlinge mehr im Land geduldet. „Warst du“, fragte ich mit einer plötzlichen Vermutung, „warst du zusammen mit einer grossen Gruppe anderer Jungen?“ „Ja.“ „Seid ihr in Pochala über die Grenze gekommen?“ „Ja.“ „Dann sind wir uns schon mal begegnet“, sagte ich, „ich war zur selben Zeit in Pochala.“

Anfang 1992 arbeitete ich als Delegierter des IKRK (Internationales Komitee des Roten Kreuzes) im Südsudan. Das IKRK betreute damals unter anderem eine Gruppe von etwa 10000 Jungen, die ohne Eltern ausserhalb des Nestes Pochala im abgelegenen Südosten des Landes an der Grenze zu Äthiopien in winzigen Hütten hausten. Sie waren zuerst nach Äthiopien geflüchtet, später aber wieder zurück in den Sudan getrieben worden, nachdem der marxistische Diktator Mengistu gestürzt worden war und eine neue Regierung die Macht übernommen hatte. Über die Jungen kursierten unter den dortigen westlichen Helfern verschiedene Theorien. Die einen sagten, sie seien von John Garang, dem Führer der Guerilla SPLA (Sudan’s People Liberation Army) von den Eltern getrennt und in geheime Camps in Äthiopien gebracht worden, um aus ihnen eine ergebene Elitetruppe zu formen. Andere behaupteten, die Flucht aus dem völlig verheerten Süden verdanke sich schlicht der Hoffnung auf minimale Bildung und Sicherheit im Nachbarland.     

Es war zu Beginn der Trockenzeit, und die endlosen Sumpf- und Wasserlandschaften verwandelten sich zurück in ausgedörrte Savannen mit betonharten schwarzen Böden. Jederzeit konnte ein Angriff der Regierungstruppen erfolgen, und es wurde beschlossen, dass die Jungen sofort aufbrechen und in den Süden marschieren sollten, nahe zur Grenze Kenias, um dort ein neues, sicheres Lager aufzuschlagen. Fielen sie in die Hände Khartoums, würden sie in die Armee gesteckt oder als sklavenähnliche Bedienstete in arabische Haushalte im Norden und ihre Familien kaum mehr wieder sehen. Tatsächlich wurde Pochala drei Tage nach ihrem Abmarsch von der Armee eingenommen.

An einigen Stationen auf der mehrere hundert Kilometer langen Wanderung wartete ein Team des IKRK mit einem Wassertankwagen und ein paar Medikamenten. Ich war tief beeindruckt von der Zähigkeit und Leidensfähigkeit der Jungen – die meisten waren noch Kinder. Ihr einziger Besitz war eine Umhängetasche, in der sie Wasserflasche, Bleistift und einige Schulhefte verstauten. In Begleitung weniger Erwachsener durchquerten sie barfuss glühend heisse, beinahe menschenleere Gegenden, sie erzählten, dass sie unterwegs von wilden Tieren und feindlichen Stämmen angegriffen worden seien, aber nie hörte ich sie klagen oder weinen.

Nach mehreren Wochen erreichten sie Nairus, ein Dorf bei der kenianischen Grenze. Das letzte Stück ihrer Reise waren sie auf UN-Lastwagen transportiert worden. Kaum angekommen, griff Khartoums Armee den Ort an, und die Jungen entkamen im letzten Moment. Aber niemand wusste, wohin. Bald darauf verliess ich das IKRK und begegnete nie mehr jemandem, der von den lost boys etwas wusste. Aber all die Jahre beschäftigte mich immer wieder, was aus den Verschwundenen wohl geworden war. Nun traf ich sechzehn Jahre später zufällig auf einen von ihnen. Ich konnte es kaum erwarten, seine Geschichte zu hören. 

Seine Wanderung begann 1988, erzählt Emmanuel, als er noch keine fünf Jahre alt war. Guerillas der SPLA verkündeten den Leuten, dass sie für die Kinder Schulen einrichten würden, allerdings an einem weit entfernten, dafür sicheren Ort. Emmanuel lebte damals mit seiner Grossmutter bei Yrol in der Nähe des Oberlaufes des Weissen Nils. Den Vater hatte er noch nie gesehen. Er hatte ein Studium abgebrochen, um sich der SPLA anzuschliessen und war später von den Regierungstruppen gefangen genommen worden. Die Mutter war gestorben, als er zwei war. Sie war auf einem Nildampfer unterwegs, als dieser von der Armee beschossen wurde. Sie versank mit dem brennenden Schiff.

Viele Eltern gaben der SPLA ihre Jungen, auch die Grossmutter willigte ein. Im Südsudan gab es kaum mehr Schulen, zudem ist es nichts Aussergewöhnliches, dass Knaben regelmässig längere Zeit abwesend sind. In der Trockenzeit ziehen sie während Monaten mit den Kühen den Wasserstellen hinterher, auf sich gestellt, ohne Erwachsene. Ein Onkel brachte Emmanuel ins vierhundert Kilometer entfernte Kapoeta, ein zerfallenes, ehemals englisches Garnisonsstädtchen, und von dort ging es mit Guerillas vier Tage zu Fuss weiter nach Mangos, einem SPLA-Stützpunkt in der Wüste.

Dort waren bereits hunderte von Kindern. Sie wurden in Züge, Regimenter, Brigaden etc. eingeteilt, ansonsten taten sie nichts, ausser täglich zwei Stunden gehen, um Wasser zu holen. Es gab keinen Unterricht, keine Hefte, nichts. „Manchmal weinten wir ohne Grund. Die anderen dachten an ihre Eltern, ich dachte an meine Grossmutter.“ So verbrachten sie ein Jahr, bis es hiess, man gehe jetzt nach Äthiopien in die Schule.

Der Marsch war anstrengend und lang, und immer mehr Knaben aus anderen Gegenden kamen hinzu. Die ganz Kleinen mit den geschwollenen Füssen wurden von den Grösseren getragen, dank der Trockenzeit konnten immerhin die sandigen Flussbeete durchquert werden, die sonst reissende Ströme voller Krokodile sind. Obwohl sie keine Medikamente hatten, starb unterwegs keines der Kinder. Das Sterben begann erst in Äthiopien.

Das Wasser war verschmutzt, das tägliche Hirse- und Bohnengericht stillte den Hunger nicht, viele wurden krank und mussten beerdigt werden. Nach einem Jahr wusste Emmanuel immer noch nicht was Schule ist. Sie hatten nichts getan als Tukuls zu errichten, traditionelle Rundhütten, in denen sie zu siebt schliefen. Im zweiten Jahr begann das militärische Training. Sie wurden in drei Altergruppen unterteilt,  Emmanuel war bei den digdig, den unter Zehnjährigen. Alle lernten Gewehre auseinander nehmen, putzen, zusammensetzen, schiessen. Und alle lernten Disziplin. Die Kleinen wurden von den Mittleren mit Stöcken gezüchtigt, die Mittleren von den Grossen. Man nannte sie die „Rote Armee“.  

Nach weiteren neun Monaten gab es zum ersten Mal Schulunterricht. Die Lehrer waren hauptsächlich Weisse. Emmanuel erinnert sich an zwei Bücher, die ein australischer Missionar mitgebracht hatte: „Read with us“ und „Hello children“. Drei Monate später war wieder Schluss, Äthiopiens neue Machthaber warfen die Sudanesen aus dem Land.

Um in den Sudan zu gelangen, mussten sie auch den Fluss Gilo durchqueren. Diesmal war Regenzeit. Ein Seil war von einem guten Schwimmer auf der anderen Seite befestigt worden, die anderen hangelten sich daran entlang. Vor Emmanuel war sein Freund Simon ins Wasser gestiegen. Er war etwa zehn Meter weit gekommen, als ihn ein Krokodil schnappte. Simon tauchte noch zweimal auf, dann verschwand er für immer. Emmanuel begann zu schreien und weigerte sich, ins Wasser zu gehen. Ein Älterer nahm ihn auf die Schultern und trug ihn ans andere Ufer.

In Pochala bauten sie sich aus Ästen kleine Dreier-Unterkünfte, die Leute vom IKRK gaben ihnen Plastikplanen gegen den Regen. Emmanuel kann sich nur an einen der Weissen genau erinnern, an Alain, der ihn einmal auf seinem Motorrad mitfahren liess. Auf dem Marsch in den Süden wurden zwei Jungen von Krokodilen, ein anderer von einem Löwen gefressen, weitere starben bei einem Überfall der Murle, einem für seine Aggressivität bekannten Stamm.

Am Khoragarab, am Skorpionfluss in Boma wurden sie von Dr. John Garang empfangen. Er war von Nairobi mit dem Helikopter eingeflogen. „Ihr seid der Samen des neuen Sudan“, rief der Führer der SPLA, „ich werde euch beschützen und dafür sorgen, dass Ihr zur Schule gehen könnt wie die Kinder in Khartoum.“ Emmanuel dachte immer wieder an seine Grossmutter. Er hatte sie schon vier Jahre nicht mehr gesehen. Und er konnte immer noch nicht lesen und schreiben. Aber das, was Dr. Garang sagte, machte ihn für einen Moment glücklich und stolz.

An ihrem Ziel in Nairus endlich angelangt, hatten sie nicht einmal Zeit, ihre Hüttchen zu bauen. Das Wummern von Khartoums Artillerie im Nacken rannte Emmanuel mit einer Gruppe Richtung Westen. Bald stiessen sie auf andere Menschenkolonnen, Flüchtlinge aus Kapoeta, das ebenfalls von der Armee erobert worden war. Er sah eine Frau, die er kannte. Sie hatte ihre beiden Buben mit einem Strick an sich gebunden, damit sie nicht verloren gingen. Sie band auch Emmanuel und seinen Freund an den Strick.

Alle grösseren Ortschaften, die sie ansteuerten, Torit, Magwi, Yei waren von der Armee eingenommen worden und sie wichen südlich in die Wälder am Rand der Imatong-Berge aus. Die Jungen aus der „Roten Armee“ waren es gewohnt, barfuss zu gehen, die anderen hatten bald zerschnittene Füsse, einige krochen auf allen vieren. „Wir bewegten uns wie wilde Tiere, ohne Haus, ohne Plan.“ Zum Glück waren die Leute des Madi-Stammes, die in den Wäldern lebten, friedlich und hilfsbereit. Sie gaben ihnen Nahrung und Tipps.

Nach sechs Monaten wurde ihr provisorisches Camp erneut angegriffen. Diesmal von den eigenen Leuten. Ein Kommandant hatte sich von der SPLA abgespalten. Er war vom Stamme der Nuer, Emmanuel und die meisten der Mitflüchtlinge sind Dinka. Ein Onkel Emmanuels wurde erschossen, er selber flüchtete mit einem anderen Onkel Richtung Norden. Nach Wochen des Wanderns traf Emmanuel im Mai 1993 wieder mit seiner Grossmutter zusammen, die in einem Dorf im Hinterland von Yrol lebte, seit dieses ebenfalls in die Hände Khartoums gefallen war.      

Der Zufall oder eine Fügung wollte es, dass ausgerechnet in diesem fliegenverseuchten und entlegenen Flecken ein amerikanischer Priester eine Schule betrieb. Emmanuel zerbrach sich keine Sekunde den Kopf über die absurde Tatsache, dass er das Ziel seiner fünf Jahre dauernden biblischen Irrfahrt ausgerechnet am Ausgangspunkt seiner Reise erreichen sollte. Er stellte sich dem Priester vor und absolvierte vier Klassen in zwei Jahren. Hungrig, noch mehr zu lernen, akzeptierte er trotzdem widerspruchslos, als sein Onkel beschloss, als nächstes müsse Emmanuel nun ein Dinka werden. Er zog mit den Kühen, dem Heiligsten ihrer Kultur, durch die Savannen, lernte alles über Milch und Fleisch, erkannte ein Rind unter tausend anderen, wurde ein geachteter Ringer, konnte alle traditionellen Gedichte und Lieder vortragen. Nach vier Jahren hatte er dem Ruhm seiner Familie so viel Ehre erwiesen, dass sein Onkel unter den hübschesten Mädchen der Provinz eine Frau für Emmanuel aussuchen konnte.

In dieser Zeit begegnete Emmanuel zum ersten Mal seinem Vater, den man tot geglaubt hatte. Er hatte sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wieder den Guerillas im Busch angeschlossen. Er wolle noch nicht heiraten, erklärte ihm Emmanuel, sondern weiter lernen. „Das sei eine gute Wahl, sagte mein Vater, der den Wert der Erziehung kannte. Er schenkte mir siebzehn Kühe, die ich verkaufte, um mir meine weitere Ausbildung zu finanzieren.“

In all den Jahren der Gefahr und Not habe er nie aufgegeben. „Der Gedanke an den Tod drang nie in meinen Kopf ein.“ Er wollte nur lernen und beweisen, dass er ein Mann sei und fähig, etwas zu erreichen.

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