Die Weltwoche

12.03.2015

«Üben, Keith, üben»

Von Eugen Sorg und Tim Dirven (Bilder)

Um ein Haar wäre Mali in Terror und Chaos versunken. Am «Festival  sur le Niger» in Ségou zelebrieren die besten Musiker Westafrikas die Wiederauferstehung des Landes.

Es ist kurz vor Mitternacht, als die Band auf die über dem Fluss errichtete Freiluftbühne tritt. Gemächlich werden die Instrumente eingestellt, ein paar Scherzchen gemacht. Dann der fulminante Auftaktakkord. Er durchfährt das Publikum wie ein Stromschlag. Hunderte springen gleichzeitig auf, strecken die Arme in die Höhe, jubeln, klatschen, singen, beginnen wie befreit zu tanzen. Die Bühne scheint plötzlich zu schweben, ein magisches Luftschiff, getragen von rollenden Rhythmen und polyfonen Gesängen, glänzend im Silberlicht des Mondes. Die Gruppe, die das Wunder der Erweckung vollbringt, heisst Super Biton, eine Combo älterer Herren in langen, farbigen Gewändern, von der ich noch nie gehört habe, die aber mit ihrem kraftvollen und gleichzeitig raffinierten Afrofunk in ihrer malischen Heimat seit den siebziger Jahren zu den grossen Stars gehört.

Wir sind in Ségou, im westafrikanischen Mali, einem staubigen, aber malerischen Städtchen am Ufer des Niger. Zum elften Mal findet hier das «Festival sur le Niger» statt, ein fünftägiger Grossanlass mit den besten Musikern des Landes, aber auch mit Tanz-Workshops, Kunstausstellungen, Handwerksmesse, Experimentaltheater, Podiumsdiskussionen über Kunst, Politik und gesellschaftliche Entwicklung. An diesen Tagen verwandelt sich das verschlafene Nest in die Kulturhauptstadt Malis. Tausende von Besuchern drängen sich durch die sandigen, sonnenverbrannten Gassen, Musikfreunde, Regierungsabgeordnete, Schnorrer, Taschendiebe, Händler, Wunderheiler, leichte Mädchen, sämtliche Kinder und Jugendlichen aus der Umgebung. Die Hotels sind überbelegt, die Restaurants machen guten Umsatz. Hauptattraktion sind aber die abendlichen Konzerte auf der Hauptbühne am Fluss.

Trott eines Wüstenkamels

Geduldig hat sich das Publikum die bisherigen Darbietungen angehört. Begeisterung wollte aber nicht wirklich aufkommen. Weder beim jungen, melancholischen Künstler mit der Elektroorgel, dessen verschwommene Fugen wie ein Richard-Clayderman-Verschnitt klangen und die tanzfreudige Zuhörerschaft ratlos liessen. Noch bei der Performance einer Tuareg-Band, die als Teil einer «Caravane culturelle pour la paix» präsentiert wurde. Ihre klagenden arabischen Halbtöne und das schleppende Tempo, das an den gleichmässigen Trott eines Wüstenkamels erinnerte, wirkten einschläfernd. Gänzlich ungerührt blieb man auch bei einer Afro-Techno-Fusion. Am Mischpult fuchtelte und schraubte ein DJ herum, ein bebrillter Weisser in abgetragenem T-Shirt, nicht nur ein ästhetischer, sondern offensichtlich auch ein musikalischer Autist, der ohne Rücksicht auf Tonalität und Rhythmus elektronischen Lärm und kreischende Geräusche produzierte.

Und einzig dem afrikanischen Respekt vor Älteren und Autoritätspersonen ist es zu verdanken, dass man sich ohne zu murren die unzähligen Ansprachen, Danksagungen und Schweigeminuten der Bürgermeister, Gouverneure, Minister gefallen liess. Nur einmal bemerkte ich einen Jungen, der den Bürgermeister nachäffte, als dieser nicht mehr mit Reden aufhören wollte. Vor kurzem wäre das Land um ein Haar in einem Bürgerkrieg untergegangen, und die anwesenden Politiker nutzten die ausserordentliche Gelegenheit, sich wortreich als verantwortungsvolle Patrioten in Szene zu setzen. Das Festival steht denn auch unter dem Motto «Versöhnung und Wiederaufbau».

Doch die Leute haben nicht ihr teures Geld für Tickets ausgegeben, um sich windige Bekenntnisse anzuhören, und die Frauen haben sich nicht in stundenlanger Arbeit ihre Haare in geflochtene und gezöpfelte Kunstwerke verwandeln lassen und sich in ihre prächtigsten und schmeichelhaftesten Kleider gezwängt, um sich mit irgendwelchen Volksgruppen zu versöhnen. Sie alle sind hier, weil sie Musik hören wollen, jene Musik, die unmittelbar ins Glückszentrum trifft, die den Körper wiegen und die Hüften kreisen lässt, die das Leben feiert und den Alltag verlacht. Musik wie diejenige von Super Biton. Als gegen Ende des zweiten Abends die abgeklärten Altmeister zu spielen beginnen, ist das Publikum erlöst. Jetzt erst beginnt das Festival, jetzt ist man zu Hause. Jeder Gedanke an Krieg, Terror oder Ebola verflüchtigt sich zur vagen Erinnerung an eine weit entfernte Welt.

Im Jahr 2012 hatten die Terrororganisationen al-Qaida und Ansar Dine zusammen mit einheimischen Tuareg-Briganten den Norden Malis erobert, einen Staat namens Azawad ausgerufen und die Scharia eingeführt. Bald danach machten sie sich auf, um auch die Hauptstadt Bamako und den Süden zu unterwerfen. Die malische Armee stob auseinander, und erst eiligst eingeflogene französische Eliteeinheiten der «Opération Serval konnten kurz vor Ségou den Durchmarsch auf die Millionenkapitale stoppen. Die Brachialmuslime und die räuberischen Tuareg-Verbände wurden in die unkontrollierbaren Wüstengebiete des Nordens zurückgejagt, geschlagen, aber keinesfalls ver- nichtet. Immer wieder melden sie sich mit Anschlägen zurück. Allein im letzten Halbjahr wurden zweiundzwanzig Soldaten der Uno-Friedensmission Minusma getötet. Die westlichen Regierungen raten ihren Bürgern von Reisen nach Mali dringend ab. «Im ganzen Land bestehen hohe Sicherheitsrisiken und die Gefahr von Entführungen», warnt zum Beispiel das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten.

Das Festival mit seinem Menschengedränge und seinen prominenten Besuchern wäre ein ideales Objekt für einen Terroranschlag: furchtbares Blutbad, maximaler Schrecken, globale Aufmerksamkeit. Oberstleutnant Koniba Diabate, ein wohlgenährter, dunkelhäutiger Mann in den Vierzigern, Kommandant der Gendarmerie, soll dafür sorgen, dass dies nicht geschieht. «Man muss auf alles vorbereitet sein», meint er in seinem Büro in der Kaserne von Ségou, «erst vor einem Monat haben die Terroristen einen Militärposten in Nampala angegriffen, mit Raketen und Granaten, nur 280 Kilometer von hier.» — «Wird man da nervös?» — «Man muss ruhig bleiben und aufmerksam, nervös sein hilft nichts.» — «Was genau machen Sie?» — «Wir haben an allen Zufahrtsstrassen Checkpoints errichtet. Auch auf der anderen Seite des Flusses. Wenn jemand verdächtig wirkt, geht diese Information an uns und wir schicken ein Team. Für den Notfall stehen Einheiten des Militärs bereit. Wir sind gerüstet.»

Konflikt zwischen zwei Mentalitäten

Kommandant Koniba wirkt souverän. Aber ist sein Abwehrdispositiv auch wirklich so wasserfest, wie er versichert? Zweifel sind angebracht. Auf unserer Taxifahrt nach Ségou mussten wir an einem der Kontrollposten anhalten. Das Interesse der Uniformierten galt nicht versteckten Waffen oder Sprengstoffgürteln, sondern der eigenen Lohnaufbesserung. Sie blätterten so lange in den Dokumenten unseres Fahrers, bis sie irgendwo eine scheinbar fehlende Unterschrift entdeckten, und sie liessen uns erst weiterfahren, als er bezahlte. Umgerechnet zwanzig Euro, bar, ohne Quittung. Das ist nicht wenig. Sie hatten keinen Blick in den Kofferraum oder ins Innere des Wagens geworfen. Anderen Reisenden ging es genau gleich. Endlich wieder am Steuer, wurde der Fahrer von einem mehrminütigen Wutanfall gepackt. Er schimpfte derart heftig über die Diebe und notorischen Betrüger der Polizei, dass ich fürchtete, er würde die Kontrolle über den Wagen verlieren.

Ich bin noch am Überlegen, ob ich dem Kommandanten vom Erlebnis mit seinen Männern erzählen soll, da schaltet sich sein Adjunkt ein, Nagim, ein hellhäutiger, etwa 35-jähriger Mann. «Was weiss die Welt über den Konflikt in Mali?», will er von mir wissen. «Denkt man, die Tuareg seien schuld am Krieg?» Bevor ich antworten kann, reagiert Kommandant Koniba. «Er ist mein Stellvertreter und er ist Tuareg. Ich vertraue ihm vollständig.» «Ich bin zu 150 Prozent Malier», setzt Nagim nach, «und ich gäbe mein Leben für das Land. Der Militärchef der Region ist übrigens auch Tuareg. Warum wohl?» Er schaut mich triumphierend an, als hätte er mich eben schachmatt gesetzt.

Seit dem jüngsten Abspaltungskrieg wird den Tuareg von Seiten der übrigen Malier wieder mit stark verschärftem Misstrauen begegnet. Ihr Patriotismus wird angezweifelt. Nicht ohne Grund. Schon in den sechziger und erneut in den neunziger Jahren erhoben sich Tuareg-Stämme gegen die Regierung in Bamako. Dahinter steht ein uralter Konflikt zwischen zwei unversöhnlichen Lebensweisen und Mentalitäten. Tuareg sind Nomaden, Bewohner der Sahara, einer hitzeflirrenden Welt aus Sand und Stein. Auf der existenziellen Wanderung zu den Wasserstellen geraten sie immer wieder in das Gebiet der Sesshaften, der Bauern und Gewerbler in den grünen Savannen jenseits der Wüste. Die Tuareg sind hellhäutige Berber, selbstherrlich und stolz, und sie verachten die schwarzen, sesshaften Bantuvölker, die sich ihr Leben in gebückter Haltung mit schweisstreibender Arbeit verdienen müssen, als minderwertige Rasse. Gerade noch brauchbar, um als Sklaven gehalten zu werden. Diese hingegen betrachten die arroganten Kamelreiter entsprechend als gesetzloses Pack, Gesindel, heimatlose Schmarotzer. Die gegenseitige Abneigung ist kaum überbrückbar.

«Banditen gibt es überall», fährt Nagim etwas gönnerhaft fort, «auch bei den Tuareg. Oder bei al-Qaida. Und die ist auf der ganzen Welt. Sie hat in jedem Land Zellen. Auch bei euch in Frankreich oder Grossbritannien oder in China.» «Die Situation ist jetzt stabiler», wendet der Kommandant ein. Einige Tuareg versteckten sich noch in der Wüste und wollten die Waffen nicht abgeben. Sie würden mit Schmuggel und Drogenhandel viel Geld verdienen. Wer die Waffen nicht abgebe, sei ein Feind. «Doch wer sie abgibt», schliesst er versöhnlich, «ist willkommen. Dann ist alles in Ordnung.»

Auf einer Hotelterrasse in der Nähe der Flussbühne fällt mir ein etwa 35-jähriger Amerikaner auf. Er isst mit gewaltigem Appetit, hämmert gleichzeitig Nachrichten in seinen Laptop und begrüsst munter immer wieder Leute an den Nebentischen, um sich angeregt mit ihnen zu unterhalten, obwohl er sie offensichtlich zum ersten Mal sieht. Der Mann sprüht vor Energie und Kommunikationslust. Es dauert nicht lange, und auch wir sind im Gespräch miteinander. Er heisst Joe Conte, kommt aus Sausalito in Kalifornien und ist Leadsänger, Manager, Produzent und Promoter der Band JeConte & the Mali Allstars. Joe redet gerne, am liebsten über sich selbst, aber dies auf eine kurzweilige Art. Bald kenne ich seine halbe Lebensgeschichte.

Sohn eines italienischen Einwanderers, kreierte er in den Neunzigern als einer der frühen Internettüftler Websites, gründete Multimediafirmen, verdiente viel Geld, spielte in Bands. Dann sterben sein Vater und seine Freundin innerhalb eines Jahres an Krebs, und Joe, von Trauer überflutet, muss neu herausfinden, wer er ist und was er will. Er reist nach Timbuktu in der malischen Sahara, Gelehrtenstadt im Mittelalter, von wo Händler und Pilger ihre Karawanen nach Mekka sattelten, einem Ort, der in seiner Vorstellung anders ist als alles, was er kennt, fremd wie der Mond, und wo ihn nichts an sein bisheriges Leben erinnern soll. Soul-searching, Seelensuche nennt er diese Phase. Drei Jahre bleibt er, seine alte Lebendigkeit kehrt langsam zurück, und er wird um neue menschliche und künstlerische Welten reicher. Zusammen mit ein paar afrikanischen Musikern und Freunden gründet er eine Band, welche 2011 am legendären Festival au Désert, dem «afrikanischen Woodstock» in der Nähe Timbuktus den ersten grösseren Auftritt hat. Es folgen Tourneen in Afrika und Konzerte in Europa, den USA und 2013 die CD «Mali Blues». Morgen werden er und die Mali Allstars hier in Ségou auf der Bühne stehen.

Zauber in der holprigen Karre

Er wolle noch einen kleinen Filmclip mit der Band aufnehmen, meint Joe nach einer Weile, ob ich Lust habe, sie zu begleiten. Ich sage gerne zu, und wir begeben uns zum Wagen, wo die Band wartet. Joe stellt sie vor. Am Steuer sitzt Mamadou Kone, der Perkussionist, ein Mann mit lustigem Gesicht und Dreadlocks, der ständig mit dem Oberkörper wippt und mit den Fingern trommelt; neben ihm der Gitarrist Adama Dramé, von Joe als «Jimi Hendrix Malis» bezeichnet. Auf dem Rücksitz quetschen Joe und ich uns neben Boubacar Sidibé, Rhythmusgitarre und Gesang, von den Bandkollegen «Krähe» genannt, was sich aber nicht auf die Stimme beziehen soll, sondern auf seine Weisheit. Boubacar ist 66. Er ist knochendürr, trägt trotz Hitze eine alte Daunenjacke, die zerkratzte Akustikgitarre auf seinem Schoss hat einen Sprung, es fehlen ihm einige Zähne, und mit seinem topfförmigen Hut und seinem auf ein unbekanntes Ziel gerichteten Blick erinnert er mich an eine leicht verrückte, obdachlose Alte.

Kaum fahren wir los, schlägt Boubacar einige Akkorde auf dem Instrument an und beginnt leise zu singen. Sofort setzt eine wundersame Verwandlung ein. Seine Stimme ist überraschend melodiös, leicht rauchig und verheissungsvoll, mit einem untrüglichen Gefühl für das präzise Timing, seine Hände sind elegant, sein Gesicht ist voller Seele und Musik. Alles Trostlose ist von ihm abgefallen, und als Adama einige minimalistische, aber raffinierte Gitarrensoli einflicht, der subtil aufs Steuer trommelnde Mamadou mit einer zweiten Stimme und Joe mit der Mundharmonika einfallen, erfüllt Zauber die holprige Karre. Diese improvisierte Session wird mir besser gefallen als der Bühnenauftritt am folgenden Tag.

Wie alle seiner Generation, erzählt mir Boubacar später, habe er in seiner Jugend Rolling Stones und Bob Dylan und die anderen Heroen der westlichen Rockkultur gehört. Er besuchte eine katholische Musikschule in Bamako, verliess diese wieder, um seine eigene Musik zu machen. Er gründete Bands, schrieb Songs, eine Mischung aus traditioneller afrikanischer Musik und westlichem Rhythm and Blues. Während Jahren war er auf Tournee, zuerst in Mali, dann in Westafrika, später, zum Beispiel mit Habib Koité, auf der ganzen Welt. Er lernte die Grossen kennen wie Jackson Browne, der ihm seine Gitarre schenkte, die heute leider einen Sprung hat. Oder die Stones. Sie waren weltberühmt, doch er fühlte sich ihnen nicht unterlegen. In Afrika hatte man schon Blues gespielt, als Amerika noch kaum entdeckt war. Keith Richards habe ihn einmal um Tipps gebeten, wie er sich an der Gitarre verbessern könnte. «Üben, Keith, üben», habe er ihm geraten. Aber er übe doch die ganze Zeit, meinte dieser, auf der Bühne, in den Studios. «Bravo», habe er geantwortet, «mach weiter so.»

Kraftzentrum ist der Unterleib

Einigen malischen Musikern wie Ali Farka Touré, Salif Keïta, Boubacar «Kar Kar» Traoré gelang es, sich über Afrika hinaus einen Namen zu machen und Geld zu verdienen. Boubacar Sidibé blieb in deren Schatten, ohne sich jedoch darüber zu beklagen. Unbeirrt machte er weiter, den Blick auf jenes innere Ziel gerichtet, auf die vollendete Melodie, auf die perfekte Songzeile, der schwarze Samurai von Bamako. Und er musste eine Familie ernähren. Er hat nur eine Frau, mit dieser aber zwölf Kinder. Joe erzählte mir, dass Boubacar mit der Auftrittsgage einmal Reis für zwei Monate, ein andermal Öl- und Mehlvorräte gekauft habe. Und er, Joe, habe der Familie auch schon einen Koffer voll Kleider mitgebracht. Als er zwei Jahre später wieder auf Besuch war, trugen die Kinder immer noch diese Kleider. 2013 kam Boubacars erste CD heraus, produziert von Joe. Der Titel ist «Laido», was auf Bambara «Das Versprechen» heisst. Zehn eigene Songs, mit Wehmut veredelte Balladen, ehrlich, intim, unprätentiös. Sollten sie trotzdem noch etwas Geld einbringen, wird er bei seinem Haus ein Zimmer anbauen.

In einigen der Buden auf dem Festivalgelände verkaufen junge Tuareg Silberschmuck und Ledersachen. Die Geschäfte laufen nicht besonders, es hat dieses Jahr kaum Weisse am Festival. Seit sie mich mit Joe gesehen haben, begrüssen sie mich jedes Mal freudig. «JeConte ist unser Freund», sagen sie, «darum bist auch du unser Freund.» Sie kommen aus Timbuktu, und sie kennen Joe aus der Zeit, als er selber noch dort war. In Ségou fühlen sie sich auf feindlichem Territorium. Sie sprechen kein Bambara, auch kaum Französisch, und sie wissen, dass sie hier nicht beliebt sind. Trotzdem tragen sie ihre blauen Gewänder und den Wickelturban, die sie von weitem als Tuareg erkennbar machen. Bikima, der mit seinem Verwandten Ibrahim einen Stand betreibt, sagt, wenn einer von ihnen zum Beispiel eine Gruppe hören wolle, würden sie alle dreissig Minuten telefonieren, um zu schauen, ob alles noch in Ordnung sei.

Als ich sie bitte, mir von der Besetzung Timbuktus durch die Dschihadisten zu erzählen, willigen sie ohne Umstände ein. Wir setzen uns unter einen der Karitébäume in der Nähe des Niger-Ufers und sie kochen Tee. Das Leben sei schwierig gewesen, berichtet Bikima, man habe nichts zu tun gehabt. Man durfte nicht rauchen, nicht Musik hören, die Hosenlänge war vorgeschrieben, bis oberhalb des Knöchels, genau hier, alles andere war nicht halal, nicht erlaubt, der Bart durfte nicht rasiert werden, «gönne dem Bart Frieden», hiess es, der Prophet habe ihn auch nicht geschnitten, Frauen mussten Socken tragen, man durfte mit keinem Mädchen reden oder ihm die Hand geben. Wer nicht gehorchte, wurde ausgepeitscht, hundert Hiebe, Hände und Füsse wurden abgehackt, einem Jungen wurde das Ohr abgeschnitten, weil er einen Ohrring trug, ein Paar wurde gesteinigt, weil es nicht verheiratet war, allerdings nicht bei ihnen, sondern in Tessalit. In seinen Schilderungen schwingt keine Empörung mit. Es klingt eher, als würde er von einem mächtigen Naturereignis sprechen, das man hinnimmt, ohne es zu verurteilen.

«Diese Leute haben ein Programm im Kopf», fährt er fort, «sie sind stark und können reden, und du fängst an, ihnen zu glauben. Ich habe ihnen nicht geglaubt, weil ich nie lange mit ihnen geredet habe. Aber wenn du ein Nomade bist und in der Wüste lebst und nichts weisst, dann glaubst du, was sie sagen. Schau, hier.» Auf seinem Handy hat er einen Al-Dschasira-TV-Beitrag gespeichert. Er zeigt einen rotbärtigen Al-Qaida-Führer, einen malischen Araber aus Timbuktu, der mit erhobenem Zeigefinger direkt in die Kamera hinein predigt: «Wir haben in Libyen und in Syrien gekämpft», droht er, «und wir werden gegen Frankreich und Amerika kämpfen. Und wir sind nicht nach Timbuktu gekommen, um Air-Condition zu bringen. Sondern den Dschihad, die Scharia, das Wort des Propheten.» Er redet eindringlich und suggestiv, mit der Überzeugungskraft desjenigen, der Gott und die Gewehre auf seiner Seite weiss. Bikima schaut mich an. «Verstehst du jetzt, was ich meine?», scheint sein Blick zu sagen.

Die Rückeroberung Timbuktus durch die französischen Truppen dauerte eine Woche. Am dritten Kampftag sei seine Familie auf ihren Kamelen nach Mauretanien geflüchtet und für eineinhalb Jahre dort geblieben. Bikima sagt nicht, warum. Möglicherweise hatten sie Angst vor Racheakten der schwarzafrikanischen Nachbarn. Nach dem Abzug von al-Qaida wurden einzelne Araber und Tuareg getötet und ihre Läden geplündert. Es habe gereicht, meint Bikima, dass man einem Rebellen die Hand gegeben habe, und schon habe man als dessen Freund gegolten. Aus seinem Stamm habe sich aber niemand den Rebellen angeschlossen, behauptet er. Es gebe wilde Stämme, doch sein Stamm wolle den Frieden.

Wir unterhalten uns noch ein wenig über das Festival, Bikima lobt die Musik, meint dann, die beste Gruppe sei leider nicht anwesend. «Und wer ist das?» Wieder zaubert er sein Handy aus den Tiefen seines blauen Gewandes hervor. «Tinariwen. Das sind die Besten.» Auf einem Video sieht man eine verwegene Tuareg-Band mit Elektrogitarren. Die Gründer von Tinariwen stammen aus dem Norden Malis, lebten jahrelang in militärischen Ausbildungscamps Gaddafis und kämpften später mit anderen in Libyen geschliffenen Tuareg-Freibeutern gegen die Regimes von Mali und Niger. Erst Mitte der Neunziger tauschten sie die Gewehre endgültig gegen die Gitarren ein. «Nicht gerade Friedensapostel», sage ich zu Bikima. «Nein», strahlt er, «sie sind gegen die Regierung und für den Aufstand.»

Die beiden letzten Festivalabende werden in glänzender Laune gefeiert. Rapper Penzy, eine nationale Berühmtheit im weissen Sonnenpriestergewand, singt zwar falsch, aber der Rhythmus stimmt, und als plötzlich noch zwei Tänzerinnen auf der Bühne erscheinen, bricht das Publikum in Begeisterungsstürme aus. Jeder Ton und jeder rhythmische Impuls setzt sich bei den beiden Frauen unmittelbar in Bewegung um, der ganze Körper zittert, schüttelt und dreht sich, wird selber Musik, Kraftzentrum ist der Unterleib, die Füsse trippeln in rasendem Tempo, halten unvermittelt inne, der Körper schnellt in die Höhe, scheint einen Moment in der Luft zu verharren, die Schwerkraft überwindend, um wieder zu landen und weiter zu vibrieren, sich aufzubäumen und aufreizend das Becken kreisen zu lassen. Bei alledem lächeln und leuchten die Tänzerinnen entspannt, eine perfekte Symbiose aus Anmut, Kraft und Erotik. In Afrika offenbart sich Gott im Tanz.

Sogar die Krokodile klappern mit

Es folgen Hip-Hop-Künstler und immer wieder Auftritte von Frauen mit Stimmen, so reich und elektrisierend, dass das Publikum vom ersten Ton an jubelt. Stimmen wie diejenige der wunderschönen Fatoumata Diawara, die mit ihrem Afrofunk, ihrem Gitarrenspiel und ihrer Tanzperformance aus jedem Zuhörer einen besseren und glücklichen Menschen macht, sicher für die Zeit des Auftritts und noch etwas darüber hinaus. Diawara komponiert auch und schauspielert. Ihre jüngste Rolle hatte sie im Film «Timbuktu» von Abderrahmane Sissako, ein mit sieben Césars ausgezeichnetes Drama über die Zeit der Besetzung Timbuktus durch al-Qaida.

Die Flussbühne bietet weitere Highlights, etwa die Vorstellung von Ben Zabo, Meister des Afrobeat. Er und seine Band, in langen Gewändern und mit Kakadu-Kopfschmuck, legen einen atemberaubenden musikalischen Himmelritt hin, polyrhythmisch und vielstimmig, jeder Übergang perfekt, jeder Klang harmonisch, jeder Handgriff professionell. Mond und Sterne beginnen zu tanzen, und sogar die Krokodile im Niger klappern mit ihren Kiefern.

30 000 Besucher kommen ans Festival. Es gibt in den fünf Tagen keine Schlägereien, keine Panikszenen und schon gar keine Anschläge. Nur einige unbedeutende Organisationspannen. Die Tickets kamen nicht rechtzeitig aus der Druckerei, so dass zur Freude der Besucher der Eintritt am ersten Tag gratis war. Oder JeConte und Boubacar Sidibé wurden aus Versehen unter der Rubrik «Aufstrebende junge Talente» aufgeführt und mussten auf einer Nebenbühne auftreten. Das war eine Kränkung, aber sie liessen sich nichts anmerken. Joe krümmte und bog sich und blies sich auf seiner Mundharmonika die Lunge aus dem Leib, Adama zersägte mit gleissenden Riffs die Luft, Mamadou trommelte halsbrecherische Geschichten auf seiner talking drum. Und mitten im Soundtumult sass Boubacar mit seiner Jackson-Browne-Gitarre, ruhig, konzentriert, ein geduldiger Diener des Blues.

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