Die Weltwoche
23.10.2008
«Zeitalter der Konfrontation»
Eugen Sorg und Peer Teuwsen
Der holländische Soziologe Paul Scheffer hat ein Standardwerk über Immigration geschrieben.Die massenhafte Einwanderung von Muslimen werde uns alle verändern. Wir müssten unseren Sozialstaat radikal umbauen und endlich lernen, wer wir sind.
Weltwoche: Herr Scheffer, bedeutet die beispiellose Masseneinwanderung von Muslimen nach Europa das Ende des alten Europa?
Scheffer: Es ist das Ende eines Europa, das sich als christlich bezeichnet. Wenn man aber Europa als eine offene Gesellschaft sieht, bedeutet es eine Neubelebung des Kontinents. Wenn es gelingt, diese neue Religion in Europa zu integrieren, sind wir dem Ideal einer offenen Gesellschaft ein Stück näher gekommen. Dann wären wir die einzige Gesellschaft auf der Welt, in der die drei monotheistischen Religionen mehr oder weniger friedlich zusammenleben.
Sie scheinen skeptisch, wenn man Ihr neues Buch, «Die Eingewanderten», liest.
Für mich ist das wirklich eine offene Frage. Der Erfolg hängt davon ab, wie wir mit den Grundrechten umgehen. Wir sehen überall in Europa die Tendenz, die Religionsfreiheit der Muslime zu beschränken. Wir haben hier in Holland eine Partei, die sagt, der Koran solle verboten werden. Aber es gibt auch in den muslimischen Gemeinschaften nicht wenige, die das Recht der Religionsfreiheit nur für sich beanspruchen. Und die Pflichten, die sich aus diesem Recht ergeben, nicht ernst nehmen.
Wird es gelingen?
Meine Freundin Ayaan Hirsi Ali sagt, dass es nie gelingen wird. Aber man kann doch zu den fünfzehn Millionen Muslimen, die heute in Europa leben, nicht sagen: Ihr werdet nie Teil dieser Gesellschaft sein.
Es gibt kein geschichtliches Beispiel, wo Religionen über längere Zeit friedlich miteinander gelebt haben.
Nein, aber die Religionsfreiheit als Grundrecht gibt es auch noch nicht so lange. Und deshalb müssen wir sie verteidigen, auch gegenüber Teilen der muslimischen Gemeinschaften, die zum Beispiel nichts wissen wollen von Muslimen, die vom Glauben abgefallen sind. Diese werden ausgestossen oder mit Gewalt bedroht. Sie wollen die Freiheit, verweigern sie aber einzelnen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft. Das ist inkonsequent und inakzeptabel.
Das Problem der Integration stellt sich doch nicht von Seiten der Eingesessenen. Wir bringen keine Muslime um.
Der Multikulturalismus ist gescheitert, weil er eine Philosophie des Nebeneinanders war und keine Antwort auf die Frage gab: Wie leben wir zusammen? Aber ich sehe auch, dass die Eingesessenen ihren freiheitlichen Idealen untreu werden. Es gibt Stimmen, die die Religionsfreiheit der Muslime nicht akzeptieren wollen und den Islam als Teil unserer Gesellschaft prinzipiell ablehnen. Das kann kein Weg sein.
Wie viel Immigration erträgt ein Land?
Benjamin Franklin, einer der Gründungsväter der USA, schrieb am Ende des 18. Jahrhunderts über die deutschen Einwanderer: «Sie sind daran, uns zu germanisieren.» Er hatte Angst, dabei lebten damals bloss zwei Millionen Menschen in den USA! Immigration hat viel mit dem Selbstbewusstsein einer Gesellschaft zu tun. Es gibt also keine klare Demarkationslinie, die besagt, dass man zehn Prozent Einwanderer erträgt, fünfzehn Prozent aber nicht mehr. Das hängt von den wirtschaftlichen Verhältnissen und vom kulturellen Selbstvertrauen ab. Aber heute besteht die Hälfte der Bevölkerung in Amsterdam aus Immigranten, die aus 174 verschiedenen Ländern kommen. Zwei Drittel der Schüler stammen aus Immigrantenfamilien. Das ist eine gewaltige Veränderung. Jede umfangreiche Immigration führt immer zur Konfliktvermeidung. Und wenn das nicht mehr funktioniert, kommt es zur Konfrontation. Ich sehe diese Konflikte als Dynamik einer Integration. Bloss, wir stammen aus Ländern, die eine Kultur der Konfliktvermeidung verinnerlicht haben. Das ist unser Problem.
Was sind die grössten Probleme der Immigration?
Die Demoralisierung der Immigranten, ein bekanntes Problem. Immigration bedeutet oft die Desintegration der Familie, weil die erste und die zweite Generation sehr wenige Berührungspunkte haben. Die Eltern sind in einer anderen Gesellschaft aufgewachsen, haben andere Wert- und Moralvorstellungen. Die Kinder aber sind schon anders.
Wie kann man die islamischen Gemeinschaften bei uns immunisieren für die internationalen Konflikte, die sie zunehmend radikalisieren?
Wenn man die Cartoons in Dänemark oder den «Fitna»-Film in Holland nimmt, dann sieht man, dass immer mehr Sprecher der muslimischen Gemeinschaften in arabischen Medien aufgetreten sind und gesagt haben: «Lasst uns in Ruhe! Eure Einmischungen in unsere Angelegenheiten sind kontraproduktiv. Wir können uns hier behaupten, sind frei, unsere Meinung zu sagen. Wir wollen es allein tun.» Es liegt in unser aller Interesse, wie das ausgeht. Ich habe mal im amerikanischen Fernsehen über den Islam gesprochen. Darauf reagierte eine Muslim-Organisation: «We demand the human right of self-definition.» Das ist doch lächerlich. Gehört der Islam den Muslimen? Nein, er geht uns alle an. Integration bedeutet doch gegenseitige Einmischung, nicht friedliche Koexistenz.
Was machen wir falsch? Gehen wir zu sanft mit den Einwanderern um?
Heute nicht mehr. Aber es ist klar, dass Parteien wie Vlaams Belang oder Ihre SVP aufgekommen sind, weil die etablierten Parteien diesem Problem zu lange ausgewichen sind, es nicht sehen wollten.
War der Populist Pim Fortuyn ein Hetzer, oder war er ein mutiger Politiker?
Er war mutig, weil er unabhängig seine Stimme erhoben hat. Deshalb teilte ich noch lange nicht alle seine Meinungen wie zum Beispiel, dass man die Grenzen für Einwanderer schliessen soll. Aber er hat wichtige Fragen gestellt und die klassischen Stellungen von links und rechts völlig durcheinandergebracht.
Was bringt Immigration?
Die Kosten und der wirtschaftliche Nutzen der Arbeitsimmigration seit Ende des Zweiten Weltkriegs halten sich in den meisten europäischen Ländern die Waage. Das ist für die Legitimation von Immigration schlecht. Denn wenn die Leute sehen, dass Immigration einer Gesellschaft wirtschaftlich etwas bringt, dann wird die Anwesenheit von Arbeitsimmigranten in einer Gesellschaft leichter akzeptiert. Die Kombination von Versorgungsstaat und Massenimmigration ist verantwortlich für den geringen wirtschaftlichen Nutzen. Das ist etwas völlig Neues in Europa. Es gibt heute eine sehr hohe Abhängigkeit von Immigranten vom Sozialstaat. Das trägt, um es gelinde auszudrücken, nicht gerade zur Legitimation der Immigration bei.
Sechzig Prozent aller erwerbsfähigen Türken und Marokkaner in Amsterdam sind arbeitslos.
Ja, eine Katastrophe.
Eine Einwanderung in den Sozialstaat.
Ich glaube nicht, dass Menschen auswandern, um arbeitslos zu sein. Mich interessiert letztlich auch die Schuldfrage nicht. Beide Seiten haben Fehler begangen. Aber es führt zu einer totalen Frustration der Jugend. Und mit der erweiterten EU ist das noch viel schlimmer geworden. Die Gewerkschaften und die Politik haben keine Vorstellung von Einwanderung, die Macht liegt bei den Arbeitgebern. Und das ist das Dümmste. Die überlegen sich als Letzte, was mit denen geschieht, wenn sie ökonomisch ausgedient haben. Die langfristigen Konsequenzen von solchem Treiben sind zum Beispiel, dass wir heute 600 000 türkische und marokkanische Arbeitsimmigranten mit ihren Familien in den Niederlanden haben. In zwanzig Jahren sollen es, wenn die Voraussagen stimmen, 1,2 Millionen sein. Hat sich da jemand etwas überlegt?
Hat der Sozialstaat die Tendenz, unsere Gesellschaft zu zerstören?
Immigration zwingt einen, über sich selbst nachzudenken. Deshalb muss man den Zugang zum Sozialstaat beschränken. In den Niederlanden hat man ein Gesetz verabschiedet, wonach man bis zum Alter von 27 Jahren keine Sozialhilfe mehr bekommt. Man hat nur die Wahl, sich weiterzubilden oder Arbeit anzunehmen. Eine gute Idee. Junge Immigranten sind grundsätzlich Menschen, die bereit sind, Risiken auf sich zu nehmen. Und die macht der Sozialstaat oft zu abhängigen, passiven Menschen.
Nehmen wir den Fall von Mohammed Bouyeri, dem Mörder von Theo van Gogh. Er ist das Sinnbild einer gescheiterten Integration. Die Eltern waren Analphabeten aus einem marokkanischen Dorf. Der Vater kommt nach Holland, arbeitet hart, die Frau kommt nach, ein Junge wird hier geboren, macht die Schulen, schliesst ab mit Abitur und kann studieren. Er hat 200 Jahre übersprungen, der Staat und die Gesellschaft haben ihm geholfen. Und er reagiert darauf, indem er diese Gesellschaft hasst.
Zuerst muss man sagen, dass es oft die besser Ausgebildeten sind, die politisch und religiös motivierte Vorbehalte gegen unsere Gesellschaft haben. Es wird an diesem Beispiel klar, dass die Idee, jemand identifiziere sich automatisch mit der Gesellschaft, wenn er einen guten Job und eine gute Ausbildung habe, zu einfach ist. Diese jungen Leute können sich nicht mit ihren Eltern identifizieren, die oft gesellschaftlich gescheitert sind, und sie können sich auch nicht mit der Gesellschaft identifizieren, von der sie sagen, sie habe ihre Eltern ausgenützt. Und dann gibt es das Angebot eines radikalisierten Islam als ein neues Zuhause. Zusätzlich existiert eine internationale Dimension. Jenseits der psychologischen Erklärungen rechtfertigt sich ein grosser Teil des Antriebes durch die internationalen Konflikte. Wenn man Bouyeri fragen würde, würde er sagen: «Reden wir über die palästinensischen Kinder, die israelischen Besatzer, über Tschetschenien, über die amerikanische Aggression im Irak.» So wie die Rote-Armee-Fraktion ihre Gewalt in Deutschland durch den Vietnamkrieg legitimiert hat.
Dies ist neu. Deutsche, Iren oder Italiener, die vor hundert Jahren nach Amerika auswanderten, haben sich nicht gegen ihre neue Heimat bewaffnet.
Die Drohung mit Terrorismus ist eine neue Situation. Ich kenne zum Beispiel eine Frau aus der Nachbarschaft, eine gebürtige Somalierin, die Familie hat in London. Sie war erschrocken darüber, wie hasserfüllt ihre Familie über Grossbritannien sprach. Die Entfremdung gegenüber der Gesellschaft ist Teil jeder Migrationsgeschichte, aber in Zeiten von internationalen Konfrontationen kann dies problematisch werden.
Ihre Hauptthese lautet: Immigration kann eine Chance sein, unsere schwache Gesellschaft stärker zu machen?
Ja. Aber ich meine es nicht so überschwänglich. Ich meine das ganz konkret, und es passiert. Man kann keine Forderungen an Immigranten stellen, die nicht sofort auf einen zurückschlagen. Man kann nicht verlangen, dass sie etwas wissen von europäischer Geschichte – ohne selbst etwas davon zu wissen. Deshalb haben wir jetzt in Holland viel mehr Geschichte im Unterricht. Immigration betrifft die ganze Gesellschaft, sie verändert sie. Immigration und Integration schneiden viel tiefer in unser eigenes Fleisch als dieser ganze sentimentale Diskurs über Multikulturalismus. Migranten können nur von einer Gesellschaft eingeladen und herausgefordert werden, die selbst einen starken Bürgerschaftssinn hat. Deshalb sind die bestehenden Probleme im Zusammenhang mit Migranten und ihren Kindern eine Zuspitzung allgemein gesellschaftlicher Probleme.
Schreiben die holländischen Zeitungen bei Verbrechen über die Herkunft der Täter, also ob er Marokkaner oder eingebürgerter Marokkaner oder Holländer sei?
Wenn es relevant ist, wird es erwähnt.
Dies ist in der Schweiz heute auch so. Vor fünf Jahren war dies aber noch eine riesige Diskussion, ob man das darf oder nicht.
Es gab bei uns dieselbe Diskussion. Aber ich habe immer gesagt, es gehe auch um Prävention. Wenn eine Gemeinschaft einen überproportionalen Anteil an Kriminellen hat, soll man untersuchen können, wo das herkommt, ob da zerstörte Familienverhältnisse sind, was wir tun können. Also sollten gerade diejenigen, die immer auf Prävention geschworen und vor Repression gewarnt haben, an einer Registrierung der ethnischen Herkunft interessiert sein.
Glauben Sie, nachdenken hilft?
Sonst würde ich kein Buch schreiben. Sonst hätte mein bisheriges Leben keinen Sinn gehabt. Natürlich hilft das.
Sie schreiben, nachdenken müsse weh tun.
Ja. Diese ganze Debatte in den letzten acht Jahren hat mir jedenfalls weh getan. Ich wurde angegriffen und als Rassist beschimpft.
Was sagt Ihre Frau dazu?
Meine Frau arbeitet seit dreissig Jahren mit Immigrantenfamilien. Sie ist Psychologin. Sie lässt sich nicht so leicht einschüchtern.
Der Hochdruckkessel Holland ist in den letzten Jahren geborsten. War das gut?
Ja, wir haben die Zeit des Ausweichens und Verdrängens hinter uns. Wir leben heute im Zeitalter der Konfrontation, und das ist gut so. Letztes Wochenende wurde Ahmed Aboutaleb, der aus Marokko stammt, zum Bürgermeister von Rotterdam gewählt. Er ist der erste muslimische Bürgermeister einer grossen europäischen Stadt. Warum wurde er gewählt? Weil er gut ist, aber auch weil er seiner eigenen Gemeinschaft immer harte Fragen gestellt hat. Konflikte sind also manchmal produktiv, sie können eine Gesellschaft schneller weiterbringen.
«Die Gewerkschaften und die Politik haben keine Vorstellung von Einwanderung»: Buchautor Scheffer.
Paul Scheffer
Tritt man in Paul Scheffers Haus, ergeht es einem wie immer in Amsterdam: Man steigt eine enge Treppe hinauf, stösst eine Tür auf, und es öffnen sich einem riesige Räume. So muss es am 29. Januar 2000 auch den Lesern seines Artikels «Das multikulturelle Drama» ergangen sein. Soziologe Scheffer bot dramatisch neue Einsichten in eines der grossen Themen der Zeit: die misslungene Integration der Eingewanderten, das Scheitern der Idee, dass alle Menschen, egal welcher Couleur, friedlich miteinander leben können. Der Artikel erschütterte ein Land, das sich immer als ein Vorbild der Toleranz verstanden hatte. Der 1954 geborene Scheffer wurde ein gefragter Mann und Professor an der Uni Amsterdam. Ende vergangenen Jahres legte er «Het land van aankomst» vor, das in Holland schon in der 14. Auflage und jetzt auf Deutsch unter dem Titel «Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt» (Hanser, Fr. 48.90) erschienen ist. Es handelt sich um ein Standardwerk, das alle wichtigen Fragen zum Thema Immigration umfassend und kritisch behandelt. So ein Buch fehlte.