Die Weltwoche / Von Eugen Sorg

18.12.2008

«In Jelzins Innerem brannte es»

Radio Echo Moskau ist der letzte unabhängige Sender Russlands und Alexej Wenediktow sein Chefredaktor. Die Veränderungen im Kreml erlebte er hautnah mit.

Sie waren Geschichtslehrer. Warum haben Sie diese ruhige Arbeit zugunsten des hektischen Radiojobs aufgegeben?

Es war das Jahr 1990, das Jahr, als das erste Mediengesetz unter Gorbatschow verabschiedet wurde. Da haben Freunde von mir beschlossen, ihr eigenes Privatradio zu gründen. Sie sagten mir, du hast ja Schulferien, du hast Zeit, und wer kann besser Fragen stellen als ein Schullehrer. Ich ging also hin und bin die nächsten achtzehn Jahre geblieben. Wobei ich die ersten acht Jahre beide Dinge gleichzeitig gemacht habe, also die Arbeit an der Schule und am Radio. Erst als ich zum Chefredaktor gewählt wurde, musste ich die Schule aufgeben.

Wieso haben Sie sich für das Radio entschieden?

Es kam mir interessanter vor. Ich sah mehr Möglichkeiten. Und ich hatte festgestellt, dass ich mich schlechter für die Schule vorbereitete als für die Sendungen. Einmal wartete ich im Vorzimmer von Jelzin auf einen Interviewtermin, während ich gleichzeitig Geografie-Arbeiten meiner Schüler auspackte, um sie durchzulesen und zu benoten. Plötzlich öffnete Jelzin die Tür, sah die korrigierten Arbeiten, die ich auf dem Boden gestapelt hatte, und die unkorrigierten, die vor mir lagen. «Was soll das?», fragte er mich. «Ich muss jede Minute ausnützen, sonst werde ich bis morgen nicht fertig damit.» – «Sie müssen schneller und besser arbeiten.»

Sie haben den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt, eine gewaltige Umwälzung nicht nur für Ihr Land, sondern für die ganze Welt. Wenn Sie heute zurückschauen, waren Sie sich damals bewusst, was sich abspielte?

Natürlich nicht. Aber da ich Geschichtslehrer bin, weiss ich, dass die Zeitgenossen es in der Regel nicht realisieren, wenn sie Augenzeugen von Jahrhundertereignissen werden. Wir sehen Gorbatschow, der erkältet ist und sich die rote Nase schnäuzt. Und das soll eine historische Persönlichkeit sein? Oder Jelzin, der schwankt und mit Mühe formuliert. Ist dies ein Mann für die Geschichtsbücher? Die nächste Generation wird diese Personen sicher in die Schulbücher aufnehmen. Aber wir sehen einen Kranken und einen Besoffenen, jemanden, der Witze reisst.

Wie wählten Sie die Themen aus? Wurden Sie vom Radio geschickt? Entschieden Sie selber?

Ich war damals 35 Jahre alt und hatte null Ahnung vom Journalismus. Ich ging dorthin, wo mich der Chefredaktor hinschickte. Er war ein Freund von mir und setzte mich daher grösseren und riskanteren Situationen aus als die anderen Mitarbeiter. Er wusste, dass ich es schaffe. Als Lehrer würde ich mit Leuten aus allen Schichten eine gemeinsame Sprache finden. Blutjunge Redaktoren hingegen konnte man nicht in das belagerte Parlament schicken, ins Weisse Haus, oder nach Tschetschenien.

Welche Figuren und Ereignisse haben Ihnen Eindruck gemacht?

Die Revolution Anfang der neunziger Jahre selbstverständlich. Alle Akteure, gleich welcher Ausrichtung, machten einen starken Eindruck auf mich. Ich habe bereits Gorbatschow und Jelzin erwähnt, aber auch der Vizepräsident und Fliegergeneral Ruzkoj, der 1993 gegen Jelzin putschte und mit dem ich gut bekannt war, oder Anatoli Tschubais, der Vater der Privatisierung.

Können Sie konkrete Beispiele erzählen, die diese Persönlichkeiten charakterisieren?

Was allen diesen Persönlichkeiten gemeinsam war: Sie hatten grosse und starke Überzeugungen, und ich würde sie sogar Romantiker nennen, demokratische Romantiker und reaktionäre Romantiker.

Was war die Überzeugung von Ruzkoj?

Ich kannte ihn, als er mit Jelzin zusammen war, als er sich gegen Jelzin auflehnte und auch nach Jelzin. Das sind drei unterschiedliche Personen. Die Revolution verändert die Menschen, sie zermalmt sie geradezu. Ruzkoj war diesen Härtetests der Geschichte nicht gewachsen.

Ruzkoj gab den Befehl, den Kreml zu bombardieren.

Ja, er befahl seinen Kameraden von der Luftwaffe, den Kreml anzugreifen. Ich war gerade bei ihm, um ihn zu interviewen, und er benützte zu diesem Aufruf mein Telefon, das direkt mit dem Radio verbunden war. Nachher machte mir Jelzin deswegen grosse Vorwürfe, und dies hatte Folgen.

Welche?

Im Januar 1994 lud Jelzin fünfzehn Journalisten zu sich ein. In der Regel setzt man sich hin, wo man will, es gibt keine vorgeschriebenen Plätze. Und nun sah ich, dass der Protokollführer mir einen Platz direkt gegenüber Jelzin zuwies. Dann kam der Präsident rein, setzte sich, schaute mich an und sagte: «Schäme dich. Radio Moskau, ein liberaler Sender, fordert die Armeeflugzeuge auf, den Kreml zu bombardieren.» Ich antwortete: «Boris Nikolajewitsch, ich machte nur meine Arbeit. Wenn man mich zu Ihnen geschickt hätte, hätte ich ein Interview mit Ihnen gemacht. Aber ich wurde zu Ruzkoj geschickt, also machte ich ein Interview mit Ruzkoj.» Er blieb eine Weile still, schaute mich mit bohrendem Blick an und meinte schliesslich: «Er hat also seine Arbeit gemacht, ein Arbeiter war er. Nun, dann lasst uns auch weiterarbeiten.» Von da an hat er mich ein wenig abschätzig behandelt, wie einen Tagelöhner, der schuftet. Es war eine unangenehme Situation.

Was für ein Charakter war Jelzin?

Er war wie ein Felsbrocken. Wenn ich zum Beispiel einen Politiker interviewe, versuche ich ihn unwillkürlich mit einem meiner Schüler zu vergleichen. Jelzin war introvertiert. Er wirkte langsam im Äusseren, aber im Inneren brannte es. In dieser Hinsicht ist er Putin ähnlich. Ich habe lange darüber nachgedacht, was die beiden verbindet. Beide sind introvertiert und im Inneren sehr fragil und beweglich.

Was brennt in diesen Männern?

Beide sind äusserst aufmerksam, was sie selber betrifft. Sie achten genau darauf, was konkret über sie geschrieben wird. Sie sind furchtbar egozentrisch, furchtbar selbstbewusst, äusserlich zumindest, aber innerlich sind sie sehr unsicher.

Sind sie vergleichbar, was ihre Überzeugungen betrifft?

Putin ist nicht als Politiker in die Politik eingestiegen, sondern über die Laufbahn eines Beamten. Er wurde zum Präsidenten ernannt, und Politiker ist er erst danach geworden. Dies im Unterschied zu Jelzin, der seinen Platz immer im Kampf erobern musste. Er musste durch Demütigungen und Niederlagen hindurch, aber es gab auch Siege. Putin hingegen weiss nicht, was eine politische Niederlage ist.

War Jelzin ein Demokrat?

Er versuchte die ganze Zeit ein Demokrat zu sein. Er kämpfte gegen sich selbst. Es gab hier eine Fernsehsendung wie die englische «Spitting Image», eine Sendung, die ihn praktisch jede Woche bespuckte und lächerlich machte. Der Generalstaatsanwalt eröffnete deshalb eine Anklage gegen diese Sendung. Darauf liess Jelzin den Generalstaatsanwalt und einige Journalisten zu sich kommen und sagte zu ihm: «Ich lasse dies über mich ergehen. Warum habt ihr keine Geduld?»

Jelzin offenbarte damit eine gewisse Grösse.

Mit diesem Verhalten bewies er vielleicht Grösse, aber nicht unbedingt demokratische Gesinnung. Aber er bemühte sich darum. Einige Zeit nach dem gescheiterten Staatsstreich von Ruzkoj besuchte er Kursk, wo jener nach Verbüssen seiner Haftstrafe zum Provinzgouverneur gewählt worden war. Es war das erste Zusammentreffen seit dem Putsch. Ruzkoj erzählte mir, dass er sich hinter dem Rücken seiner Beamten verstecken wollte, Jelzin aber direkt auf ihn zugesteuert sei und gefragt habe: «Wie kann ich eurer Region helfen?» Ruzkoj war gewählter Gouverneur, und Jelzin anerkannte dies und arbeitete mit ihm zusammen wie mit jedem anderen Gouverneur.

Wie war Gorbatschow?

Ich lernte ihn vor seinem Rücktritt kennen. Aber wir sind bis heute in Kontakt geblieben. Trotz des Alkoholverbots, das er initiiert hatte. Er ist eine grosse Persönlichkeit.

War er ein Demokrat?

Es ist gleich wie mit Jelzin. Beide waren keine geborenen Demokraten. Sie sind im Apparat gross geworden, und gerade hier sehe ich ihr Verdienst. Sie haben gegen sich selbst gekämpft und einen Sieg über sich selbst errungen. Freiwillig verzichteten sie auf ihre Machtposition.

Ein sehr seltenes Ereignis in der Geschichte.

Und wir sehen nur, dass sie eine verschnupfte Nase haben oder betrunken sind. (Lacht) Dabei spielte sich eine Revolution ab.

Welche unter den vielen aussergewöhnlichen Momenten waren die prägendsten?

Mein Leben ist noch nicht beendet. Ich glaube, die Hauptereignisse stehen noch bevor. Ich kann keine einzelnen Momente hervorheben. Grossartig war, dass ich eine Menge von interessanten Leuten kennenlernen konnte, die ich als Lehrer nie getroffen hätte. Angefangen mit Präsident Clinton über Condoleezza Rice bis Radovan Karadzic. Letzteren interviewte ich 1993 in meinem Studio, er war damals noch ein absoluter Romantiker. Und wie viele Romantiker verwandelte er sich in eine Bestie. Um ihre Zukunftspläne durchzusetzen, sind die Romantiker bereit, grosse Opfer in Kauf zu nehmen. Und in der Regel opfern sie die Leben der anderen. Was wiederum genau verhindert, die lichte Zukunft zu erreichen.

Was ist Ihnen von der Begegnung mit Clinton in Erinnerung geblieben?

Wir hatten nur 25 Minuten für das ganze Gespräch, und als er wieder einmal eine viel zu lange Antwort gab, versetzte ich ihm unter dem Tisch einen Tritt. Ich konnte es ihm nicht mit Handgesten verständlich machen, da rund um uns herum Kameras standen. Er verstand sofort und kürzte die Antwort ab. Natürlich konnte er dies nicht auf sich sitzen lassen, und als ich eine seiner Meinung nach etwas zu ausführliche Frage stellen wollte, landete sein Schuh an meinem Schienbein. Er war ein Profi.

Anfang der Neunziger blühte die Medienvielfalt auf. Heute jedoch ist Echo Moskau einer der letzten unabhängigen Sender. Hätten Sie sich einen derartigen Rückfall in autoritäre Zeiten vorstellen können?

Nun, wenn Sie sich erinnern, 1993 war es in gewisser Hinsicht noch schlimmer. Kolonnen von Putschisten zogen durch die Strassen, um Echo Moskau zu besetzen. Darauf stellten sich Hunderte von unseren Hörern vor dem Sender auf, um ihn zu schützen. Aber Sie haben recht, es ist insgesamt schwieriger geworden. Die Macht hat sich konsolidiert, alles ist bürokratisiert. Früher konntest du irgendeinen Politiker anrufen und mit ihm reden. Heute sagt er, ich müsse zuerst eine Genehmigung vom zuständigen Minister holen, damit er ihm erlaube, dass er zu meinem Sender komme und mit mir rede. Das hängt damit zusammen, dass viele ehemalige Geheimdienstler und Militärs, die ja an sich sehr verschlossen sind, in den Staatsdienst gekommen sind. Und auch die Gesetze sind entsprechend strenger geworden. Die Berichterstattung über den Nordkaukasus beispielsweise ist schwierig. Nicht nur wegen der Unzugänglichkeit der Region, sondern weil das Gesetz zur Bekämpfung des Extremismus verbietet, gewisse Informationen zu publizieren.

Herrscht eine Art Ausnahmezustand?

Etwas Ähnliches, ja. Und zu unserem grossen Bedauern müssen wir feststellen, dass Präsident Medwedew im Unterschied zu seinem Vorgänger Putin unseren Sender Echo Moskau hört und unsere Website liest. Dadurch ist unsere Arbeit schwieriger geworden.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit rangiert Russland in der Nachbarschaft von Saudi-Arabien und Simbabwe. Journalisten werden getötet, und viele geben ihren Beruf auf, weil er zu gefährlich ist. Wie gehen Sie mit diesem Druck um?

Es gibt objektive Zeichen für einen negativen Trend in den letzten acht Jahren. Insgesamt wurden 43 Gesetzesnovellen erlassen, welche alle die Pressefreiheit einschränken, und keine einzige Novelle, die unsere Möglichkeiten erweitern würde. In den letzten zehn Jahren wurden zwölf bis siebzehn Journalisten ermordet, aber in keinem Fall wurde bis zu Ende ermittelt. Es geht nicht darum, dass wir umgebracht werden, dies ist Teil unseres Berufsrisikos. Entscheidend ist, dass die Behörden diese Fälle nicht so untersuchen, wie sie es sollten. Hier wird der Journalist nicht als eine öffentliche Institution betrachtet, sondern vielmehr als Instrument in den Händen von jemandem.

Putins Einfluss ist immer noch gross. Was für ein Mensch ist er?

Er ist eine interessante Person. Er hat Fingerspitzengefühl, eine genaue Wahrnehmung. Innerlich ist er interaktiv, er reagiert sensibel auf Einflüsse, aber er gibt diese Reaktion nicht preis, er behält sie für sich. Die Dinge prallen nicht an ihm ab, wie es vielleicht scheint, sondern er nimmt sie auf und verdaut sie.

Wie ist sein Verhältnis zu den Medien?

Er hat sozusagen einen Gebrauchsansatz. Er betrachtet die Presse oder das Fernsehen als ein Instrument des Staates oder des Privateigentümers, das dazu da ist, gewisse Aufgaben, vielleicht auch tugendhafte, zu lösen. Und die Journalisten haben das zu sagen, was ihnen die Vorgesetzten auftragen. Das musst du in Rechnung stellen, wenn du mit Putin zu tun hast. Er sieht das so, er glaubt fest daran, es ist seine aufrichtige Überzeugung. Und es ist sehr schwer, eigentlich unmöglich, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

Was denkt Putin über Sie?

1991 lud er mich in den Kreml ein. Ausführlich erklärte er mir den Unterschied zwischen einem Feind und einem Verräter. «Feinde», sagte er, «stehen dir gegenüber, du führst Krieg mit ihnen, dann vereinbarst du einen Waffenstillstand, und alles ist klar. Einen Verräter aber muss man zerstören, zermalmen.» Dies ist seine Philosophie der Welt. Und dann fuhr er fort: «Weisst du, Alexej, du bist kein Verräter, du bist ein Feind.» Neulich hat er in einem halböffentlichen Rahmen geäussert, dass er unseren Sender als professionell geführt und nützlich für die Gesellschaft ansehe, aber er sei selbstverständlich mit den meisten von der Redaktion vertretenen Positionen nicht einverstanden. Ich war überrascht, dass er verstand, dass der Sender eine Plattform für die verschiedensten Personen ist, auch für diejenigen, die er überhaupt nicht akzeptiert. Und dass er einverstanden war, dass eine solche Plattform existiert.

Aber er könnte mit einem Telefonanruf den Laden schliessen.

Er könnte jeden beliebigen Laden schliessen. (Lacht)

«Als Clinton wieder einmal eine zu lange Antwort gab, versetzte ich ihm unter dem Tisch einen Tritt.»

Alexej Wenediktow, 53, ist seit 1998 Chefredaktor des unabhängigen russischen Radios Echo Moskau. Der Sender wurde 1990 gegründet und erhielt die Sendelizenz Nr. 1 des neuen Mediengesetzes unter Gorbatschow.

«Die Revolution zermalmt die Menschen geradezu»: Chefredaktor Wenediktow.

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