







«Das Magazin»
20.02.1999
Verhext
Die Geister sind überall in Schwarzafrika. Sie wollen bedient, befriedigt und bekämpft sein. Andernfalls drohen den Menschen Krankheit, Tod und Verderben. Also bezahlen sie mit viel Geld die Heiler. Die Hexerei ist ein wichtiger Grund für die wirtschaftlichen Probleme Afrikas.
Von Eugen Sorg und Nathan Beck (Bilder)
Die Luft im Zimmerchen war heiss und stickig, und das zweite Huhn fast nicht totzukriegen. Normalerweise setzt Coulibaly das Messer beim Hals an, aber diesmal packte er das Federvieh bei der Kehle und fing an, zwischen dem Schnabel zu säbeln. So sei das Opfer stärker, erklärte er. Es war nicht einfach, die knorpligen Knochen durchzutrennen, und das Huhn gluckste und röchelte, bis sein Kopf endlich kraftlos nach unten klappte und nur noch das Flattern der wild weiter zuckenden Flügel zu hören war. Coulibaly drehte das Tier um und träufelte Blut auf einen silbrigen Ring, der auf einem Stück Papier am Boden lag. Das Papier hatte er mit Strichzeichen bemalt, einer Art Geheimschrift. Dann schmierte er mit dem blutenden Hals über die drei Holzfiguren, seine drei Fetische, die er in einer Linie vor sich aufgestellt hatte, und pappte auf diese weissen Flaum, den er dem Opfertier ausrupfte. Als er damit fertig war, legte er die tote Henne neben sich. Es wirkte irgendwie grotesk, als diese plötzlich wieder zu zappeln begann, auf die Beinchen kam und, der Kopf an einem Hautfetzen baumelnd, federnstiebend zwischen die Fläschchen, Blechdosen, Kräutertöpfchen raste, die um die Fetische herumstanden. Coulibaly lachte kurz, ein trockenes, abgebrühtes Lachen, steckte das Tier in einen Tontopf, schaute mich an und sagte: Siehst du, die Geister sind stark.
Coulibaly ist Féticheur, Heiler in Abengourou, einer Stadt im Regenwald der westafrikanischen Elfenbeinküste. Aufgewachsen ist der 35-Jährige in Mali, in einer Region, die seit Jahrhunderten standhaft jeder Islamisierung, Christianisierung und Alphabetisierung widerstanden hat. In einer vollheidnischen, mit allem Hühnerblut gewaschenen Region sozusagen. Sein Totemtier ist der Löwe, und wie dieser liebt er Fleisch und meidet das Wasser. Er zog als Wirtschaftsemigrant mit seinen zwei Frauen und drei Fetischen zuerst nach Guinea. Dann übersiedelte er in die reichere Elfenbeinküste, wo er seit vier Jahren praktiziert. Zu seinen Klienten gehören der Bürgermeister, ein Minister und ein reicher Busunternehmer. Er kennt sich aus mit Geistern, er hat die Gabe des Sehens. Die grossen Vögel, die man in der Dämmerung im Baum draussen sitzen sieht, könnten Hexen sein. Sie fangen einen ein, wenn man schläft, und sie fressen einen auf. Hexen und Geister sind kapriziös, verschlagen, schädlich und schier unersättlich, und ihre Zahl ist unermesslich. Vor allem in Schwarzafrika. Leute vom Berufsstand Coulibalys wissen, wie man sich gegen diese schützt.
Als ich mit Coulibaly eine Konsultation vereinbaren wollte, hatte er ein unverschämt hohes Honorar angesetzt. Reiche Leute haben stärkere Geister, hatte er erklärt, und diese haben einen grösseren Appetit. Und als Weissen rechnete er mich selbstredend zu den Reichen. Ich suchte nach Gegenargumenten, aber mir fielen keine ein. Ein Rind sei angebracht in meinem Fall, hatte er weiter gesagt, oder zumindest ein weisses Schaf. Dann hatte er die Kaurimuscheln auf die speckige Matte geworfen und mein Leben analysiert. Die eine Hälfte der Aussagen war nicht ganz unrichtig gewesen, die andere Hälfte aber falsch, völlig daneben, auch bei sehr grosszügiger Auslegung. Ich hatte beim besten Willen keinen Sohn, auch keinen 17-jährigen, und schon gar nicht einen auf Arbeitssuche. Und meine Eltern konnte ich nicht finanziell unterstützen, denn beide waren seit Jahren tot. Die Fehldiagnosen hatten jedoch meine Verhandlungsposition gestärkt, und ich konnte das Honorar auf die Hälfte drücken, auf 50’000 afrikanische Francs. In dieser Summe, etwa der Stundenansatz eines Zürcher Psychiaters, waren inbegriffen, neben der Arbeit Coulibalys: zwei weisse Hühner (an Stelle des Schafes), ein Ring gegen aufdringliche Geister, ein Amulett oder Grisgris gegen Unfälle und Krankheiten (in der Hosentasche zu tragen), ein Grisgris für Salärerhöhung (im Büro aufzuhängen). Eine lohnende Sache. Coulibaly jedoch, das spürte ich, war unruhig. Als ob er immer noch dem happigen ersten Honorar nachsinnieren würde.
Nach der Opferung des zweiten Huhnes begaben wir uns in Coulibalys Wohnzimmer, von dem er seine Praxis mit einer Bretterwand und einem Tuch abgetrennt hatte. Am Fernseher war die ganze Zeit «Miramar» gelaufen, eine süssliche brasilianische Telenovela, ein paar von Coulibalys Kindern und einige Verwandte und Nachbarn hatten es sich auf der zerschlissenen Polstergruppe davor bequem gemacht, und wir setzten uns dazu. Plötzlich war ein kurzes Rumpeln aus dem Kabinett zu hören. Coulibaly sprang auf, um nachzuschauen. Wenig später rief er nach mir. Da, schau, sagte er und warf mir einen prüfenden Blick zu. Der mittlere Fetisch lag am Boden. Er war nach hinten umgekippt und auf dem Bauch gelandet. Genau im rechten Winkel zu den anderen Fetischen. Nach den Gesetzen der Natur eine Unmöglichkeit, denn dafür hätte er sich während des kurzen Falls um die eigene Achse drehen müssen. Schon während der Zeremonie war es zu Unregelmässigkeiten gekommen. Der Ring war plötzlich vom Fetisch gerollt, und ein Tintenfässchen war von Coulibaly umgestossen worden. «Was hat das alles zu bedeuten?», fragte ich ihn. Und er antwortete, ohne eine Sekunde zu zögern: «Der Geist ist unzufrieden. Er hat noch Hunger. Darum liegt der Fetisch auf dem Bauch.»
Am selben Abend ging ich mit David auf ein Bier in einen Maquis. David Signer ist Ethnologe aus dem Appenzell und lebt seit zwei Jahren in der Elfenbeinküste. Er schreibt ein Buch über Hexerei, Magie und traditionelle Medizin in Westafrika, und er hatte mich mit Coulibaly bekannt gemacht. Kaum setzte ich meinen Fuss in die Bar, brannte eine Sicherung durch, und wir standen im Dunkeln. Dasselbe wiederholte sich eine Stunde später in der nächsten Bar, im «Maquis au Prince». Wir waren dort seit einigen Tagen regelmässige Gäste und hatten uns mit dem jungen Personal angefreundet. Der Maquis lag am Stadtrand, und wir waren wie meistens die einzigen Kunden. «Das hast du nun von deiner Knausrigkeit», feixte David, «die Geister sind immer noch verärgert.» Er sagte es auf Französisch, damit es die Angestellten ebenfalls verstanden. Die Freude auf deren Gesichtern erstarb für einen Moment, und sie schauten mich ernst an.
Ich erzählte ihnen von der Sache mit dem umgekippten Fetisch, und für alle Anwesenden war der Fall sonnenklar. «Das ist ein schlechtes Zeichen, das Opfer wurde nicht akzeptiert», sagte Marie-Laure, und ihre zwei Kollegen nickten fachkundig. Marie-Laure, eine 19-jährige Gymnasiastin, jobbte in den Ferien im «Maquis», und ihre Lieblingslektüre waren Fotoromane, die Stücke von Aimé Césaire und «Die Nashörner» von Eugène Ionesco.
«Aber ich glaube, der Féticheur wollte mich hereinlegen. Er hat die Holzfigur selber auf den Bauch gedreht, weil er mehr Geld wollte.»
«Ah, ein Betrüger. Wie viel hast du bezahlt?»
«50’000 Francs.»
«Voilà. Ich sags ja, ein Lügner. Er liebt zu sehr das Geld. Wenn ich zum Féticheur gehe, bezahle ich 6000 Francs, höchstens 12’000, je nach Schwere des Problems.» Marie-Laure schaute mich etwas mitleidig an, und ihr Kollege Jean-Salvère meinte, ihm würde so etwas nie passieren. Er würde einen Betrüger sofort erkennen.
«Wie?»
«An seinen Deutungen. Wenn die nicht stimmen, ist er ein Betrüger.»
«Das leuchtet ein. Übrigens hat mir der Féticheur ein Grisgris gemacht. Ob das wohl nützt? Es hat Kroko…» Ich wollte den Inhalt des Grisgris aufzählen: Krokodilhaut, Löwenpelz, Chamäleon, aber Jean-Salvère fiel mir sofort ins Wort. Seine Stimme tönte erschreckt und streng.
«Schweig. Das ist ein Geheimnis. Wenn es ein anderer kennt, kann er es gegen dich verwenden.» Das war nett von Jean-Valère, und ich bedankte mich bei ihm.
Es gebe zu viel Hexerei, wandte Marie-Laure ein, und am gefährlichsten sei sie innerhalb der Familie. In Europa sei das anders, dort brauche man sie für gute Dinge. Um Autos zu bauen. Oder Fernsehapparate. Oder Flugzeuge. In Afrika dagegen töte sie. Ihr Dorf beispielsweise sei voll von Hexerei. Es stehe in der Nähe der Grenze zu Ghana, und sie werde sich hüten, dorthin zu fahren. Ein älterer Bruder studiere in Kanada. Im Frühjahr sei er ins Dorf zurückgekehrt, ferienhalber, und er sei, acht Monate später, immer noch dort.
«Ja, und?»
«Man hat ihn verhext, mit unsichtbaren Stricken gefesselt und angebunden. Jetzt fressen sie ihn.»
«Woher weisst du das?»
«Man ist zum König gegangen, und der hat es bestätigt: Hexerei. Unterdessen ist der Bruder zu krank und zu schwach, um wieder nach Kanada zu reisen.»
«Warum passiert so etwas?»
«Ah, Eugène, was weisst du schon. C’est la jalousie, es ist der Neid, die afrikanische Krankheit. Ich bestand meine Prüfungen und hatte plötzlich Sehstörungen. Ich ging zum Optiker nach Accra, und er gab mir eine Brille. Zurück in Abengourou sah ich wieder schlecht. Ich fuhr erneut nach Accra, und meine Augen waren wieder in Ordnung. Und als ich heimkehrte, war wieder alles verschwommen. Verstehst du, was ich meine? Nein? Hier ist es unmöglich, erfolgreich zu sein. Die Verwandten, die Onkel und Tanten und Schwestern, sie wollen alles und lassen dir nichts. Mein ältester Bruder ist gestorben. Er hat in London studiert, und sie behaupten, es sei ein Autounfall gewesen. Aber der Körper war auf bizarre Weise zwischen zwei Bäumen eingeklemmt, und wenn man genau hinschaute, sah man, dass man ihm das Herz herausgerissen hatte. Sie haben ihn getötet. Mit Hexerei.»
Würde sie jemanden kennen, schloss Marie- Laure, der sie von hier fortnehmen möchte, ginge sie auf der Stelle mit ihm mit, und käme der von noch so weit her. Plötzlich war sie wieder fröhlich, und sie klatschte in die Hände, liess weich ihre Hüften kreisen und schenkte mir ihr charmantestes Lächeln.
David hatte mir während der Erzählungen immer wieder verschwörerisch zugezwinkert. Was wir hörten, bestätigte eine der Thesen seines Buches. Er vertritt die Meinung, dass die wirtschaftlichen Probleme Schwarzafrikas wesentlich mit dem Hexereikomplex zusammenhängen. Dieser stelle ein antikapitalistisches Element dar, das Sparen, Akkumulation, Reinvestition verhindere und jede längerfristige Initiative lähme. Verdiene einer etwas, unterstütze er mit dem Geld seine Familie. Und wehe, er frustriere einen der zahlreichen Bittsteller. Ihm drohte dasselbe Schicksal wie Marie-Laures Brüdern. Jedes Kind zwischen Dakar und Daressalam kenne hundert Geschichten dieser Art. Die Angst vor Verhexung sei die Nachtseite des hochgelobten afrikanischen Familiensinns. Und am Ende des Monats sei die Brieftasche leer, egal ob man gearbeitet habe oder nicht. Der Hexenglaube sei keine blosse Phantasmagorie, keine kollektive Spinnerei, keine Urwaldneurose, sondern eher eine Metapher für eine spezifische soziale Erfahrung. Das gesellschaftliche Geflecht sei hier viel dichter, eine Privatsphäre kaum respektiert, die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem anderen ungleich durchlässiger. Alle Grisgris und Bannsprüche, für die beim Féticheur Vermögen ausgegeben werden, seien im Grunde wie Rüstungen oder Schutzwälle, mit denen das Ich sich gegen die totale Vereinnahmung durch die Umgebung wappnen wolle.
«Das mit der Hexerei wird übertrieben», wandte Jean-Salvère ein und tönte sehr überlegen, «sie ist kein grosses Problem.» Er war etwas über 20 Jahre alt und hatte vor einem Jahr das Ökonomiestudium geschmissen, weil seine Eltern, wie er erklärte, das Unigeld nicht mehr bezahlen konnten.
«So?»
«Ich habe meine Mittel dagegen.»
«Zum Beispiel?»
«Man zerstösst zum Beispiel ein Stück Kohle und mischt es in einem Topf mit Wasser. Das Ganze stellst du unter das Bett.»
«Wozu soll das gut sein?»
«Zu deinem Schutz. Zusätzlich nimmst du einen Meter weissen Perkal-Stoff und vier weisse Kolanüsse. In jede Ecke knotest du eine der Nüsse, und nachts legst du dir das Tuch über den Kopf, so, comme une femme, wie eine Frau. Jetzt wirst du absolut ruhig und sicher schlafen, nichts kann dir geschehen. Kein génie, kein Geist und keine Hexe können zu dir durchdringen.»
Wir beglückwünschten ihn zu seinem Sicherheitsdispositiv und fragten ihn, woher er all dies wisse. Teils von seiner Grossmutter, antwortete er, und teils sei dies un don, eine Gabe. Ob er auch ein Mittel für tagsüber habe, fragten wir ihn. Aber ja, meinte er, ein hundertprozentiges. Wenn er neue Sandalen kaufe, sagte er und senkte dabei die Stimme, trage er diese 29 Tage, ohne sie zu waschen, und ziehe sie auch beim Duschen jedesmal aus. Am dreissigsten Tage stecke er sie in einen Topf mit Wasser. Für genau 48 Stunden, nicht mehr und nicht weniger, und erst dann ziehe er sie wieder an.
«Nun sind sie sicher, todsicher. Im Boden vergrabene Medikamente, bösartige Angriffe – kein Problem. Der Geist, der mir was anhaben kann, müsste erst noch geboren werden. Höchstens Gott selber wäre stärker als dieser Schutz.» Jean-Salvère lehnte sich zurück, ein listiges und schlaues Lächeln im Gesicht. Ein afrikanischer Odysseus, der soeben ein weiteres Monster ausgetrickst hatte.
Im Wohnzimmer Coulibalys hatten wir zwei junge Frauen kennen gelernt. Sie sei ein Jahr lang verlobt gewesen, erzählte die eine, ohne schwanger zu werden. Da habe sie Coulibaly aufgesucht und neun Monate nach der Konsultation Zwillinge geboren. Was er denn gemacht habe, fragten wir, und sie lächelte und meinte, das sei sein Geheimnis. Auf jeden Fall sei sie zufrieden über das Resultat gewesen und habe deshalb ihre Cousine zu ihm gebracht. Diese habe dasselbe Problem wie sie damals. Und was Coulibaly mit ihr gemacht habe? Er habe die Kauris geworfen, sagte die 17-Jährige, ihr einen Jungen vorausgesagt und eine Mixtur aus Kräutern gegeben. Wir fragten Coulibaly, ob er uns mit weiteren Patienten bekannt machen könne, und er meinte, selbstverständlich, er würde uns sofort hinführen. Er streifte seinen besten Blouson über, stellte den Kragen hoch und montierte den Walkman mit einer Kassette von Alpha Blondy, dem exzentrischen nationalen Superstar. Der Walkman war ein Geschenk von David.
Es war kurzweilig, mit Coulibaly unterwegs zu sein. Sein Gang hatte etwas Müssiggängerisches und gleichzeitig Lauerndes, und seine Augen suchten unablässig die Umgebung ab. Als ob wir durch den Busch streifen würden und nicht durch eine moderne Stadt. Die Welt war voller Zeichen, und er war ihr Hypersemiologe. Jedes Ding war noch etwas anderes, als es auf den ersten Blick schien, selbst das nebensächlichste Vorkommnis steckte voller Bedeutung. Der Gecko, der die Mauer hinunterhuschte, das Niesen des Mannes beim Verlassen des Ladens, das Fischmuster auf dem Kleid der Schalterbeamtin, die Autopanne gegenüber dem Friedhof – nichts war zufällig, alles deutete hin auf die Präsenz der génies. Und als im Maquis ein Baumblatt in sein Bierglas segelte, meinte er: Jemand will mich töten. Er sagte es völlig ungerührt, ganz wie jemand, der nichts zu befürchten hat, weil er über die Macht des Gegenzaubers verfügt.
Die Wirtin des Maquis, eine gemütvolle Fünfzigerin, wusste nur Gutes über Coulibaly zu berichten. Sie hätte vor drei Jahren mit ihrem Mann ein grosses Palaver gehabt, es habe die ganze Nacht gedauert, bis er morgens um sechs die Türe von aussen zugeschlagen und geschrien habe, er würde sie verlassen. Eine Nachbarin habe sie zu Coulibaly gebracht, notfallmässig, und drei Tage später sei ihr Mann wieder in der Stube gestanden, mit einer Entschuldigung, und sei bei ihr geblieben bis auf den heutigen Tag. Eine zweite Konsultation habe den mysteriös schlechten Geschäftsgang betroffen. Ein Grisgris für die Kassenschublade, ein Schäfchen für die Geister, welche sich laut Coulibaly sehr zahlreich auf dem Gelände des Maquis tummelten, und bald habe der Umsatz wieder gestimmt. Und das Personal habe nicht mehr gestohlen. Nein, wirklich, nur positive Erfahrungen. Coulibaly schaute mich herausfordernd an und bestellte grosszügig noch eine Runde Bier und Grillhühnchen für alle. Und ich griff in die Hosentasche und zählte nach, ob ich genügend Scheine bei mir hatte.
Den nächsten Patienten, Prosper hiess er, trafen wir in seinem Geschäft, wo es Matratzen und grosse Säcke mit Zwiebeln zu kaufen gab. Coulibaly hatte auf dem Hinweg erklärt, dass er ihn wegen Impotenz behandelt habe. Erfolgreich, selbstverständlich. Prosper, ein bescheiden wirkender 50-Jähriger, schien unser Besuch keineswegs zu überrumpeln. Er machte ein paar Sitzplätze frei und schickte einen Jungen, Tee zu holen. Bald sassen mindestens zehn Personen im Laden, Kollegen des Besitzers, Nachbarn, Verwandte. Ich fand es etwas unpassend, Prosper, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, in aller Öffentlichkeit nach seinen intimsten Angelegenheiten zu fragen. Doch Coulibaly forderte mich auf, zur Sache zu kommen. Ah oui, un petit problème, quoi, ach ja, ein kleines Problem gab es damals, antwortete Prosper höflich, als ich doch noch meine gewundene Frage hervorgebracht hatte, und die Anwesenden grinsten und schienen bestens im Bilde zu sein, um welches Problem es sich handelte. Coulibaly habe ihm ein Medikament gegeben, ein Pülverchen, und er habe ein Drittel davon genommen. Und es sei sehr wirksam gewesen. Ein anderer warf frohgemut ein, Coulibaly sei gut in diesen Dingen, und die ganze Gesellschaft grinste noch mehr, als ob sie alle von diesem Mittelchen schon probiert hätten. Darauf erzählte ein Dritter von einem Besuch bei einem docteur in Abidjan. Dieser habe zwei Grisgris angeboten: «taper laisser» und «taper aimer», «ficken fallen lassen» und «ficken lieben». Er habe ja schon zwei Frauen und sich deshalb für das Erste entschieden. Noch am selben Abend habe er bei einer bestimmten Dame Erfolg gehabt. «Je l’ai bombé, mais vraiment, ich habe sie gebumst, aber wie», teilte er mit, und das Gelächter der fröhlichen Herrenrunde war bis auf die andere Strassenseite zu hören.
Die Weissen, sagte ich zu Coulibaly, als wir uns auf dem Heimweg befanden, hätten jetzt auch ein Mittel. Ob er von Viagra gehört habe? Nein, antwortete er, aber es könne schon sein, dass es ebenfalls gut sei. Natürlich nicht in allen Fällen. Ob er an Hexerei denke? Voilà. Prosper zum Beispiel habe sich eine zweite Frau genommen und ab da nicht mehr bei der ersten geschlafen. Diese sei eifersüchtig geworden, sei zu einem Féticheur gegangen und habe Prosper mit Impotenz schlagen lassen. Das habe er, Coulibaly, gleich gesehen und die Behandlung danach gerichtet. Gegen Zauber helfe nur Gegenzauber.
Heiler ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Sie kündigt sich an mit Signalen und Visionen, meistens schon in der Kindheit oder in der Pubertät. In Europa hätte dies eine Anmeldung beim Psychiater zur Folge, in Bamako oder Abidjan oder Yaoundé ist es Zeichen einer speziellen Begabung. Jeder Heiler hat ein eigenes berufliches Curriculum Vitae, das er bei Nachfrage dem Patienten präsentiert. Coulibaly beispielsweise war neun Jahre alt und gelähmt, als sich die Geister meldeten. Sie entführten ihn in den Busch, lehrten ihn alles über die Pflanzen, Tiere und Steine und schickten ihn drei Jahre später geheilt wieder in sein Dorf zurück. Trotz dieses Wissens lernt er gerne dazu. Vor einem halben Jahr hatte er eine zweimonatige Fortbildungsreise durch Guinea und Mali unternommen. Er hatte Féticheure besucht, ohne sich selber als Kollege erkennen zu geben, und sich diebisch gefreut, wenn er deren Kniffe durchschaute.
David, der ihn begleitet und ihm die Reise finanziert hatte, erzählte mir, dass nur ein einziger Heiler Coulibalys Respekt erworben habe. Und zwar ein Mann aus Guinea, den sie «den Alten» nannten. «Und was war das Aussergewöhnliche an ihm?», wollte ich wissen.
«Er hatte einen sprechenden Fetisch».
«Und der Trick dahinter?»
«Du kennst mich. Ich bin Wissenschafter, europäisch und aufgeklärt. Aber für diesen Fall habe ich keine Erklärung, absolut keine, und ich muss das Ganze hinnehmen, so wie es war. Also, der Alte begann auf seinen Fetisch einzusprechen, und nach kurzer Zeit ertönte aus diesem eine Stimme. Keine gewöhnliche, sondern eine Mischung aus Kinderstimme und Velohupe, oder ähnlich. Sie stieg in die Höhe, blieb auf etwa einem Meter stehen und schwebte dann durchs Zimmer. Völlig klar lokalisierbar, eine Stimme ohne materiellen Körper, deutlich konturiert wie ein akustisches Hologramm. Ich habe genau hingeschaut: Der Alte hatte nichts im Ärmel oder sonstwo versteckt. Ein wirklich erstaunliches Phänomen. Fast surreal.»
Die Praxis des Alten war eine kleine Bretterbude mitten im Markt von Ferké, einer Stadt im Norden der Elfenbeinküste. Er war etwa 65-jährig, rundlich und klein, seine zweite Frau hatte ihm am Vortag sein siebzehntes Kind geboren, und er musterte uns zufrieden aus pfiffigen Äuglein. Wir einigten uns auf ein Schaf, zwei Hühner und hundert Kaurimuscheln für 50’000 Francs, Arbeit inklusive, und er bestellte uns auf den Abend in seine Bude. Der Markt war stockdunkel und menschenleer, als wir seine Hütte betraten. Er hatte Kerzen angezündet und hiess uns Platz zu nehmen auf einer kleinen Holzbank an der Wand. Am Boden war eine Art Altar, ein Sammelsurium aus Kräutern, Behältern, Schriftstücken und einem Foto von Bruce Lee, über die Ecke daneben war ein Tuch gespannt, hinter dem sich der Fetisch befand. Der Alte stellte sich vor das Tuch und begann auf Arabisch, dann in einer lokalen Sprache Formeln zu murmeln, eindringlich und schnell.
Es verging keine Minute, bis sich aus der Ecke eine zweite Stimme meldete. Eigentlich war es ein hohes, aufgeregtes, gepresstes Quietschen und Quaken, das weniger an etwas Menschliches als an einen Scherzartikel oder an eine Plastikente erinnerte, wie sie Kinder zum Baden verwenden. Der Alte streckte die Arme aus, und der lärmende Geist fuhr empor, etwa bis auf Kopfhöhe, verweilte dort ein paar Sekunden und bewegte sich dann nach links, der Zimmerwand entlang. Dicht dahinter kam der Alte, sein Kopf folgte mit ruckartigen Bewegungen der unruhigen Tonspur, die mal nach unten und mal nach oben auswich, dazu klopfte er mit der offenen Hand an die Wand und redete beschwörend auf das kreischende Wesen ein, als ob er es mit einem störrischen Pferde zu tun hätte. Als die beiden in der gegenüberliegenden Ecke angelangt waren, machten sie kehrt, und unter dem mahnenden Zuspruch des Meisters trollte sich der zeternde génie zurück zum Tuch, wo er für eine kurze Zeit innehielt, bevor er wieder in seinen Fetisch einfahren und verstummen sollte.
In diesem Moment erhob ich mich und ging hin zum Alten. Wie auch David hatte ich weder in seinen Händen noch in seinem Gewand irgendein Gerät gesehen, aber das Licht im Raum war schummrig, und mir war aufgefallen, dass immer entweder er oder der Geist gesprochen hatte, aber nie beide gleichzeitig, nicht einmal für eine einzige Sekunde. Der Alte merkte es sofort, dass jemand neben ihm stand, und drehte sich für einen Augenblick zu mir hin. Da sah ich es. Und er sah, dass ich es sah. In der Zahnlücke zwischen seinen Schneidezähnen steckte ein kleines, rundes, weisses Ding, eine Art Trillerpfeife, die sich deutlich vom Gelblich seiner Zähne abhob. Ich setzte mich wieder hin, und er beendete das Zwiegespräch und setzte sich ebenfalls. Er wirkte etwas ausser Atem, aber alles andere als verlegen. Und, fragte ich ihn, was hat der Geist gesagt? Dass du zwei Kinder haben wirst, antwortete er, als ob nichts geschehen wäre, und lachte ein herzliches, jungenhaftes Lachen. Und dass du ein grand type, eine wichtige Persönlichkeit, werden wirst.
Zwei Tage später berichteten wir im «Prince» von unserer neuesten Begegnung. Vielleicht, meinte Jean-Valère, sei der Mann trotz dem kleinen Kunstgriff ein guter Heiler. Ich müsse verstehen, die Konkurrenz sei gross, da müsse sich einer halt etwas einfallen lassen. Auch Féticheure hätten Stromrechnungen zu bezahlen. Marie-Laure dagegen meinte, ich hätte leider wieder Pech gehabt. Aber sie habe mir ja gesagt, es gäbe Betrüger.
«In meinem Dorf jedoch», fuhr sie fort, «lebt ein Féticheur, der ist wirklich mächtig, ein Albino, der aus dem Wasserspiegel in seiner Kalebasse deine Vergangenheit und deine Zukunft lesen kann. Einmal brachte man ein krankes Mädchen zu ihm. Das ganze Dorf war versammelt, und er sagte zu dem Mädchen, es solle sprechen. Dieses war aber zu schwach, so redete er weiter. Und plötzlich, vor den Augen aller, verdorrte der grosse Mangobaum auf dem Platz, innert einer Minute war er ausgetrocknet, und alle Blätter fielen zu Boden. Und das Mädchen war gesund.»
«Hast du das mit eigenen Augen gesehen?»
«Mit eigenen Augen.»
In einem Sammeltaxi fuhren wir auf der schnurgeraden Schnellstrasse zurück nach Abidjan. Am Vorabend waren wir noch bei Coulibaly vorbeigegangen und hatten über verschiedenste Dinge geplaudert. Unter anderem hatte er mich gefragt, was ich letzte Nacht geträumt hätte, und ich hatte erzählt, dass ich im Traum auf einen Berg gestiegen, Höhenangst gekriegt und beinahe heruntergefallen wäre. Dies ist eine klare Warnung, hatte er gemeint, ein Unfall werde auf meiner Reise geschehen, das Auto werde brennen und Leute werden zu Schaden kommen. Die Opferung eines Schafes aber würde genügen, und die Route wäre sicher. Jeder vernünftige Mensch, hatte er noch hinzugefügt, würde dies tun. Der lässt nicht locker, hatte ich gedacht und ihm geantwortet: Vielen Dank, aber ich werde das Risiko eingehen. Wir waren ein Stunde unterwegs, als mir in den Sinn kam, dass Coulibaly noch erwähnt hatte, das Unfallauto habe eine weisse Farbe. Unser Peugeot hatte eine weisse Farbe. Ich wollte dies gerade David mitteilen, als der Fahrer plötzlich abbremste, das Auto auf den Pannenstreifen lenkte und uns befahl, auszusteigen. Aus der Motorhaube quoll Rauch. Du wirst uns noch umbringen mit deinem Geiz, maulte David, als wir in einen überfüllten Bus umstiegen, der uns am Abend gerädert in Abidjan ablieferte.
In Bingerville, einem Vorort von Abidjan, steht das grösste psychiatrische Hospital der Region. Im Jahre 1962 eröffnet, wird es von einem Team gut ausgebildeter Psychiater und engagiertem Pflegepersonal geführt. Wir hatten mit Chefarzt Professor Joseph Amani einen Termin vereinbart, und als wir eintrafen, verabschiedete er gerade ein Gruppe junger Ärzte und Ärztinnen, die ihr Ausbildungsjahr in Bingerville beendet hatten. Sie stammten aus verschiedenen frankophonen Ländern und waren elegant gekleidet. Ein Rundgang auf dem Areal zeigte helle, saubere Zimmer, die Patienten konnten sich innerhalb ihres Traktes frei bewegen, und alle waren während ihres durchschnittlich dreiwöchigen Klinikaufenthaltes in Begleitung eines Familienmitgliedes. Die freundlichen, gut gelaunten Pflegeangestellten unterstrichen den Eindruck einer modernsten und grosszügigen Psychiatrie.
Von den 250 Betten waren allerdings weniger als die Hälfte belegt. Als die Weltmarktpreise für Kakao und Kaffee gesunken waren, hatte die Regierung die Subventionen gestrichen. Spitalaufenthalt und Medikamente konnten sich seit da nur noch kleine Schichten Wohlhabender leisten. Doch auch zu besseren Zeiten war Bingerville nie überlaufen. Eine Krankheit, erklärte Professor Amani, sei für seine Landsleute nur ein Signal, wie die rote Alarmlampe im Auto, wenn etwas im Motor nicht mehr funktioniere. Der Psychiater werde beigezogen, wenn überhaupt, um mit seiner modernen Medizin die Situation zu beruhigen, das Lämpchen abzustellen. Für die Geschichte dahinter, für die Ursachen des Defekts und dessen Behebung würden jedoch die wahren Fachleute konsultiert. Er, der Psychiater, sei lediglich eine Hilfskraft in Notfällen.
Wenn die Medikamente für die Nacht verteilt worden sind und Professor Joseph Amani und seine Kollegen bei ihren Familien zu Hause sitzen, kommt in der Klinik die zweite, gleichsam inoffizielle Equipe zum Einsatz. Nicht weisse Kittel trägt dieses Personal, sondern Lederkutten voll Hühnerblut mit aufgenähten Kaurimuscheln und Armreifen und Amulette gegen unsichtbare Feinde. Die Féticheure, hergebracht von den Familien der Insassen, gehen auf Visite, und sie verwandeln die Patientenzimmer der fortschrittlichsten Psychiatrie Westafrikas in Voudou-Kabinette, wo die ältesten Geschichten der Menschheit erzählt und den Dämonen das Handwerk gelegt wird. Wie alle in der Klinik weiss auch Professor Amani um die Zweitbehandlung nach Feierabend. Und ebenso weiss er, dass sie mitunter zu Problemen führt: wenn sich der Kräutersud à la Coulibaly nicht mit der Chemopille von Novartis verträgt und der Patient die Augen zu verdrehen beginnt. Aber er könne, sagte der Chefarzt, die nächtlichen Aktivitäten nicht unterbinden. Und er wolle es auch nicht. Es handle sich eben um verschiedene Weltbilder, und er stehe dazwischen und urteile nicht. Die Wahrheit, lachte er, verberge sich hinter vielen Namen.