Basler Zeitung

01.03.2013

Körperwelten – Das Sein und das Nichts

Der Plastinator des Todes

Von Eugen Sorg

Guben liegt am östlichen Rand Deutschlands, direkt an der Grenze zu Polen. Grösster Arbeit­geber in der heruntergekommenen Kleinstadt war bis vor Kurzem die Plastinate GmbH des Heidelberger Anatomen Gunther von Hagens, auch «Dr. Tod» genannt. Bis zu 220 Angestellte waren zeitweise in der ehemaligen Tuchfabrik damit beschäftigt, unter Anleitung von Hagens ­Menschen- und Tierleichen einzufrieren, zu ­zerschneiden, zu plastinieren und zu warten. Die Produkte wurden im «Plastinarium» in der eigenen Fabrik und in «Körperwelten» genannten Ausstellungen auf der ganzen Welt gezeigt und an Institute verkauft.

Vor drei Jahren gab von Hagens bekannt, dass er an einer fortschreitenden Parkinson-Erkrankung leide. Er konnte in der Produktion nicht mehr ­selber Hand anlegen und musste den Vertrieb der Plastinate seinem Sohn abgeben. Die Krankheit kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Der Umsatz mit den Leichenpräparaten war zurückgegangen, wegen schwindenden Interesses, aber auch wegen wiederholter Skandale, und die Grossmanufaktur hätte den vollen Einsatz des umtriebigen Inhabers und Strategen nötig gehabt. Stattdessen mussten zwei Drittel des Personals entlassen werden.

1977 hatte der damals 32-jährige Mediziner ein Verfahren entwickelt, natürliche Verwesung von Körpern nachhaltig zu stoppen. Organe legte er in Formalin ein und löste ihnen mit Aceton Wasser und Fett heraus. Anschliessend ersetzte er das Aceton in einer Vakuumkammer durch flüssigen Kunststoff und härtete das plastinierte Teil mittels UV-Licht oder erhitztem Gas.

Was mit Konservierung von einzelnen Nieren oder Lebern begann, weitete er auf den ganzen Körper aus, die Methoden unermüdlich verbessernd. 1995 organisierte er in Japan die erste Präsentation von «Körperwelten» mit vier menschlichen Ganzkörperpräparaten. Weitere, grössere Ausstellungen folgten in Asien, Europa, in den USA, ein anatomischer Wanderzirkus, eine morbide Welttournee mit ästhetisch perfekt gestalteten, aber toten Hauptakteuren und 35 Millionen Schau­lustigen. Den meisten Besuchern dürfte es ähnlich gegangen sein: Faszination und Grusel oder Abscheu wichen bald dem Gefühl der Langeweile oder der Leere. Die Plastinate hatten keine Botschaft, keine Wahrheit, kein Geheimnis. Sie standen nur für sich selbst, in Kunststoff überführte Körpermaschinen, geronnen im Zustand zwischen Tod und Zerfall. Von Hagens, ebenso geschickt als Präparator wie als Verkäufer, pries seine «Körperwelten» an als einen «Ort der Aufklärung und der inneren Einkehr», «philosophischer und religiöser Selbsterkenntnis». Mit unschuldigem Hundeblick erklärte er, seine Schau sei kein «postmortaler Schönheitssalon», sondern zeige «den Körper als besten Repräsentanten der Seele, der sich dem Besucher deutungsoffen entgegenstellt». Aber er ahnte selber, dass dies hohle Worte waren. Um die Aufmerksamkeit des zahlenden Publikums aufrechtzuerhalten, musste er die Reizdosis ständig steigern, und er begann, die Plastinate auf immer gewagtere Art zu inszenieren und die moralische Provokation zu suchen.

Er liess eine Pokerrunde aus dem James-Bond-Film «Casino Royale» nachstellen, mit plastinierten, gehäuteten Leichen, und stellte sie in seinem Gubener Plastinarium aus. In Frankfurt wollte er den Event «Nackte Nächte» durchführen. «Gut gebaute, hüllenlose Models» sollten «anonymisiert» durch Augenmaske mit den Präparaten ­auftreten und den Vergleich «zum Plastinat demonstrieren». Die Stadt verbot den Anlass, und der Anatom beklagte diesen Eingriff in die «Wissenschaftsfreiheit».

Pünktlich auf Ostern kreierte er einen plastinierten, gekreuzigten Christus und behauptete unbescheiden, das Werk stünde in der Tradition künstlerischer Kreuzigungsdarstellungen eines Michel­angelo oder Leonardo da Vinci und sei «Ausdruck wahrer christlicher Werte». Weil er ein mit allen anatomischen Details präpariertes, kopulierendes Paar an einer Ausstellung in Augsburg nicht ­zeigen durfte, wickelte er es in Gold­folie ein und zeigte es so trotzdem. In der Fernsehsendung «Aeschbacher» versicherte er dem Moderator zu dessen Amusement treuherzig, er habe mit dem Liebesakt einen Beitrag zur Aids-Aufklärung ­leisten wollen. Von Hagens expandierte aber nicht nur inhaltlich, sondern auch quantitativ. Er ging dazu über, Pferde, Wale und ganze Elefanten zu plastinieren. Die Elefantenkühe Samba und Chiana landeten als Schau-Exponate in ­«Körperwelten der Tiere».

Kirchenvertreter und religiöse Gemüter empörten sich über die Aktivitäten von Hagens’. Sie warfen ihm «Verletzung der Totenruhe», «Leichenschändung», «zynisches Brechen von Tabus» vor. Aber auch viele nicht religiöse Zeitgenossen empfanden sein Ausstellungswerk instinktiv als abstossend und unecht. Der Tod bleibt ein unlösbares Rätsel. Niemand weiss, was nach ihm kommt. Es ist prinzipiell unmöglich, sich das Nichts zu denken und vorzustellen. Der Tod birgt einen Schrecken, den schon Tiere erahnen und der die Menschen durch alle Kulturen und Zeiten begleitet. Seine Präsenz erzeugt Scheu und Stille.

Die manierierten Auftritte des laut Eigenbezeichnung «öffentlichen Erlebnisanatomen», «Robin Hood der Anatomie», «Künstlers», «Aufklärers»; die Fotos, auf denen er zwischen den Plastinaten hindurch Faxen macht; seine Arrangements mit Menschenkörpern, als wären es Puppen; die Ungerührtheit, mit der er Leichen zerschnitt, neu zusammensetzte und zu lustigen Formationen gruppierte – all dies erweckte den Eindruck von Frivolität und Verblendung. Der Geschäftsmann von Hagens mit dem ewigen Hut als Firmenbrand hatte seine Produkte auch öffentlich zum Verkauf angeboten: «Kollektion von 16 transparenten Horizontalscheiben Mensch (Kopf, Hals, Rumpf, Extremitäten) Standardqualität (zerbrechlich): 1400 Euro. Robust-Qualität (unzerbrechlich): 2800 Euro».

Vielleicht lehrt der Tod den Anatomen jetzt, wo er wegen der zitternden Hände kein Skalpell mehr führen kann, wo er kurz davor steht, selbst zum Plastinat verarbeitet zu werden, wie er es verfügt hat, vielleicht lehrt ihn der grosse Meister Tod zum ersten Mal, dass man sich über ihn nicht ­lustig macht. Lehrt ihn, was Demut heisst.

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