Basler Zeitung

31.07.2014

Wilhelm Tell, schwarz, glaubwürdig, hinreissend

Selten wurde das Schweizer Nationaldrama besser verstanden als in Westafrika

Von Eugen Sorg

Abidjan. Es ist wie eine Attacke aus dem Hinterhalt, sie trifft mich unvorbereitet und schutzlos. Ich schlendere durch die Gänge der Hochschule der Künste im westafrikanischen Abidjan, einer kleinen Anlage aus Bungalows mit schimmeligen Fassaden, wo das Theaterstück «Wilhelm Tell» aufgeführt werden soll, als plötzlich der Schweizer­psalm ertönt. Laut, raumfüllend, majestätisch. Bereits beim dritten Akkord läuft mir ein Schauer den Rücken hinunter und schiesst mir das Wasser in die Augen. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Eine ähnliche Rührung habe ich letztmals vor langer Zeit verspürt, als kleiner Junge, wenn bei Spielen der Schweizer Nationalmannschaft die schwerblütige Jäger- und Sennen­Hymne abgespielt wurde. Nun ist das Gefühl wieder zurückgekehrt. Ich hoffe, dass mich niemand beobachtet.

Der kleine Theatersaal beginnt sich langsam zu füllen. Leute stehen herum, andere gesellen sich hinzu, man begrüsst sich freudig, plaudert, die Stimmung ist locker. Mittlerweile läuft afrikanische Musik, leichter, rhythmischer Sound. Der Regisseur des Stücks, Pépin Amani, ein zirka vierzigjähriger Ivorer mit rundem, gemütlichem Gesicht und wachen Augen, kommt hinter der Bühne hervor. Ich hatte ihn am Nachmittag kennengelernt, und er steuert lachend auf mich zu und legt unterwegs spontan ein paar raffinierte Tanzschrittchen hin. Die Feierlichkeit, die während des Abspielens der Hymne für einen Moment geherrscht hatte, ist wie weggeblasen. Dies soll das Motto des Theaterabends bleiben: Pathos, das unvermittelt in ­Komik umschlägt, Schwere, die sich in Gelächter auflöst, Heldentum, das sich als Maulheldentum entlarvt.

Aus tiefstem Herzen Patriot

Die vorderen Ränge, auf denen die wichtigen Leute sitzen, darunter zwei Ex-Minister mit Ehefrauen, diverse Damen aus dem Kulturdepartement, zwei oder drei Polizeioffiziere, sind besetzt. Nur ein Stuhl ist noch leer, der Stuhl des Schweizer Botschafters und Ehrengastes David Vogelsanger. Seine vierjährige Mission in Abidjan geht in diesen Tagen zu Ende. Ihm zuliebe wird Tell gespielt, ist es doch ihm zu verdanken, dass das Stück überhaupt aufgeführt wird. Er hatte dafür gesorgt, dass die seit den ivorischen Bürgerkriegswirren verwahrloste Kunstschule zuerst einen neuen Raum für die Instrumente bekam und danach der Theatersaal renoviert wurde.

Eine Bedingung hatte er Direktor Tiburce Koffi, mit dem er befreundet ist, halb im Scherz, halb ernsthaft gestellt. Dieser müsse als Gegenleistung das schweizerische Nationaldrama «Wilhelm Tell» zur Aufführung bringen, erstmals auf dem afrikanischen Kontinent. Denn der 60-jährige Vogelsanger ist nicht nur Historiker und Kunstliebhaber, sondern auch aus tiefstem Herzen Patriot. Koffi willigte freudig ein. Er ist einer der bekanntesten Schriftsteller seines Landes und kennt und liebt Friedrich ­Schillers Guillaume Tell ebenfalls. Die Premiere war vor einem Monat, heute ist die zweite Performance.

Vogelsanger trifft mit der für Autoritätspersonen gebotenen Verspätung ein, der Saal erhebt sich, einige Reden werden gehalten, rhetorische Meisterleistungen der Danksagung und der warmherzigen Lobhudelei, wie es nur Afrikaner vermögen. Dann öffnet sich endlich der Vorhang und es wird still im Raum.

Mitglieder des jungen Ensembles, das ausschliesslich aus Schauspiel­studenten besteht, führen in das Stück ein, stellen Guillaume Tell vor, den «schweizerischen Nationalhelden», ein «einfacher Bauer» und couragierter Kämpfer für die «Freiheit» und «Unabhängigkeit», der sich geweigert hatte, sich vor dem Hut der österreichischen «Kolonialisten» zu erniedrigen und dafür gezwungen wurde, einen Apfel vom Kopf des Sohnes zu schiessen; sie erzählen vom Tyrannen Gessler, der Burg Zwing Uri und den brüderlichen Kantonen. Das Intro ist kurzweilig, präzis, ­informativ, vorgetragen von Einzelnen oder in dynamischen Chorgesängen. Die Inszenierung orientiert sich eng am Originalwerk, die historischen schweizerischen Schauplätze und Namen werden beibehalten, «Kussnascht», «Stofascher», «Edwige».

Überzeugend ist die Leistung Tells. Urkomisch, wie der in roter Hose und weisser Bluse, in die helvetischen Landesfarben gekleidete Beau sich von Stauffacher und anderen bitten lässt, sich dem Aufstand gegen die unterdrückerischen fremden Vögte anzu­schliessen; wie er sich ziert und sich rar macht und wie hinter dem von seinen Innerschweizer Zeitgenossen verehrten tollkühnen Jäger für einen Augenblick die Charakterkonturen einer eitlen ­Alpendiva aufscheinen. Das Publikum lacht laut auf, als er seine Abstinenz begründet: «Der Stärkste ist am mächtigsten allein.» Das berühmte Diktum hört sich an wie eine windige Ausrede und nicht wie eine philosophische Weisheit.

Das Mitgefühl des Saales gewinnt Tell wiederum, als er die Qualen des ­Vaters mimt, der kurz davor steht, zum unfreiwilligen Mörder seines Sohnes zu werden. Sein Leiden und seine Verzweiflung wirken glaubwürdig und gehen ans Herz. Dass man nicht im Tal der Tränen versinkt, verdankt man dem Sohn Walter. Der Darsteller, ein klein gewachsener, aber überaus athletischer junger Mann, spielt derart gnadenlos treuherzig den fragenden Kulleraugen-Buben Walterli, dass jede Trauer sofort verfliegt. Allein sein Gesicht zu sehen, löst Heiterkeit aus. Zweifelsfrei ein ­Komiker-Talent.

Hinreissend gespielt wird auch Gess­ler. Herumstolzierend in einer blauen Uniform, die an ein Gardekleid aus französischer Vergangenheit erinnert, verströmt er eine blasierte, arrogante und unterschwellig sadistische Herrenmenschen-Aura. Die nobel gespreizte und allzu bemüht feine Aussprache verraten aber den Wichtigtuer. Unter der Maske der Macht hockt der Poseur. Die Zuschauer belohnen den Auftritt mit glucksenden Lachern.

Urtheater ohne Schnickschnack

Aufgrund der beschränkten Auswahl an Schauspielschülern müssen die meisten von ihnen drei oder vier verschiedene Rollen besetzen. Um Verwechslungen möglichst auszuschliessen, reden sie in den jeweiligen Rollen in unterschiedlichen Dialekten, mit italienisch oder englisch oder spanisch oder deutsch eingefärbter Aussprache. Was als Notübung aufgezwungen worden war, entfaltet auf der Bühne eine eigene humoristische Wirkung.

Es ist Theater mit den elementarsten Mitteln: Eine schlichte Bühne, kaum Requisiten, nur ein paar Tücher, mit ­denen man abwechslungsweise Wellen, eine Berglandschaft, eine Wiese sym­bolisieren kann. Urtheater ohne Dekorbombastik und Dramaturgie-Schnickschnack, dafür mit Erzählfreude, Spiellust und Regiewitz. Im Moment, als Tell von Gesslers Schergen in ein Boot verfrachtet wird, um ihn für immer via «Kussnascht» in einem Burgverlies verschwinden zu lassen, wird die Film­musik von «Titanic» eingespielt – eine unbezahlbarer Einfall. Oder die explodierende Freude nach dem Tod des Tyrannen Gessler und dem Schleifen der Burg Zwing Uri: Das befreite Volk tanzt und schuhplattelt zu den Klängen eines entfesselten Jodels, eines Techno-Jodels, den irgendjemand aufgetrieben hat in der Meinung, dabei handle es sich um typisch schweizerisches Liedgut. Auch wenn man weiss, dass solcherart Amüsement nur in bayrischen Festhütten stattfindet, und auch wenn das Volk aus nur sieben Darstellern besteht, trübt dies den Schaugenuss nicht. Am liebsten würde man selber auf die Rampe springen und in den Jubel einstimmen.

Ein Sausen und Brausen

Es ist die herrlichste Theatervorstellung, die ich seit Jahren gesehen habe. Keine Spur von Zynismus, snobistischer Esoterik oder kultureller Affigkeit, wie sie auf den deutschsprachigen Bühnen allzu häufig zelebriert werden, dafür ­Lebensenergie, unverklemmte Spielfreude – aber auch Ernsthaftigkeit. Tells Botschaft: Freiheit und Selbstbestimmung, wurde aufgenommen und auf wundersame Art vitalisiert – weder unter Klamauk begraben noch weltanschaulich verbiestert noch ironisch tiefgefroren.

Zum Abschluss versammelt sich das Ensemble und das Hochschulorchester auf der Bühne. Tell auf einem Podest, feierliches Gesicht, in den Händen eine grosse Schweizer Fahne. Ein Dirigent taucht auf und schwingt den Baton. Die ersten Töne erklingen. Der Schweizer­psalm. Alle stehen auf, ein Sausen und Brausen erfüllt den Saal, Posaunen, ­Flöten und Geigen weinen, der Gesang ein vielstimmiger Engels-Choral. Vogel­sanger, in bolzengerader Haltung, Hände an der Hosennaht, singt Wort für Wort mit. Rütlischwur in Westafrika. Noch nie hat die Nationalhymne so schaurig schön geklungen. Hätte die Schweizer Nationalmannschaft so gut gesungen wie dieser Chor in Abidjan, schiesst mir durch den Kopf, wäre sie Fussballweltmeister geworden. Wieder stellt stellt sich diese Rührung ein und ein kindliches Gefühl von Stolz.

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