Das Magazin

17.10.1998

GUNVORS LETZTER AKT

Sie zog aus als Glamourgirl des Schweizer Schlagers. Dann folgte der Absturz. Heute tingelt Gunvor Guggisberg an Brat-wurstfesten Durch die SChweiz. Warum tut sie sich das An?

Von Eugen Sorg und Eva-Maria Züllig (Bilder)

Letztes Jahr hatte der rührige junge Partyveranstalter aus dem Bernbiet als At- traktion Harry Hasler engagiert. Die Landjugend war begeistert gewesen. Showein-lage im Disco-Festzelt von Ueberstorf bei Flamatt im Kanton Freiburg ist Gunvor. Es ist Freitagabend im Spätsommer 1998.

Die junge Schlagersängerin und ihre Mutter sind mit Zug und Postauto aus Bern angereist, und im Dorfrestaurant, wo Gunvor vor ihrem Auftritt an einem Sandwich knabbert, grinsen die Burschen verschwörerisch und werfen ihr verstohlene Blicke zu. Später am Abend, als sie auf die Bretterbühne im bumsvollen Zelt steigt und die Diskette mit der Playbackmusik in die Anlage schiebt, ertönen einige Pfiffe. Dann wird es ruhig, und am Ende des ersten Liedes gibt es bescheidenen Applaus.

Ab dem zweiten Lied beginnen die Leute zu schwatzen oder herumzuspazieren, als sei das Konzert bereits zu Ende. Singen kann sie, meint einer, aber furzblöd ist sie. Genau, sagt der andere, die dunkelhaarigste Blondine, die ich je gesehen habe. Die Runde freut sich, und weiter vorne ruft eine Gruppe übermütiger Jungmänner zum Gaudi der Kollegen: Gunvor, wir kommen. Es tönt anzüglich und roh, und Gunvor Guggisberg lächelt ins Leere und streicht sich zum zigten Mal das Haar hinter das rechte Ohr, obwohl die Frisur nie in Unordnung war. Die Chanteuse gibt ein Bild totaler Einsamkeit.

Es hatte so schön begonnen. Vor zehn Monaten, am 18. Oktober 1997, gewann sie mit einem Song aus dem Musical «Les Misérables» hochüberlegen den Schweizer Showtalent-Wettbewerb. «Gunvor singt wie ein Weltstar», schmeichelte der «Blick», und Bundesrat Ogi lud die 23jährige EMD-Sachbearbeiterin zu einem Kaffee ein. Selbstbewusste und talentierte junge Menschen solle man unterstützen, sagte er, und er machte ihr ein Angebot. Sie dürfe am nächsten Kaderrapport des Generalstabs vorsingen. Gunvor revanchierte sich mit ihrer Demo-CD und liess fortan verlauten, sie wolle beim Frauenmilitär eine Karriere machen.

Alles an ihr wirkt gehemmt. Kaum bewegt sie sich ein wenig mit der Musik, bremst sie wieder ab und lächelt verlegen, als hätte man sie bei etwas Intimem überrascht. Sie hat eine schöne Stimme, vor allem bei den langsamen Stücken, eine reiche und starke Stimme, die ich dieser mädchenhaften Erscheinung nicht zugetraut hätte. Aber sie lehnt sich nicht auf dagegen, dass ihr kaum jemand zuhört. Gunvor scheint es peinlich zu sein, dort oben zu stehen, und mir wird es ebenfalls peinlich, dass sie dort steht. Als die vereinbarten zwanzig Minuten endlich um sind, Gunvor ein kaum hörbares Dankeschön ins feindliche Dunkel murmelt, seitwärts verschwindet und sich erlöst glaubt, springt der Veranstalter auf die Bühne. Einen Riesenapplaus habe die Künstlerin verdient, muntert er durchs Mikrophon auf, einen Riesenapplaus, damit sie nochmals kommt. Das Publikum, das erst jetzt realisiert, dass der Auftritt vorbei ist, reagiert mit Pfeifen und Gelächter. Es sei im Fall, kontert der Veranstalter, und er meint es gut, es sei gar nicht so einfach, so ganz alleine vorne hinzustehen. Und schiebt mit vorwurfsvollem Unterton nach, er wisse nicht, ob sie dies so gut könnten.

Am 18. Dezember 1997, genau zwei Monate nach dem Showtalent-Sieg, meldete sich Gunvor zur Ausscheidung für den Concours Eurovision 1998 in Birmingham an. Ogi schickte ein Telegramm ins TV-Studio: «Wir drücken Ihnen alle in meinem Departement verfügbaren Daumen.» Zum ersten Mal konnten die Fernsehzuschauer selber abstimmen, wer die Schweiz vertreten sollte. 400 000 Leute verfolgten auf SF 1 Gunvors Interpretation ihrer Eigenkomposition «Lass ihn». Mit grossem Vorsprung wurde sie zur Siegerin erklärt. Ein Traum sei für sie in Erfüllung gegangen, sagte die Überglückliche, und mit ihrem Lockenkopf und treuherzigen Blick wirkte sie so unverdorben wie ein Kinderjauchzer.

Ich weiss nicht, woher sie die Kraft nimmt, sich durch die Zugabe zu lächeln. Als sie das Lied beendet hat, wankt sie wie komatös von den Brettern, Tränen stehen ihr in den Augen, und die Mutter macht ein sorgenvolles Gesicht. Drei Minuten später gibt sie dem Reporter eines Lokal- radios ein Interview.

«Gunvor, wie war das Konzert?»

«Es war eine tolle Stimmung. Mir hat es gefallen.»

«Vor drei Monaten die Eurovision und jetzt die Provinz. Wie ist das für dich?»

«Ich finde das hier nicht Provinz. Ich trete gerne auf. Und ich lerne viele Leute kennen.»

«Viele nehmen dich nicht ernst als Künstlerin. Sie lachen, wenn sie dich sehen.»

«Irgendwann wird es sich legen. (Sie wird leiser) Das waren Ausrutscher. Nur wenige Tage lang. Das Leben geht weiter. (Noch leiser) Obwohl es alle wissen.»

«Wie sieht die Zukunft aus?»

«Singen möchte ich immer. Auch beruflich, wenn es geht. So Gott will und ich gesund bleibe.»

Nachdem der Reporter wieder gegangen ist, fällt mir zum ersten Mal auf, dass Gunvors Fingernägel bis aufs Fleisch abgenagt sind.

Ihr Manager hatte mich gefragt, ob sein Schützling nach dem Auftritt bei mir im Auto mitfahren könnte. Er sei leider verhindert und das Konzert erst nach Mitternacht zu Ende. Natürlich hatte ich zugesagt und mich auf ein ausgiebiges Gespräch gefreut. Dies erweist sich aber als schwierig. Schon im Dorfrestaurant hatte sie mir schnell das Gefühl gegeben, jede meiner Fragen sei für sie wie ein Zahnziehen ohne Narkose. Und nun wiederholt sich das Ganze. Ihre Antworten sind kurz, ihr Schweigen um so länger, und im Dunkeln des Wagenfonds spüre ich den Ausdruck in ihren Augen: weidwund und leicht flehend. Ja, sagt Gunvor, sie habe wieder eine Stelle. (Pause) Eine Teilzeitstelle. (Pause) Wo? In Zürich. (Pause) Was? (Pause) Sie müsse für eine Firma telefonieren. (Lange Pause) Nein, sie melde sich nicht unter ihrem richtigen Namen. (Lange Pause) In Bern hätte sie eine Superstelle in Aussicht gehabt. (Pause) Aber dann habe der Personalchef realisiert, wer sie sei. (Lange Pause, leise) Es tue ihm leid, habe der daraufhin gesagt, sie dürfe das nicht missverstehen, aber man wolle nicht im «Blick» erscheinen.

Fünf Wochen vor dem grossen Ereignis in England stellte Gunvor ihren neuen Freund dem «Blick» vor. Eine Traumpartie für eine EMD-Bürolistin und das Passende für einen aufgehenden Schlagerstern. Ein 21jähriger Jus-Student aus gutem Hause, Korporal und Golfer, mit einem Namen wie aus einem Arztroman: Michael Alexis Barrot. Die beiden posierten für den Fotografen mit Gunvors Plüschaffen in ihrer neuen Wohnung mit dem Minipool.

Früher, schaltet sich die Mutter ein, hätte ich Gunvor sehen müssen. Sie sei bekannt gewesen für ihre Ausstrahlung auf der Bühne. Und jetzt sage sie nicht einmal mehr die Lieder an. Aber eben, seufzt sie, diese Schlagzeilen. Dabei hätte sie eine Stimme so ausdrucksstark wie die von Céline Dion. Mutter, begehrt nun Gunvor auf, was erzählst du da, das ist eine Frechheit gegenüber Céline.

Samstag, 15. August 1998

Heute abend steht Oberburg auf dem Plan. Der kleine Ort mit der grossen Mehrzweckhalle feiert sein Sommerfest, und das Organisationskomitee hat sich einiges da-für einfallen lassen, Showdarbietungen des Turnvereins, eine italienische Tanzkapelle, ein glattes Komikerduo und gleich zwei Vertreter der Prominenz. Donghua Li, bester Turner der Welt, und Gunvor, bekannteste Sängerin dieses Jahres. Das Publikum ist fröhlich und grosszügig gestimmt. Man ist mit den Kindern und den Grosseltern gekommen, die Sommernacht ist lau und sternenklar, der Conférencier eine Stimmungskanone und die Rezession überwunden. Durch nichts würde man sich die Laune verderben lassen. Gunvor spürt dies sofort, wirkt etwas befreiter und wagt sogar eine Steptanznummer. In dieser Dis-ziplin wurde sie sieben Mal Schweizer Meisterin. Sie schrittelt gelenkig und biegsam und flink, nur hört man das rhythmische Klacken nicht. Sie habe sich nicht getraut, auf der Bühne in die Stepschuhe zu wechseln, verrät sie nachher im Auto. Trotzdem gibt es netten Beifall, und Gunvor wirkt, als wäre sie gerade einer Hinrichtung entgangen. Wobei der Conférencier väterlich mitgeholfen hatte. «Äs sümpathisches jungs Modi», hatte er sie gelobt, und ein Riesentalent, das hart an seiner Karriere arbeitet. «Mee Applous, ich bitte Sie, sie ist wirklich gut, das müessed dir zuegää, alles selber gesungen, mit der originalen Stimme.»

Die Stelle beim EMD hatte sie gekündigt. Sie sei überqualifiziert, hatte sie dem «Blick»-Reporter verraten. Seit der Nominierung für Birmingham, zitierte das Boulevardblatt daraufhin einen anonymen ehemaligen Vorgesetzten, habe sie den Boden unter den Füssen verloren. Als wäre dies eine Regieanweisung ans Schicksal gewesen, konnte die Zeitung zehn Tage vor dem Concours mit dem Titel auffahren: «Pleitegeier kreist über Gunvor!» Innert weniger Monate, konnte man lesen, hatte die junge Frau 150 000 Franken Schulden angehäuft. Für Auto, Eigentumswohnung, schöne Kleider und kostbare Schuhe.

Hinten im Saal sind zwei Tische aufgestellt worden. An einem verkauft Donghua Li rote Donghua-Li-Käppli, weisse Donghua-Li-T-Shirts und das Donghua-Li-Video «Der lange Marsch zum Gold», am anderen verkauft Gunvor ihre CDs. Die Kinder holen sich ihre Autogramme, und bald wird nur noch Gunvors Tisch belagert. Hauptsächlich von jungen Männern, etliche schon angetrunken. «D Gune, luegid, d Gune», hatte einer gebrüllt und damit seine Kollegen angelockt. Sie stehen um die Sängerin herum, mit geröteten Köpfen, fast dampfend, stieren sie an, das ist sie jetzt also, die mit den Nacktföteli und dem Puff und die jetzt irgendwie auch ihnen gehört, und sie wissen nicht, was sagen. Sie möchten sie berühren oder packen und getrauen sich nicht, knuffen den Vordermann, zwei springen plötzlich in die Turnseile und hangeln sich hoch, bis unter die Decke, mit blossen Armen. Dann löst sich ein anderer aus dem Knäuel und baut sich neben Gunvor auf. Ein Autogramm bitte, nein, nicht auf die Karte, sondern hier. Er zeigt auf seinen Oberschenkel und schiebt diesen vor ihr Gesicht. Gunvor versteinert und lächelt und setzt den Stift zum Schreiben an. Höher, verlangt der andere und schaut triumphierend zu den Kumpels. Gunvor kämpft gegen die Tränen und lächelt weiter und tut, was er verlangt. Er zieht mit seiner Trophäe ab, dreht schwitzend eine Ehrenrunde, hinter sich die johlenden Schulterklopfer.

Sechs Tage vor Birmingham schrieb der «SonntagsBlick»: «Blanker Busen, freier Po. Mal frivoles Teufelchen, mal strenger Vamp. Erotische Fotos. Die Frau auf den Bildern ist Gunvor Guggisberg.» Im Herbst 1996 war die damals knapp 22jährige dem stadtbekannten Berner Schmuddelfotografen Jürg Wyss in dessen Atelier «Le Ga- rage» Modell gestanden oder vielmehr gelegen. Er hatte ihr eine Modelkarriere in Aussicht gestellt. 52 Filme oder 1878 Erotik- und Nacktfotos habe er von ihr geschossen, prahlte der 60jährige auf der «Blick»-Redaktion. «Gunvor war vor meiner Kamera heiss, glühend heiss.»

Es ist ein Uhr morgens, als Gunvor ihre Sachen vom Tischchen abräumt. Auf den Autogrammkarten hat sie rundliche Bak-ken, jetzt ist ihr Gesicht schmal geworden. Als sie die Halle verlässt, tritt plötzlich ein jüngerer Mann auf sie zu. Er war mir schon vorher aufgefallen. Er hatte sich die ganze Zeit in ihrer Nähe herumgeschlichen. Ein properer und verklemmter Typ mit Polohemd und Schnäuzchen, der gemerkt hatte, dass ich ihn beobachte, aber immer meinem Blick ausgewichen war. Die Welt ist voller Spinner, denke ich, und stelle mich vorsichtshalber neben Gunvor hin. Immerhin bin ich einen halben Kopf grösser als er. Der Mann beginnt auf sie loszureden, und es stellt sich heraus, dass er ihre Seele retten will. Er habe für sie gebetet, sagt er, und Gunvor bedankt sich mit artigem Kopfnicken, und Gott habe ihm geantwortet, sie solle momentan nicht in der Öffentlichkeit auftreten. Gunvor hört ihm brav zu während geschlagenen zehn Minuten und rollt kein einziges Mal die Augen.

Die beste Geschichte aber hielt der «Blick» bis zum 9. Mai zurück, dem Tag des Schlager-Showdowns in Birming- ham. Gunvor sang vor 100 Millionen Zuschauern ihr Lied «Lass ihn», und sie wusste, dass zur selben Zeit in der ganzen Schweiz die Schlagzeile prangte: «Gunvor. Liebesdienerin im Edel-Puff!» Für die Fotosessions hatte ihr damals der Fotograf eine Rechnung von mehreren 10 000 Franken präsentiert. Und gleichzeitig eine Möglichkeit, diese zu bezahlen. Durch die Arbeit als Prostituierte in einem Saunaclub. Er hatte sie selber in seinem Auto hinchauffiert, und als sie nach einigen Tagen diese neue Tätigkeit wieder aufgab, hoffte sie, dass niemals jemand davon erfahren würde. Das war ein Jahr, bevor sie mit Bundesrat Ogi Kaffee getrunken hatte.

Warum sie sich die Litanei des Seelenretters angehört habe, frage ich sie auf der Rückfahrt, und dies nach einem so langen Tag. Sie zuckt mit den Schultern. Vielleicht, meint sie, weil sie gut erzogen sei. Ob sie öfters solche Begegnungen habe? Es gehe. Und wenn sie im Ausgang sei? Mmh. Ob sie oft in den Ausgang gehe? Eigentlich nie. Warum? Sie lebe zurückgezogen. Warum? Es sei jetzt eben anders als früher. Was? Die Leute hätten sich zurückgezogen. Wie? Der beste Kollege habe nicht mehr telefoniert, und die beste Freundin habe einen Brief geschrieben. Ja? Es interessiere sie nicht, was sie, Gunvor, mache, und sie wolle nichts damit zu tun haben. Neue Freunde? Sie sei misstrauisch geworden. Einer habe geschrieben, er wolle ihr Chauffeur sein, ein herziger Brief, aber sie frage sich, warum er das wolle. Und ein anderer habe sie in die Disco eingeladen. Aber warum? Um sich mit ihr zu brüsten?

Beobachtern fiel auf, dass Gunvor bei ihrer Performance in Birmingham völlig verhalten wirkte. Sie landete mit null Punkten auf dem letzten Platz. Ein künstlerisches und persönliches Debakel. Der «Blick» titelte hämisch: «Am Schluss stand Gunvor nackt da», und sprach fürs nächste nur noch von «unserer Nullnummer». Die Sängerin teilte mit, dass sie den Eintritt ins Militär bis auf weiteres verschieben werde.

Sonntag, 23. August 1998

Gross steht GUNVOR auf dem Plakat. Noch grösser als die Namen der Fussballmannschaften, die heute gegeneinander antreten: St. Gallen – Basel. Zum ersten Mal überträgt das SAT-1-Fernsehen einen Match aus dem St. Galler Stadion Espenmoos, und die Verantwortlichen wollten das historische Ereignis mit einem spe- ziellen Event untermalen. Gunvors Gesangsvortrag soll das Spiel eröffnen, ihr Auftritt allerdings findet hinter dem Sta- dion statt. Das erdige Terrain gleicht einer Baustelle oder einer Abfalldeponie, die Bühne der Sängerin ist ein Lastwagenanhänger, hinter diesem rostet ein Bagger, und die Festbänke stehen in Wasserpfützen. Es hat in der Nacht geregnet, und das Festzelt war am Tag zuvor abmontiert worden, weil es der Besitzer für eine andere Veranstaltung brauchte. Glücklicherweise scheint heute die Sonne.

Ihr neuer Status als gefallener Engel verlieh ihr einen Hauch von menschlicher Tragik und machte sie salonfähig für sämtliche Medien und Bildungsniveaus. Die WoZ berichtete über sie, die «Weltwoche», die NZZ, die «Basler Zeitung», man sah sie in «10 vor 10», «NightMOOR», «Quer», sie lächelte bei Victor Giacobbo und Kurt Aeschbacher und sie weinte bei Roger Schawinski. Sie war eine nationale Be-rühmtheit geworden. Allerdings nicht auf die Weise, wie sie es sich erträumt hatte. Ihr Gesang interessierte nicht.

Gunvor ist noch stiller als sonst. Heute ist ihr 24. Geburtstag, und sie erschrickt, als sie sieht, wo sie singen soll. Sie hat es nicht gewusst, genauso wenig wie ihr Manager. Heute ist er anstelle der Mutter mitgekommen, und er versucht das Geburtstagskind aufzumuntern. «In einem halben Jahr», sagt er, «wirst du lachen und sagen, weisst du noch, damals in St. Gallen.» Sie sagt gar nichts mehr und klettert mit leerem Blick auf den Anhänger. «Aber ich bin schon froh», sagt der Manager, als sie oben angekommen ist und ihn nicht mehr hören kann, «dass ich das nicht selber machen muss.» Manchmal frage er sich auch, fährt er fort, und im Publikum ertönen die ersten Pfiffe, ob er keine Fehler gemacht habe. Und ob es richtig sei, sie auf diese Veranstaltungen zu schicken. Aber das sei immer noch besser, als zu Hause rumzusitzen und nichts zu tun. Sie sei nämlich seit diesen Mediengeschichten apathisch geworden und esse nicht mehr richtig. Und dann sage er sich auch, warum stehe denn nicht er auf der Bühne? Oder ich? Das habe doch einen Grund. Künstler nämlich seien eben etwas anders als die anderen, als er zum Beispiel, oder ich.

Unterdessen sind alle Sitzplätze auf den Festbänken besetzt. Es ist eine Stunde vor Spielbeginn, und man hat noch Zeit, sich umzusehen, sich ein Bier oder eine Bratwurst zu genehmigen oder einem Kollegen zu winken, der vorbeispaziert. Man könne ebensogut ein Radio auf die Bühne stellen, meint einer, es schaue eh niemand hin. Das stimmt nur fast. Von den hinteren Bänken ertönen Gunvor-Rufe und grölender Beifall. Jüngere Fussballfans sitzen dort, und Gunvor quält sich ein lächelndes Märci- viumaal ab, als jene ihr sogar noch ein Geburtstagslied widmen. Die Fans haben kahlgeschorene Schädel und tragen Bomberjacken mit Abzeichen. «Stoppt die Tierversuche. Nehmt Zürcher», «Wo ein Wille ist, ist auch ein Bier», «Die Macht der Ostschweiz». Im Moment, als der SAT-1-Kameramann auftaucht, um die Sängerin zu filmen, entrollen die lärmenden Glatzen ein Transparent. «Du geile Sau Gunvor» haben sie draufgepinselt, und sie schwenken es wie einen Siegerpokal.

Nach dem Auftritt verteilt Gunvor Autogramme, darunter an die greinenden Kahlrasierten. Auch der Verpflegungschef des Festes will eine Unterschrift. «Für Herrn Egger» schreibt die Sängerin auf ihr Porträt, aber Herr Egger ist nicht zufrieden und gibt die Karte zurück. «Ich heisse Urs», mimt er den Schmollenden, «und darunter kannst du schreiben: Für die heissen Stunden.» Dazu zwinkert er munter in die Runde, aber Gunvor findet es nicht lustig. Der Manager meint, vor drei Wochen in St. Moritz sei es noch viel schlimmer gewesen. Die Leute hätten «Abzie, abzie» geschrien, bis er sich schliesslich überlegt habe, das Konzert abzubrechen. Dann erscheint der Präsident des FC St. Gallen persönlich. Er begrüsst die Sängerin und sagt, er möchte ihr in der Matchpause im Sta- dion eine Geburtstagstorte überreichen. Und sie dürfe während des Spiels auf der Ehrentribüne sitzen. Gunvor zuckt zusammen und murmelt etwas in sich hinein. «Sie wollen nicht?» fragt der elegante Präsident erstaunt, und der Manager antwortet schnell, doch, doch, das mit der Torte könnte gehen. Aber die Ehrentribühne sei nicht unbedingt nötig. Der Furgler sässe aber auch dort, meint der Verpflegungschef. Gunvor weiss, wer Kurt Furgler ist, aber das überzeugt sie noch weniger. Als ich ihr etwas später erzähle, wir hät- ten den damaligen Bundesrat immer Furz Gurgler genannt, sehe ich sie zum erstenmal an diesem Tag kurz lachen.

Vor der Matchpause übt der Manager mit Gunvor die Tortenübergabe. Was sie sage, wenn ihr jemand ein Mikro in die Hand drücke und gratuliere? Mmh. Sie solle sagen, sie habe noch nie vor so vie- len Leuten Geburtstag gefeiert. Und erst noch im Fussballstadion. Mmh. Und wenn man wissen wolle, für wen sie sei? Mmh. Sie solle nicht für Basel sein und nicht für St. Gallen. Sondern für Bern. Verstanden? Mmh. Gunvor hat Glück. Sie wird nichts gefragt, die Torte wird nicht in der Mitte des Feldes überreicht, und gleichzeitig führen einige Fussballer ein Showtraining vor. Kaum jemand achtet auf die kleine Zermonie an der schattigen Seitenlinie.

Der «Blick» hatte sie aufgebaut und dann Stück für Stück wieder auseinandergenommen, und als am Schluss nur noch ein Männerwitz übrigblieb, schrieb er am 18. Juni dieses Jahres: «Was hat die junge Bernerin nicht alles durchgemacht! Gunvor Guggisberg kann nicht mehr. Kopf hoch Gunvor, sagt BLICK. Und hat zusammen mit der Schweizer Top-Agentur Good News (Rolling Stones) ein Konzert organisiert. Im Zürcher Volkshaus. Für Gunvor. Damit die Sängerin auf der Bühne vor ausverkauftem Saal live beweisen kann, was sie alles kann!» Der geschenkte Auftritt mit Band fand am 24. Juli statt. Mangels Nachfrage seien trotz intensiver Anpreisung die meisten Tickets verschenkt worden, konnte man in den Zeitungen lesen. Die Kritiken waren nicht hymnisch, aber insgesamt positiv. Seit da tourt Gunvor durch die Festzelte des schweizerischen Mittellands. Der August brachte eine gut gefüllte Agenda, im September blieb sie fast leer. Die Festsaison ist vorbei.

«Warum tust du dir diese Auftritte an?»

«Wenn das Umfeld stimmt, sind sie keine Qual.»

«Hast du das Transparent der Idioten gesehen?»

«Ja.»

«Warum hast du gelächelt?»

«Was soll ich sonst tun? Man muss ja trotzdem nett sein zu solchen Leuten. Sonst heisst es, ich sei arrogant.»

«Warum machst du keine Pause?»

«Dann wäre es in einem Jahr wieder das gleiche.»

«Du sagst zuviel ja.»

«Nein. Das heisst, es kommt auf die Phase an. Im Moment vielleicht schon. Ich packe nichts an, lasse alles liegen und ich bin niedergeschlagen. Aber wenn ich in der anderen Phase bin, ist es gefährlich.»

«Wie?»

«Dann strotze ich vor Selbstsicherheit. Das ist nicht gut.» (Bestimmt)

«Warum nicht?»

«Dann will ich zuviel aufs Mal erreichen und mache hundert Dinge gleichzeitig. Ich habe Ideen und Einfälle und ich muss Leute sehen. Oder eher, die Leute müssen mich sehen. Ich bin dann im Hoch und fühle mich gut. Aber ich möchte mich dabei nicht sehen. Ich würde erchlüpfe.»

«War nach der Nominierung für Birmingham eine solche Zeit?»

«Ja.»

«Und bei den Erotikaufnahmen und der kurzen Zeit danach?»

«Mmh, ja.»

«Wie geht es dir, wenn du heute auf der Bühne stehst?»

«Ich denke jetzt einfach, die Leute sehen mich so…, so billig. Alle wissen es. Ich habe ein Gefühl von schämen, von… Auch einen Hass gegen mich selber für diese Zeit.» (Weint)

«Wann bist du dich selber?»

«Bei mir ist es extremer als bei anderen, dieses Auf und Ab. Ich muss einen Ausgleich finden. Vielleicht bin ich noch auf der Suche danach, wer ich bin. Ich bin schon eher ruhig, aber nicht so melancholisch wie jetzt.» ·

Eugen Sorg ist redaktioneller Mitarbeiter des «Magazins».

Eva-Maria Züllig arbeitet als freie Fotografin in Zürich.

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