Angst essen Seele auf
Von Eugen Sorg
(unveröffentlichter Essay, 2020)
Vor etwas mehr als dreissig Jahren, am 14. Februar 1989, verkündete Ayatollah Khomeini, Oberhaupt des iranischen Gottesstaates, über Radio Teheran eine Todesfatwa gegen den anglo-indischen Schriftsteller Salman Rushdie. Dieser habe im Roman „Die satanischen Verse“ den Islam und den Propheten beleidigt, und jeder Muslim weltweit sei daher verpflichtet, den Gotteslästerer Rushdie, wo immer man ihn finde, zu töten, ebenso wie jeden, der bei der Verbreitung des Buches mithelfe. Der Mordauftrag war ernst gemeint und wurde auch so verstanden. Der japanische Übersetzer der „Verse“ wurde erdolcht, ein italienischer Kollege und ein norwegischer Verleger überlebten knapp, aber schwer verletzt die Anschläge frommer Vollstrecker.
Khomeinis Fatwa war der Auftakt zu einer neuen, von niemandem vorhergesehen politischen Ära: Ein wieder erstarkter, selbstbewusster und politisch aggressiver Islam tritt an, um über den eigenen Kulturkreis hinaus auch die übrige Welt, insbesondere den seit einigen Jahrhunderten dominierenden Westen zu zwingen, sich der Autorität des schariatischen Rechts zu unterwerfen. Es folgen unter anderem blutige Anschläge auf die Botschaft des „kleinen Satans“ Israel in Argentinien, auf das World Trade Center in New York, auf die ostafrikanischen Botschaften des „grossen Satans“ Amerika, Massaker an „ungläubigen“ Touristen in Ägypten und schliesslich am 11. September 2001 eine zweite, verheerendere Selbstmord-Attacke auf das World Trade Center und zwei andere Objekte. 3000 Menschen werden ausgelöscht, alles Zivilisten. Seit da verübten radikale Muslime bis heute rund 34 000 weitere tödliche Terroranschläge, mit kontinuierlich steigender Kadenz, die meisten davon in Asien, im Nahen Osten und in Afrika, ein kleiner Teil, aber immerhin einige Dutzend, in Europa. Der globale Neo-Jihad forderte seit 9/11 geschätzte 220 000 Todesopfer. Nicht mitgezählt sind jene vielen Toten, die in Bürgerkriegen umkamen oder im Chaos kollabierender Staaten, die durch die Blutmuslime mitverursacht wurden.
Schon das erste Rencontre Europas mit dem radikalen Neo-Islam löste Panik und Schockstarre aus. Grosse Verlage wie beispielsweise Kiepenheuer & Witsch verzichteten umgehend auf die Publikation einer deutschen Version der „Satanischen Verse“, Übersetzer tauchten unter und Buchhandlungen legten das Buch nicht auf. Die Medien kritisierten die mangelnde Zivilcourage, doch als der Verlag ihnen anbot, Teile des Romans als Vorabdruck zu veröffentlichen, duckten sich alle weg, vom Spiegel, selbstdeklariertes „Sturmgeschütz der Demokratie“ über die elitäre FAZ bis zur auf ihren kritischen Geist so stolzen Zeit. In ganz Deutschland hatte nur die kleine linke tageszeitung die Courage, sich der Fatwa des gestrengen Ayatollah zu widersetzen und einen Auszug aus dem Roman abzudrucken.
Den Redaktionen und Verlagshäusern war durchaus bewusst, dass die Fundamente der westlichen Gesellschaften angegriffen wurden: die Freiheit des Denkens, der Kunst, der Rede. Es galt, diese Werte zu verteidigen und Solidarität mit einem bedrohten Schriftsteller zu zeigen. Bisher war dies risiko- und schmerzfrei zu haben gewesen. Nur wenige Jahre zuvor hatte der bayerische Anarcho-Kreative Herbert Achternbusch mit einem vergleichbaren Thema einen Filmskandal verursacht. In seinem Streifen „Das Gespenst“ (1982) steigt Jesus vom Kreuz herab, um mit einer jungen, willigen Ordensoberin Sex zu haben. Millionen von Katholiken fühlten sich in ihren Gefühlen verletzt, es gab Protestdemonstrationen, Klagen, die Bischofskonferenz distanzierte sich vom Film, und Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, wie Achternbusch ein Bayer, qualifizierte das Werk als „widerwärtig und säuisch“. Die Kulturszene dagegen unterstützte Achternbusch, höhnte über die hinterwäldlerischen Kirchgänger und kürte die vom Autor mit Vorfreude auf die Empörungsaufschreie inszenierte Entweihung zur „heilsamen Selbstbefragung“. Noch heute schwärmt man von den „wunderbaren Geschmacklosigkeiten“, mit der die „radikale Tragikomödie das religiöse Empfinden zu provozieren vermochte“, und beklatscht die „Entmystifizierung der wichtigsten Geistergeschichte des Abendlandes.“ Der Künstler und seine Supporter hatten nichts zu befürchten. Der Kirche waren die inquisitorischen Zähne längst gezogen worden, und auch die oberste Bundesbehörde war chancenlos beim Versuch, den frechen Achternbusch zu disziplinieren. Der Film war mit staatlichen Geldern subventioniert worden, und Innenminister Zimmerman, „ich kann dies mit meinem Gewissen nicht vereinbaren“, hatte die Rückgabe des Förderbeitrags verlangt. Achternbusch, unbeeindruckt, frotzelte selbstbewusst: „Würden Zimmermann meine Filme gefallen, könnt’ ich mich gleich umbringen.“ Er wehrte sich erfolgreich mit einer Klage und konnte das Geld behalten.
Nun war aber mit der Brachial-Fatwa aus Teherans Gottesstaat eine völlig neue Situation eingetreten. Für die allermeisten Angehörigen der europäischen, postreligiösen Meinungseliten war der Islam bis anhin eine pittoreske orientalische Folkloreveranstaltung leicht zurückgebliebener Turbanträger gewesen. Eben hatten sie im Lexikon noch nachschauen müssen, was eine Fatwa eigentlich ist, um dann rasch und mit Schrecken zu realisieren, dass deren bärtigen Verkünder und und ihre Glaubensbrüder entschlossen waren, diese zu vollstrecken. Die schmeichelnde Selbstwahrnehmung der Intellektuellen als kühne, antifaschistische Freigeister, als kulturelle Avantgarde auf dem Weg zu einer aufgeklärten, herrschaftsfreien Welt, kollidierte schmerzhaft mit einem weniger heroischen, elementaren Selbsterhaltungsreflex. Man zog den Kopf ein und schwieg, weil man Angst hatte, getötet zu werden. Und heimlich schämte man sich ein wenig dafür.
Nicht alle Verlage knickten ein, sondern druckten wie der britische Penguin oder der italienische Mondadori trotz öffentlichen Bücherverbrennungen durch lärmende Muslime, trotz Morddrohungen und unter Polizeischutz weiterhin Rushdies Roman. Und auch in Deutschland taten sich schliesslich über 300 Verlage, Zeitungen und Autoren zusammen, um als Kollektiv die „satanischen Verse“ im eigens dafür gegründeten Artikel 19 Verlag herauszugeben. Der Name bezieht sich auf Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der von der Meinungsfreiheit handelt. Der Verlag hatte keine offizielle Adresse, keine Telefonnummer, die Identitäten der beiden Übersetzer sind bis heute geheim. Und mit der Vielzahl der Herausgeber sollte die Gefährdung für den Einzelnen statistisch minimalisiert werden. Die Artikel 19-Verleger waren keine Helden, aber ebenso wenig waren sie Feiglinge. Vielleicht agierten sie übervorsichtig, doch sie waren ehrlich und sie handelten mutig. Denn Mut ist, wenn man trotz Angst etwas tut, weil es das Richtige ist.
Gleichzeitig zeichneten sich in der Rushdie-Affäre bereits all jene Reaktionsmuster ab, die sich künftig zur dominierenden Haltung der medialen und politischen Nomenklatura verfestigen sollten. Der neoislamische Terror wurde verharmlost, relativiert, beschönigt, verleugnet. Britische Labour-Abgeordnete beispielsweise forderten die Ausweitung des Blasphemie-Gesetzes, also die Beschneidung der freien Rede. Sie hegten die Illusion, die frommen Erpresser damit beschwichtigen zu können. „In einer Front mit den Mullahs“, kommentierte ein entnervter Salman Rushdie den Kniefall aus seinem Versteck, „das ist deprimierend.“ Islam-Experten beschwichtigten wiederum, die Morddrohung sei lediglich Ausdruck des „engen Weltbildes des Politführers Khomeini“, und „darf nicht mit dem Islam gleichgesetzt werden.“ Keiner dieser akademischen Experten hatte den kontinuierlichen Aufstieg eines apokalyptischen, wortgläubigen, imperialen Neo-Islam bemerkt, aber trotzdem glaubten sie zu wissen, dass die „überwiegende Mehrzahl“ der Muslime, die „Masslosigkeit einer tödlichen Vergeltung ablehnen.“ Das war jedoch schon 1989 reines Wunschdenken, wie sich jeder überzeugen konnte, der sich damals in der muslimischen Welt umhörte. Äusserlich gut integrierte Söhne pakistanischer oder nordafrikanischer Einwanderer in London und Paris befürworteten die Hinrichtung Rushdies mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie muslimische Jugendliche in Südindien oder im Sudan.
Ignoranz und Wunschdenken spielte ebenso eine Rolle, als man die öffentliche Verbrennung von Rushdies Büchern durch zornige Gläubige in englischen Städten wie Bradford einzuordnen versuchte. Der Rassismus und die Ausgrenzung durch die weisse Mehrheitsgesellschaft hätten die Feuerwerker angetrieben, so der Grundtenor der Kommentare, und nicht etwa religiös-totalitäre Rechtsvorstellungen und aufgeputschte Stammesmentalität. Würde man die Muslime nur respektvoll behandeln, angemessen fördern und auf ihre Sensibilitäten Rücksicht nehmen, hätten sie es auch nicht mehr nötig, mit schrillen Mitteln auf ihre Verzweiflung aufmerksam zu machen. Der Fanatismus der Veranstalter des Autodafé, die selbstgerechte Wut derer, die unliebsame Bücher verbrannten und noch lieber deren Autor mit ins Feuer geworfen hätten, waren in den Augen der Meinungshegemonen nur eine verständliche Reaktion auf die Engstirnigkeit der Aufnahmeländer, aber bedeuteten keine Ablehnung der westlichen Lebensweise und Kultur. Die wirkliche Gefahr ginge von den Alteingesessenen aus, vom „dumpfen Fremdenhass des europäischen Spiessbürgers“, wie die Zeit wenige Tage nach der Khomeini-Fatwa mit der charakteristischen Überheblichkeit der linksliberalen Eliten gegenüber den nichtakademischen, angeblich beschränkt urteilsfähigen Landsleuten diagnostizierte.
So prekär die Unterstützung war, heute, knapp 30 Jahre später, wäre eine derart breite und öffentliche Solidarität, wie sie Rushdie trotz allem erfahren hatte, kaum mehr denkbar. Die nachfolgenden Terroranschläge und Morde muslimischer Fanatiker haben Europa tiefer verändert, als es selber realisiert hat. Mittlerweile müssen Dutzende Persönlichkeiten in ganz Europa wie Rushdie unter permanentem Polizeischutz leben. Es sind Philosophen, Journalisten, Schriftsteller, Politiker, liberale Imame, Feministinnen, Künstler, die den real existierenden Islam auf irgendeine Weise kritisiert haben und nun befürchten müssen, totgeschlagen oder erstochen oder geköpft zu werden. Wie beispielsweise der Holländer Theo van Gogh, der wegen seines kurzen Dokumentarfilmes über die Unterdrückung der Frau im Islam von einem fanatischen Muslim auf offener Strasse mitten in Amsterdam regelrecht hingerichtet wurde. Einige der Gejagten kennt man über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus wie den Romancier Michel Houellebecq oder den dänischen Zeichner Kurt Westergaard, dessen Mohammed-Karikaturen die Zeitung Jyllands Posten veröffentlicht hatte. Von vielen anderen haben die meisten noch nie gehört, wie von der Französin Laurence Marchand-Taillade, Nationalsekretärin der Parti Radical de Gauche. Sie hatte Machenschaften von radikalen Muslimen öffentlich gemacht und daraufhin auf Arabisch verfasste Botschaften erhalten: „Du bist zum Tode verurteilt. Es ist nur eine Frage der Zeit.“ Seit da wird die Mutter zweier jugendlicher Töchter rund um die Uhr von bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht. Genau wie der Philosophie-Dozent Robert Redeker, der nach einem Artikel im Figaro massiv bedroht wurde und seither wie ein Flüchtling im eigenen Land lebt. Er musste Kurse und Tagungen absagen, sein Haus verkaufen, die Beerdigung seines Vaters wurde geheim gehalten und die Hochzeit der Tochter wurde von der Polizei mitorganisiert.
Zu den wertvollsten Beiträgen des Westens an die Humanzivilisation gehört das Recht auf freie Meinungsäusserung. Es wurde nach Jahrhunderten opfervoller Kämpfe errungen. Umso erstaunlicher ist es daher, wie schnell die Wiederkehr von Gesinnungsterror und archaisch-religiöser Blutjustiz im aufgeklärten Europa hingenommen wurde, als handle es sich um normale Ereignisse, alltäglich wie Verkehrsunfälle, unvermeidlich wie Wettervorkommnisse. Die Nachricht aus Berlin beispielsweise, dass der deutsch-türkischen Muslima Seyran Ates fromme Totschläger nach dem Leben trachten, und sie rund um die Uhr Personenschutz braucht, weil sie in der deutschen Hauptstadt eine liberale Moschee gegründet hat, in der Männer neben Frauen beten dürfen und Homosexuelle willkommen sind, weckte kaum noch Empörung und geriet bald wieder in Vergessenheit. Woher kommt diese scheinbare Nonchalance gegenüber dem Skandal, dass man im Westen wieder damit rechnen muss, von einem Killerkommando ermordet zu werden, wenn man eben jene Werte lebt, die den Westen kennzeichnen und überragend erfolgreich gemacht haben: Freiheit des Denkens, Kritik an Dogmen, Montaigne’sche Skepsis? Was ist geschehen?
Salman Rushdie lieferte einen Hinweis auf eine Antwort. Nach zwei Jahren Leben unter Hochsicherheitsbedingungen traf er sich heimlich mit sechs muslimischen Geistlichen und veröffentlichte kurz darauf in der New York Times den Artikel „Now I can say, I am a Muslim“ („Jetzt kann ich sagen, ich bin ein Moslem“). Er habe nie jemanden beleidigen wollen, schrieb der Satiriker und Atheist darin, es sei ihm nicht um einen Angriff auf den Islam gegangen. Die „Satanischen Verse“, mit ihren Porträts von Konflikten zwischen der „spirituellen und der materiellen Welt“, seien vielmehr ein „Spiegel meines eigenen inneren Konflikts.“ Aufgewachsen als Kind säkularer Muslime, sei er zwar „kein guter Muslim“, aber nun habe er den Weg zurück in die „muslimische Gemeinschaft“ gefunden, deren „Werte immer am nächsten bei meinem Herzen“ lagen. Innerhalb dieser „Familie“ zu leben, sei für ihn „eine Quelle des Glücks“, und er verriet, dass er den Geistlichen versprochen habe, neue Übersetzungen der „Satanischen Verse“ zu untersagen. Er schloss den Beitrag mit einem Appell an „alle Muslime, muslimischen Organisationen und Regierungen“, sich dem „Heilungsprozess“ anzuschliessen, der beim Treffen mit den sechs Würdenträgern begonnen habe und er beschwor „Toleranz, Mitgefühl und Liebe“, die seines Wissens das „Herz des Islam“ ausmachen würden.
Der Freigeist Rushdie hatte kapituliert, sein Artikel war ein Unterwerfungsschreiben. Er hatte den immensen Druck, die ohnmächtige Existenz als Gejagter, die allgegenwärtige tödliche Bedrohung nicht mehr ausgehalten und war bereit, alles tun, was seine Verfolger besänftigen, und alles zu vermeiden, was sie noch mehr wütend machen könnte. Er schmeichelte ihnen, er verleugnete die eigene Identität, er bog sich die Wirklichkeit zurecht. Er flehte um sein Leben. Später, als sich gezeigt hatte, dass seine Reuebeteuerungen nichts ändern konnten, bezeichnete er seine Reaktion als „beschämend“, als einen „schrecklichen Fehler“. Und er diagnostizierte den Versuch, sich mit seinen Häschern zu befreunden, schonungslos ehrlich als „Affäre mit dem Stockholm-Syndrom“.
Dieses psychologische Phänomen, dass ein Gefangener nicht nur alles vermeiden will, was seinen Peiniger verärgern könnte, sondern darüber hinaus noch Sympathie für diesen entwickelt oder gar Dankbarkeit und tiefe Zuneigung, wenn er am Leben gelassen wird, verdankt seinen Namen einem Banküberfall mit Geiselnahme im Stockholm der Siebzigerjahre. Während den fünf Tagen ihrer Gefangenschaft gingen die Geiseln durch die Hölle. Die Entführer drohten, sie zu töten, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Und für den Fall, dass die Polizei Schlafgas ins Bankgebäude einströmen liesse, wie die Geiselnehmer befürchteten, befestigten sie Schlingen an der Wand, die sie den Geiseln um den Hals legten. Verlieren diese beim Einatmen des Gases das Bewusstsein, erdrosseln sie sich durch das Gewicht ihrer Körper selber. Über das Drama wurde live und weltweit berichtet, und man atmete auf, als die Geiseln schliesslich erlöst und die skrupellosen Täter verhaftet werden konnten. Für sehr grosses Erstaunen sorgte aber, als bekannt wurde, dass sich die Geiseln noch über die Befreiung hinaus mit ihren Entführern solidarisierten und eine der geretteten Frauen gar eine Liebesbeziehung mit einem der Gangster einging. Die um ihre Lebensrettung bemühte Polizei hingegen hatten sie in Leugnung und Umkehrung der Wirklichkeit als eigentliche Bedrohung und Feind empfunden.
Ähnlich war es rund 120 Jahre zuvor dem russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewski ergangen. Wegen Mitgliedschaft in einer anti-zaristischen frühsozialistischen Gruppe war der damals 28-Jährige zusammen mit anderen Genossen zum Tode verurteilt worden. An einem bitterkalten Petersburger Dezembermorgen wurde er an den Hinrichtungspfahl gefesselt, bekleidet nur mit einem weissen Totenhemd, die Augen verbunden. Das Todesverdikt wurde verlesen, und just in dem Moment, als nach einer Ewigkeit der Befehl zur Exekution kam, preschte ein Kurier des Zaren heran und verkündete die Begnadigung aller Verurteilten zu Zwangsarbeit. Dostojewski schrieb später, wie er auf dem Gang vom Schafott zum Pfahl von einem „mystischen Schrecken“ erfasst worden sei und wie ihn andererseits nach der Begnadigung ein „grenzenloses Glücksgefühl“ durchströmt habe. „Das Leben ist ein Geschenk“, lehrte ihn diese existenzielle und traumatische Erfahrung, und dieses Geschenk verdankte er Niklaus I., dem Zaren und dessen gottgleichen Allmacht. Die beinahe vollzogene Erschiessung, die Begnadigung in letzter Sekunde, das gesamte Zeremoniell war bis in die kleinsten Details unter Mitwirkung von Niklaus persönlich sorgfältig geplant und inszeniert worden. Die Scheinhinrichtung sollte sich den unbotsamen Untertanen als Schock in die Seele einbrennen. Das Unterfangen war erfolgreich. Dostojewski würde nie mehr gegen den Zaren und dessen Ordnung aufbegehren. Er blieb seinem vermeintlichen Retter ein Leben lang in Demut und Dankbarkeit verbunden. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gelobet sei der Name des Herrn.
Vergleichbare Erfahrungen, wenn gleich meist mit weniger glücklichem Ausgang, machten jene westlichen Hilfswerkler und Journalisten wie James Comey, die in Syrien in die Hände der Schergen des Islamischen Staates (IS) gefallen waren. Sie wurden während Monaten geschlagen, gedemütigt, stundenlang an den Füssen aufgehängt, auf Hungerdiät gesetzt, Scheinhinrichtungen zugeführt, vollständig dem sadistischen Amüsement ihrer Wächter ausgeliefert. Die meisten der Gefangenen traten laut Aussagen von überlebenden Mitgefangenen, zitiert in einem ausführlichen Bericht in der New York Times, zum Islam über, zu jenem Glauben also, dessen Gott ihre Peiniger anriefen, wenn sie sich an ihr schändliches Werk machten. Die Konversion sei ernst gemeint gewesen, meinte einer der ehemaligen Zellengenossen, und nicht nur oberflächlich, um sich etwa wenigstens während der fünf täglichen Gebete etwas Ruhe von den Schlägen zu verschaffen. Was auch die wahren Motive gewesen sein mögen, die Konversion half nichts. Comey und sieben weitere seiner britischen und amerikanischen Mitgefangenen wurden trotz Glaubenswechsel von ihren frommen Häschern geköpft.
Die unter Todesangst und Ohnmacht entstandene Realitätsinversion Salman Rushdies, der Geiseln von Stockholm, des Russen Dostojewski oder der bedauernswerten Gefangenen des IS erinnert in vielem an die Reaktion der westlichen Eliten auf die jihadistische Terror-Offensive. Spätestens seit letztere anfangs des Jahrhunderts New York und bald danach den europäischen Kontinent erreicht hat, taumeln die Meinungsführer wie Schlafwandler von einem Anschlag zum nächsten. Man zeigt sich jedes Mal von Neuem „schockiert“ und „entsetzt“, als hätte man die erste Attacke dieser Art erlebt; die Motive des „Allahu Akbar“ schreienden „mutmasslichen“ Attentäters seien „unklar“, wird mitgeteilt; er sei ein „einsamer Wolf“; einer, der sich „selber radikalisiert habe“; eine „psychisch gestörte Person“; ein „wütender, labiler, junger Mann“, wie Präsident Obama den fanatischen Muslim Omar Mateen, der in einem Nachtclub in Orlando 59 „Ungläubige“ ermordet hatte, voller falscher Empathie charakterisierte, als wäre Mateen ein orientierungsloser Halbwüchsiger und nicht der eiskalte Vollstrecker eines religiösen Todeskultes. Man spricht von einer „Tragödie“, als handle es sich um ein unabwendbares schicksalhaftes Ereignis; verrätselt die Tat als „unbegreiflich“, wie zum Beispiel Angela Merkel das Massaker von Manchester, wo sich im vorletzten Frühjahr ein libysch-britischer Extremmuslim an einem Konzert von Popstar Ariana Grande in die Luft gesprengt hatte; oder man entkernt den jihadistisch inspirierten Terror, so Londons Bürgermeister Sadiq Khan, zur „unvermeidlichen Begleiterscheinung des Grossstadtlebens“.
Der Westen ist seit dreissig Jahren Angriffsziel islamischer Gotteskrieger. Deren Weltanschauung ist bekannt, sie deklarieren offen ihre Absichten, ihre Taten stimmen mit den Worten überein. Wer ihre Aktionen immer noch „unbegreiflich“ findet, als individuelle Verhaltensstörungen psychologisiert oder als normale urbane Kriminalität banalisiert, stellt sich aus politischen Motiven dumm oder ist Opfer einer psychologisch bedingten Wahrnehmungsblockade.
Ein Ausdruck dieser Realitätsverweigerung sind die Terror-Gedenkfeiern, die in der Regel nach demselben Ritual ablaufen. Sie sind vollkommen apolitisch und erinnern in ihrer Kitschigkeit an die Kondolenzbekundungen für Prinzessin Diana, die unglückliche „Königin der Herzen“. Am Ort des Massakers werden Blumen, Kerzen, Stofftierchen, Trauerzettelchen deponiert, schluchzende Menschen liegen sich in den Armen, es herrscht gefasste Stille und Zurückhaltung. Ausser es taucht wie in Paris nach dem Massenmord im Musiklokal Bataclan ein junger Mann mit seinem Piano auf und spielt John Lennons Hippie-Gospel „Imagine“: „Stell dir vor, es gibt keine Staaten, nichts wofür es sich zu töten oder zu sterben lohnte, und auch keine Religion…Und die ganze Welt wird eins sein.“ Als „Singen gegen den Terror“ priesen damals zu Tränen gerührte Journalisten den Auftritt des Musikanten, als hätte er soeben das Böse gebannt, und schrieben von einer „Gänsehaut-Atmosphäre“, als hätten sie an einer Neuauflage des Woodstock-Festivals teilgenommen und nicht an einer Gedenk-Veranstaltung für die Opfer eines weiteren niederträchtigen Anschlags anti-zivilisatorischer Kräfte.
Ansonsten hört man an diesen häufig gewordenen Veranstaltungen keine lauten Töne, und schon gar keine Äusserungen des Unmuts, des Aufbegehrens, der Empörung oder der Wut auf die Angreifer – die natürlichen Impulse jeder attackierten Kreatur mit intaktem Lebenstrieb. „Dies wäre genau das, was die Terroristen wollen“, beschwören sich die Teddybär-Aktivisten gegenseitig, ohne zu verraten, woher sie plötzlich so genau zu wissen meinen, was die Terroristen wollen. Und sie fragen: Haben wir überhaupt das Recht, die Attentäter kategorisch zu verdammen? Schliesslich sei „der Westen den Jihadisten moralisch NICHT überlegen“, wie der Londoner Grossintellektuelle Tariq Ali auf der Verlagswebseite Versobooks kurz nach dem Bataclan-Blutbad festhielt – eine weit über die Kreise der linken Eliten hinaus verbreitete kulturrelativistische Einstellung. Oder als bekannt wurde, dass am Fussballmatch England gegen Frankreich, wenige Tage nach Bataclan, im Wembley die „Marseillaise“ gesungen werden sollte, löste dies schwere Bedenken aus. Die martialische französische Nationalhymne – „Zittert Tyrannen und Ihr Niederträchtigen, Schande aller Parteien, zittert! Eure verruchten Pläne werden Euch heimgezahlt!“ -, sei „nicht eine Million Meilen entfernt von der Hymne des ISIS“, warnte ein Kolumnist des Guardian, Hass aber erzeuge Gegenhass, und er riet wie sein Kollege vom Independent dringend davon ab, das „umstrittene“ Revolutionslied der Republik Frankreich öffentlich vorzutragen. Abgewiegelt und relativiert wurde auch in den obersten politischen Sphären. Der Westen soll „vom hohen Ross heruntersteigen“, dozierte US-Präsident Obama angesichts der islamischen Gewalt, und sich an „die schrecklichen Taten“ erinnern, die „wir“ während den „Kreuzzügen und der Inquisition begangen haben.“ Und als ein weiterer muslimischer Extremist in Barcelona mit einem Lastwagen in eine belebte Einkaufsmeile gerast war und „Ungläubige“ überwalzt und zerquetscht hatte, als wären es Käfer, titelte der Zürcher Tages-Anzeiger nach der rituellen Gedenkfeier: „Barcelona trauert und schweigt“. Die Zeile klang wie ein Seufzer der Erleichterung und des Lobes. Sie fasste die gewünschte submissive Haltung gegenüber der islamischen Schreckensoffensive als Kurzformel zusammen: Hinnehmen, Schweigen und weiter machen wie bisher.
Das globale Flaggschiff der linksliberalen Stände, die New York Times, verweigerte ihre Chronistenpflicht und sah davon ab, jene Mohammed-Cartoons zu zeigen, die den Jihadisten den Vorwand geliefert hatten, die Charlie-Hebdo-Redaktion auszulöschen. Die Zeichnungen seien „rücksichtslos, vulgär und teilweise kommerziell motiviert“, lautete die verblüffende Begründung für die journalistische Abstinenz eines Leitmediums aus der Heimat von Thomas Jefferson und Weltkapitalismus. Auch die Washington Post, eingegangen in die Historie des Journalismus durch ihre unerschrockene Aufdeckung des Watergate-Skandals, teilte mit, dass sie „keine Inhalte publizieren, die religiöse Gruppen ostentativ, absichtlich oder unnötig kränken.“ Und in allen übrigen westlichen Demokratien schlossen sich hunderte weitere Print- und TV-Medien dieser Selbstzensur an.
Die Beteuerung, „keine religiösen Gefühle verletzen“ zu wollen, wäre ein wenig glaubwürdiger, erstreckte sich die Rücksichtnahme auf alle Bekenntnisse. Bibeltreue Christen aber, die in Befolgung ihres Glaubens etwa Homo-Ehen oder Abtreibungen als Sünde ablehnen, werden von denselben Kreisen als „bedauernswerte“ Gestalten abqualifiziert und mit Verachtung, Schimpf und Strafanzeigen bedacht. Feinfühliger Respekt gegenüber religiösen Empfindlichkeiten ist exklusiv den Korangläubigen vorbehalten. Wenn es um Fragen des Islam geht, verzichten mittlerweile nicht nur die allermeisten so genannten Kulturschaffenden und Meinungsmacher freiwillig auf Satire, Spott und Polemik, also auf jene stilistischen Mittel, die spätestens seit der Aufklärung gegen doktrinäre Popanzen, verkalkte Systeme, intellektuelle Zumutungen aufgeboten werden, gegen Phänomene also, für die der real existierende Islam reiches Anschauungsmaterial böte. Die selbstkastrierende Leisetreterei ist längst auch im europäischen Alltagsleben angekommen. In vorauseilender Entschärfung möglicher Konflikte werden Theaterstücke abgesetzt, Kunstwerke verhüllt, Filme aus dem Programm gestrichen, Kreuze abgehängt, Weihnachtsmärkte in Wintermärkte umbenannt, Schweinefleisch vom Sommergrill verbannt, Socken aus dem Produktesortiment entfernt, weil sich ein Koranjünger beklagt hatte, das Muster darauf ähnele dem arabischen geschriebenen Wort „Allah“. Vergleichbare Beispiele sind mittlerweile sonder Zahl.
Gleichzeitig wird unablässig beschworen: „Islam ist Frieden“ und der islamische Terror die „Pervertierung einer grossen Religion.“ Und es wird doziert, dass nur eine „verschwindend kleine Minderheit“ der Muslime den sogenannt pervertierten, „politisch instrumentalisierten“ Islam gutheissen würde, „99 Prozent“ hingegen absolut friedlich seien. Dass man selber nicht an diese Friedfertigkeitsversicherungen glaubt, verrät die teilweise groteske Vorsicht vis-à-vis der muslimischen Gemeinschaft, der man sich nähert wie einem gefährlichen, hyperempfindlichen Wesen. Verräterisch sind aber auch die Reaktionen auf jene, die den Schweigekonsens brechen. Diese müssen nicht nur mit Todesdrohungen aus Jihadistenmilieus rechnen, sondern auch mit reflexartigen Diffamierungen durch die Linienrichter der politischen Korrektheit. Islamkritiker scheinen bei Letzteren mehr Abneigung zu provozieren als Apologeten eines herrschsüchtigen, gewaltfreudigen Islam. Als „Hass-Prediger“, „Rassisten“, „Hetzer“, “Rechtspopulisten“, „Zündler“ werden mitunter jene Intellektuellen und Kommentatoren tituliert, die den naheliegenden Schluss ziehen, dass der im Namen der koranischen Religion global verübte Terror etwas mit dieser koranischen Religion zu tun haben muss. Einen solchen Zusammenhang herzustellen, wird empört entgegnet, sei Ausdruck von „Islamophobie“, also von einem krankhaften, irrationalem Hass auf den Islam.
Der Terminus „Islamophobie“ war im Zusammenhang mit der Rushdie-Affäre von Khomeini und seinen Teheraner Strategen in den diplomatischen Diskurs eingeführt und schnell von den Politikern, Predigern und Propagandisten der übrigen islamischen Staaten aufgegriffen worden. Er dient dazu, die Muslime als ewige Opfer eines kreuzzüglerischen, kolonialistischen und rassistischen Westens darzustellen, um die eigene Expansionsbewegung als Verteidigung und karitative Schutzaktion tarnen zu können. Dann soll der Begriff, gleichsam als „semantisches Hackbeil“ (Pascal Bruckner), die Religion des Korans auch ausserhalb des islamischen Kerngebietes unantastbar machen, indem er jede Kritik an ihr als von niedersten Motiven getriebene Hetze denunziert. Und er enthält auch eine Botschaft an die in der westlichen Diaspora lebenden Angehörigen der Umma, deren Integration hintertrieben werden soll: „Fühlt euch nicht zu sicher. Auch wenn ihr glaubt, akzeptiert zu sein, für die weissen Ungläubigen bleibt ihr Menschen zweiter Klasse.“
Die Hauptbühne für diese Offensive sind seit längerer Zeit die Vereinten Nationen (Uno) und deren Agenturen. Doudou Diène beispielsweise, Uno-Sonderberichterstatter für Rassismus, beschuldigt regelmässig die westlichen Länder, ihre muslimischen Bevölkerungen zu diskriminieren und „systematische Hetzkampagnen“ gegen muslimische Intellektuelle anzuführen. „Islamophobie“, so der friedlich in einem weissen Quartier in Paris residierende senegalesische Muslim, sei „eine der gravierendsten Formen der Diffamierung von Religionen“ und gleichzusetzen mit „Rassismus“. Der Menschenrechtsrat der Uno übernahm 2007 diese hanebüchene Definition und forderte ebenfalls ein Verbot der Islamlästerung. Dass eine zur Verteidigung der Menschenrechte gegründete Institution ausgerechnet mit einem mittelalterlichen Blasphemie-Gesetz die Meinungsfreiheit unterbinden will, erstaunt allerdings nicht, wenn man die Zusammensetzung des honorigen Gremiums kennt. Die islamischen Staaten erreichen zusammen mit anderen antidemokratischen Staaten wie Kuba oder China eine Stimmenmehrheit und kontrollieren den Rat.
Erstaunlich ist eher, wie bereitwillig die absurde Mär einer grassierenden Muslimhetze auch von aufgeklärten Angehörigen der westlichen Medien- und Politeliten kolportiert wird. Millionen Muslime leben mittlerweile in Europa, unbehelligt und mit allen Rechten von Citoyens. Herrschten hier Zustände, wie der UN-Sonderberichterstatter beschwört, würden nicht weitere Millionen davon träumen und alles unternehmen, ebenfalls nach Europa auszuwandern. Wegen des Wohlstandes, aber auch weil sie wissen, dass sie hier unvergleichlich sicherer und freier leben als in ihren afrikanischen und asiatischen Herkunftsländern. Trotzdem machte der Begriff „Islamophobie“ ab den Neunzigerjahren eine steile Karriere. Journalisten benutzten ihn, weil er ihnen den Anschein von Kompetenz verlieh und weil andere Journalisten ihn auch benutzten. Anti-Rassismus- und Menschenrechtsgruppen, immer auf der Suche nach Opferklientel, zogen nach, linksgrüne Politiker ebenfalls, und allein durch die Häufigkeit der Erwähnung und weil der Name wie ein psychiatrisch-medizinischer Fachbegriff klingt, konnte der falsche Eindruck entstehen, bei der Islamophobie handle es sich um ein real existierendes, wissenschaftlich erfasstes Phänomen, ähnlich einer Grippeepidemie oder einer von der Weltgesundheitsorganisation klassifizierten psychischen Massenstörung. Vor allem aber kann derjenige, der eine angebliche westliche Islamophobie beklagt und verurteilt, damit signalisieren, dass er nichts mit jenen Zeitgenossen gemein hat, die den Propheten beleidigt oder über dessen Gott gespottet und deswegen den Zorn der Frommen auf sich gezogen haben. Die Lancierung des Kampfbegriffs Islamophobie durch die Herren des Jihad muss als erfolgreich beurteilt werden. Das geschickte Appellieren an die Schuldgefühle des Westens, wo an den Schulen gelehrt wird, sich für die eigene Geschichte und den eigenen Wohlstand zu schämen, führte, kombiniert mit der Todesdrohung für Islamkritiker, zu einer seltsamen Beeinträchtigung der Realitätswahrnehmung und einer Lähmung der natürlichen Abwehrinstinkte.
Nun kann man die Ansicht vertreten, der Islam sei eine „grosse Religion“, doch man müsste für diese Aussage auch einige Begründungen liefern. Es gibt 57 islamische Staaten. Die meisten sind brutale Diktaturen oder tribale Staatsruinen, nur gerade drei sind halbe, prekäre Demokratien. Gewalt und archaisch-patriarchale Ehrvorstellungen prägen die privaten und gesellschaftlichen Beziehungen, Frauen haben in vielen dieser Länder den Status von Haustieren. Die wirtschaftliche Produktivität im islamischen Kulturkreis ist grösstenteils anämisch, die wissenschaftlich-kulturelle Situation eine trostlose Wüste. Dies hängt auch damit zusammen, dass vor bald tausend Jahren die politisch-religiösen (hauptsächlich sunnitischen) Eliten beschieden hatten, das göttliche Rechtssystem der Scharia sei vollendet, alle relevanten Fragen des menschlichen Zusammenlebens gestellt und von den vier grossen Rechtsschulen in ihren Grundprinzipien beantwortet. Sie hatten beschlossen, die „Tore des Ijtihad“, die Praxis der selbständigen Rechtsfindung, zu schliessen. Neugierde, Forscherdrang, die Bereitschaft, den intellektuellen Horizont zu erweitern, gerieten unter gefährlichen Ketzerverdacht; dogmatische Versteinerung, knöcherne Scholastik und geisttötender Konformismus machten sich stattdessen breit und lähmen bis heute eine freie geistige Auseinandersetzung und Entwicklung.
Zum Vergleich: Weltweit leben zirka vierzehn Millionen Juden, was der Einwohnerzahl von New York City entspricht. Juden gewannen 179, das heisst einen Viertel aller Nobelpreise in Chemie, Physik, Medizin und Wirtschaft. Die muslimische Gemeinschaft umfasst 1.4 Milliarden Angehörige. In den letzten hundert Jahren gingen gerade zwei Nobelpreise in diesen Disziplinen an Muslime. Zwei weitere erhielten sie in der Sparte Literatur. Einer der Geehrten ist der ägyptische Romancier Nagib Mahfuz. Nachdem er ausgezeichnet worden war, überlebte er in den Neunzigern mit Glück die Messerattacke eines frommen Eiferers. Ein einflussreicher islamischer Geistlicher hatte eine Todesfatwa gegen Mahfuz erlassen. Der andere Literatur-Laureatus, der Türke Orhan Pamuk, wird von den Zeitungen seines Landes auch mal als „Hund“ oder „elende Kreatur“ bezeichnet und muss mit der ständigen Bedrohung leben, ins Gefängnis gesperrt oder wie Mahfuz Angriffsziel eines besonders wortgläubigen Koranjünglings zu werden.
Was ist „gross“ an einer Religion, in deren Einflussbereich freies Denken, andere Glaubensbekenntnisse, aber auch Spiritualität, die von den Vorgaben einer petrifizierten Tradition nur leicht abweicht, notorisch verfolgt und erstickt werden und verkümmern? Die hiesigen Liebhaber des Islam bleiben eine Antwort schuldig. Ebenso wie sie nicht verraten, wie sie auf die wie ein Mantra repetierte Zahl von „99 Prozent friedfertiger Muslime“ kommen. Dabei wäre es einfach, sich über die wirklichen Zahlen zu informieren. Sämtliche Umfragen von London bis Karachi zeigen seit Jahren eine grosse und konstante Zahl von zwanzig bis vierzig Prozent aller Muslime, die den neuen Terrorismus in der einen oder anderen Form billigen (siehe z.Bsp. The Religion of Peace: Opinion Polls). Das ist keine Mehrheit, aber auch keine „verschwindend kleine Minderheit“. Das sind immerhin einige hundert Millionen Koran-Anhänger auf allen Kontinenten, von denen die meisten zwar nicht selber Bomben bauen, aber die das Hinterland für die Jihadisten bilden, jenen safe space, in dem diese untertauchen und sich unbehelligt organisieren können.
Die servile Preisung des Islam als Friedensmacht durch die meist religionsfernen linksliberalen, „weltoffenen“ Eliten; der Versuch, Kritik am System Islam zu unterbinden, indem man dessen Kritiker verunglimpft; die Rücksichtnahmen, Entschuldigungen, Anpassungen, die man beflissen und unaufgefordert den angeblich von Islamophobie bedrohten Muslimen gegenüber leistet – hinter dem ganzen säuselnden Quietismus verbirgt sich die nervöse Furcht vor weiteren Anschlägen, vor der Reizbarkeit einer in den meisten westlichen Ländern stetig wachsenden muslimischen Community, vor einer Reizbarkeit, der man zutraut, jederzeit in aktionistische Wut umzuschlagen. Auf keinen Fall negative Aufmerksamkeit auf sich lenken, nur keine „friedfertigen“ Gläubigen verärgern oder gar „unnötig provozieren“. Am liebsten würde man es verbieten, Terror und Islam in einem Atemzug zu nennen. Obama, aber auch die damalige britische Innenministerin Theresa May haben es vorgemacht. Sie und deren Administrationen benutzten im Zusammenhang mit Anschlägen nie Begriffe wie „radikaler Islam“ oder „jihadistischer Terror“, sondern sprachen durchgehend von „radikalem Fundamentalismus“ oder „gewalttätigem Extremismus“ oder „menschengemachter Katastrophe“. Die religiös-ideologische Motivation der Täter, das „I“-Wort, wurde in Orwellscher Manier zum Verschwinden gebracht.
Die Duckmäuserei des Westens, seine Schmeicheleien, die kindischen Gedenkfeiern für die Opfer jihadistischer Massaker, sein Beschwören jenes mysteriösen, angeblich heilenden „interreligiösen Dialogs“, für den sich ausser den teilnehmenden Theologen, Experten und dubiosen Imamen kein Mensch interessiert, ein Beschwören, das nach jedem neuen Anschlag noch weltfremder und flehender klingt: All das wird in der islamischen Sphäre genau registriert und in den radikalen politreligiösen Machtzentren mit Genugtuung aufgenommen. Dort nimmt man das westliche Verhalten als Verhandlungsangebot eines tödlich geschwächten, um Gnade bettelnden Feindes wahr, dessen Angstschweiss man förmlich zu riechen glaubt. Wer im Schatten des Korans aufwächst, hat eine geschärfte Wahrnehmung für die Wirkungen brachialer Gewalt auf Menschen. In der Welt der Moscheen und der patriarchalen Stammesgesellschaften dominiert das archaische Gesetz der Scharia. Als religiös legitimiertes System fordert es totale Unterwerfung. Gesetzesbrecher werden ausgepeitscht, verstümmelt, gesteinigt, geköpft. Kritik an den schariatischen Ordnung wird als Abfall vom Glauben doppelt bestraft: Mit dem Tod im Diesseits und mit ewigem Höllenfeuer im Jenseits. Der Islam kennt sich aus mit Furcht und Zittern. Sie sind Teil seines genetischen Erbes.
Mohammed, der Stifter des Islam, war nicht nur Allahs Prophet, sondern auch gefürchteter Warlord, Karawannenräuber, Blutrichter. Als er 632 starb, nur rund zwanzig Jahre nachdem ihm der Erzengel Gabriel zum ersten Mal erschienen war, hatte er die ganze arabische Halbinsel erobert. Allein in seinen letzten acht Lebensjahren befehligte er 80 Kriegs- und Beutezüge. Die heidnischen, christlichen und jüdischen Stämme und Gruppen, die sich den Truppen der neuen Religion entgegenstellten, waren verjagt oder ausgelöscht, deren Eigentum als Beute konfisziert, deren Frauen und Kinder versklavt worden. Wer sich kampflos ergab, wurde eventuell am Leben gelassen, musste aber ein hohes jährliches Schutzgeld entrichten und lebte als Dhimmi, als zweitklassiger Bürger ein Leben der Erniedrigung. Mohammeds Nachfolger setzten die aggressive Expansionspolitik effizient fort. Schon 120 Jahre nach dem Tod des Propheten herrschte die Pax Islamica von Spanien bis an den Indus.
Elias Canetti nannte in seiner epochalen Abhandlung „Masse und Macht“ den Islam eine „Kriegsreligion“, für deren Anhänger der Kampf gegen die Ungläubigen „Schicksal“ sei und „heilige Pflicht“. Tatsächlich liest sich der Koran über weite Strecken wie ein Handbuch des Krieges gegen die ungläubigen Feinde. Er regelt die Verteilung der Beute, die Gebetszeiten während der Kampfhandlungen, den Umgang mit Kriegsgefangenen, darunter das Recht auf Sex mit weiblichen Gefangenen, sichert den Gotteskriegern im Falle des Todes den besten Platz im Paradies zu, bestimmt detailliert, wer von der Teilnahme am Jihad, dem Heiligen Krieg, dispensiert ist (beispielsweise Lahme und Blinde), gibt konkrete Kampfanweisungen. „So hackt ein auf ihre Hälse und haut ihnen jeden Finger und Zehen ab.“ (Sure 8:12) Und wiederholt wird als Grund für gewonnene Schlachten genannt, dass dem Feind „Schrecken in die Herzen“ geworfen worden sei. Wie im Fall der Banu Nadir, einem bedeutenden jüdischen Stamm, der von Mohammeds Kriegern belagert wurde, und dessen Panik so angewachsen sei, bis er widerstandslos in seine Vertreibung einwilligte und sogar bei der Zerstörung der eigenen Heimstätten mithalf. „Ihr glaubtet es nicht, dass sie hinausziehen würden, und sie glaubten, dass ihre Burgen sie vor Allah schützen würden. Da aber kam Allah zu ihnen, von wannen sie es nicht vermuteten, und warf Schrecken in ihre Herzen. Sie verwüsteten ihre Häuser mit ihren eigenen Händen und den Händen der Gläubigen. Darum nehmt es zum Exempel, ihr Leute von Einsicht.“ (Sure 59:2)
1400 Jahre vor der Schöpfung des Begriffs „Stockholm-Syndrom“ legen die sakralen Texte des Islam Zeugnis davon ab, wie genau seine Gründerväter dieses Phänomen kannten und wie bewusst sie es als Mittel der Eroberungs- und Machtpolitik einsetzten. Auch in der frühesten Mohammed-Biographie aus dem achten Jahrhundert, „Sira Rasul Allah“ (Das Leben des Propheten Allahs) von Ibn Ishaq, wird eine Episode geschildert, die wie ein Fallbeispiel zur Psychodynamik von Geiselopfern gelesen werden kann.
„Der Gesandte sagte: <Tötet jeden Juden, der in eure Hände fällt.> Daraufhin fiel Muhayyisa bin Masud über Ibn Sunayna her, einen jüdischen Kaufmann, mit dem er freundschaftliche und geschäftliche Kontakte hatte, und tötete ihn. Huwayyisa, der ältere Bruder von Masud, der noch kein Muslim war, schlug ihn, und sagte: <Du Feind Gottes, hast du einen Mann erschlagen, von dessen Wohlstand das meiste Fett an deinem Leib herrührt?> Masud antwortete: <Bei Gott, ich habe es auf Befehl eines Mannes getan, dem ich auch gehorchen würde, wenn er deinen Kopf von mir verlangte.> Da sagte Huwayyisa: <Wenn dem so wäre, und ich würde mich nicht zum Islam bekehren, würdest du mich auch töten, wenn es von Mohammed befohlen würde?> Und als diese Frage bejaht wurde, rief er aus: <Bei Gott, eine Religion, die dich so weit bringt, ist wunderbar>, und er wurde auch Muslim.“ (Gustav Weil, Das Leben Mohammeds nach Muhammed Ibn Ishak, 2. Band, S. 9)
Die Erzeugung von Angst als strategisches Element der militärischen Glaubens-Expansion gehört zum islamischen Herrschaftswissen und wird in der muslimischen Literatur über die Jahrhunderte immer wieder erläutert. Nach dem Vorbild Mohammeds unterwarfen die nachfolgenden Kalifen und Heeresführer Länder, in denen sie einer feindlichen, anfänglich überwiegend nicht-muslimischen Bevölkerung gegenüber standen. Eine der Ursachen ihres imperialen Erfolgs sahen sie in der systematischen Anwendung von Brutalität und Grausamkeit, jene durch die kanonischen Schriften geheiligten und in der Praxis bewährten Mittel.
So zum Beispiel der Historiker Al-Maqqari aus dem nordafrikanischen Tlemcen des 17. Jahrhunderts, Verfasser einer Geschichte der mohammedanischen Dynastien in Al-Andalus, heute Spanien und Portugal. Er beschrieb, wie der schonungslose Terror der arabischen Reiter und Seeleute die spätere muslimische Eroberung der iberischen Halbinsel erleichtert habe: „Allah, auf diese Weise wurde eine solche Angst unter den Ungläubigen gesät, dass sie es nicht wagten, sich zu rühren und gegen die Eroberer zu kämpfen; nur als Bittsteller näherten sie sich diesen und bettelten um Frieden.“
Nach derselben Handlungsfolie gehen die radikalen Gruppen des heutigen Neo-Islam vor, Boko Haram, Al-Kaida und Ableger, Islamischer Staat, Hamas, Hisbollah, Al-Shabaab, Jemah Islamiya, Lashkar-e Taiba und wie sie alle heissen. Aus der Geschichte ihrer Religion haben sie gelernt: Terror funktioniert. Zuerst unterwerfen sich die Gegner aus Angst und später verwandelt sich die Angst der Unterworfenen in Treue. „Gewalt ist segensreich“, schreibt Abu Bakr Naji, ehemaliger Chefdenker von Al-Kaida in seinem Strategiepapier „The Management of Savagery“ (Die Verwaltung der Barbarei, 2004), und verweist auf die Strategie der ersten beiden Kalifen nach Mohammeds Tod 632 n. Chr., als es darum ging, das junge Reich zusammenzuhalten. „Sie verbrannten Leute bei lebendigem Leib, obwohl dies abscheulich ist. Aber sie wussten um die Wirkung von roher Brutalität in Zeiten der Not.“ Abu Bakr Naji und seine Glaubensgenossen sind dabei überzeugt, dass sie letztlich gewinnen werden. „Der Westen hat nicht den Magen für einen langen Kampf.“
Bis jetzt spricht einiges dafür, dass Naji und Konsorten Recht bekommen könnten. Militärisch ist der Westen den todesbereiten Freischärlern Allahs zwar unendlich überlegen, seine Schwäche liegt jedoch im mentalen Bereich. Der auf Pazifismus und Therapie statt Strafe gestimmte säkulare Zeitgenosse kennt keine Kategorie des Bösen mehr. Die Vorstellung einer Hobbes’schen Welt des Kampfes um Dominanz ist ihm zuwider. Bilder des Horrors und der Grauens hält er nicht aus und reagiert darauf mit Lähmung, Verdrängung, Appeasement und Flucht in Utopien. Der Westen bräuchte Politiker vom Format eines Churchill, die den Charakter des neoislamischen Blut- und Todeskultes erkennen und benennen und die Sicherheit vermitteln, dass man sich niemals erpressen lassen wird. Die üblichen Stillhalte-Appelle nach Anschlägen und die gouvernantenhaften Aufrufe, dem Hass nicht mit Gegenhass zu begegnen, verstärken nur die Angst und die Ohnmachtsgefühle der Bevölkerung oder nähren gefährliche Selbstjustizphantasien. Jeder ahnt, dass man mit frommer Denkungsart nicht gegen Rucksackbomben und Sprengstoffgürtel ankommt. Diese zu entschärfen und deren Träger zu eliminieren ist Aufgabe des Staates. Nur dieser verfügt über die entsprechenden harten Werkzeuge: professionelle Anti-Terror-Einheiten, mit robusten Kompetenzen ausgerüstete Geheimdienste und intelligente Einwanderungs- und Asylgesetze, die auch vollstreckt werden. Erhöhter und gezielter Druck muss auf jene Muslime ausgeübt werden, die den Terror passiv unterstützen.
Einer der Bataclan-Attentäter beispielsweise, der aus der Brüsseler Gemeinde Molenbeek stammende Salah Abdeslam, konnte sich während vier Monaten in seinem muslimisch dominierten Heimatviertel, nur dreihundert Meter von seinem Elternhaus entfernt, erfolgreich verstecken, obwohl die belgischen Fahnder fieberhaft nach ihm suchten. Familie, Freunde, Nachbarn, Bekannte, Bekannte von Bekannten, bestimmt über hundert Leute mussten von seinem Aufenthaltsort gewusst haben, aber niemand verriet den Massenmörder an die Behörden. Dies lässt das Ausmass der moralischen und kulturellen Entfremdung der muslimischen Community von der übrigen westlich geprägten Gesellschaft erahnen. Und es verweist auch auf die Macht, über die radikale Imame und muslimische Gangs in vielen urbanen Gettos und No-Go-Zonen mittlerweile verfügen. Es ist anzunehmen, dass einige der Mitwisser die Taten von Abdeslam und Konsorten nicht guthiessen, aber aus Angst vor der Rache der Radikalen und deren Unterstützern von einer Meldung an die Behörden absahen. Will der Staat die Kontrolle über die Gettos zurück gewinnen, muss er sich Respekt verschaffen. Wer von den Angehörigen oder Freunden von Radikalmuslimen nicht mit den Sicherheitskräften zusammenarbeitet und Informationen verweigert, macht sich mitschuldig am Terror und gewärtigt Ausschaffung oder ähnlich schmerzhafte Sanktionen. Die Angst vor den Zwangsmitteln des Rechtsstaats muss grösser sein als die Angst vor den radikalen Netzwerken, welche die muslimischen Milieus längst infiltriert haben.
Primäre Voraussetzung aber, um den Krieg zu gewinnen, den die jihadistischen Barbaren eröffnet haben, wäre die Überwindung des Stockholm-Syndroms. Der Westen müsste sich aus seiner passiven und schuldzerknirschten Haltung befreien und einen gutartigen Chauvinismus entwickeln, einen Stolz, der vielleicht grossartigsten Zivilisation anzugehören, einer Kultur, für die es sich lohnt, mit allen gebotenen Mitteln zu kämpfen.