Am nächsten Morgen ist alles wieder gut

Sie wohnen in den Slums von Jakarta, sie verdienen ihr Geld mit Müll, und sie lieben das Leben. Geschichten aus der Megacity.

Von Eugen Sorg und Nathan Beck (Bilder)

Der Tag begann mit Pistolenschüssen. Vier zivil gekleidete Polizisten waren in der Morgendämmerung in eine Hütte in Kali Jodo eingedrungen, einem Quartier in der indonesischen Hauptstadt Jakarta, und führten nach einem kurzen Schusswechsel drei junge, bleiche Männer in Handschellen ab, wobei der dritte nach zehn Minuten grinsend wieder zurückkam und sich auf der Veranda der Hütte eine Zigarette anzündete. Die Szene spielte sich zwanzig Meter vor unseren Augen ab, jedoch niemand ausser einer Hand voll Kindern und uns zwei Besuchern aus dem Westen schien sich dafür zu interessieren. «Nichts Aussergewöhnliches», lächelt Keling etwas verlegen auf unsere Frage und zuckt mit den Achseln, «nichts Gefährliches.» Gefährlich, fügt er nach einem kurzem Moment ernst hinzu, seien hier nur die Geister. Aber was soeben passiert sei? «Drogenhändler. Und der Freigelassene ist vielleicht ein Informant der Polizei.» Sicher ist, dass er mehr weiss, aber er hatte keinerlei Veranlassung, mehr darüber zu sagen.

Keling, ein etwa 24-jähriger, kleiner, kräftiger, dunkler Mann (Keling bedeutet «sehr dunkle Haut») mit einem intelligenten Gesicht, hatte uns am Vortag angesprochen, als wir durch Kali Jodo spazierten. Er wirkte scheu, aber freundlich, und er war sichtlich erstaunt, Leute wie uns in diesem Viertel anzutreffen. Er hatte noch nie vorher mit Weissen geredet, wie sich später herausstellen sollte. Wir unterhielten uns, und es zeigte sich, dass er mit sieben Kollegen eine Gruppe bildet, die als eine Art selbständige Umweltaktivisten arbeitet. Das heisst, sie sammeln mit einem Schubkarren Plastikabfälle, die sie dem «Boss», ihrem Händler, verkaufen, der sie wiederum an eine Recyclingfabrik weiterverkauft. Sowohl der Boss als auch die Gruppe wohnen in Kali Jodo. Als wir ihn fragten, ob er uns zeigen würde, wie er arbeitet und lebt, war er einverstanden, und wir verabredeten uns auf den folgenden Morgen. Er würde uns als Erstes auf eine Abfalltour mitnehmen.

Das Erstaunen Kelings, als er uns begegnete, war verständlich. Keiner, der nicht dort wohnt, und schon gar kein reicher Weisser würde sich dorthin begeben. Die Siedlung ist eine endlose, lang gezogene Ansammlung abenteuerlicher Bretter- und Wellblechverschläge, die ganztags im Schatten liegt und unter einer Stadtautobahn errichtet wurde. Der vom achtspurigen Verkehr nach unten sinkende Smog mischt sich mit den ekelerregenden Gerüchen aus einem brüchigen Kanal respektive einem trägen Fluss, die zu beiden Seiten der Hütten braun, undurchdringlich und voller Unrat unter der Tropensonne dampfen, und dringt in die feinsten Ritzen der Wohnungen, der Kleider und der Haut. Kali Jodo, «Fluss der glücklichen Liebesbegegnung», ist einer der vielen Slums der Megacity Jakarta.

Eine, vielleicht auch zwei Millionen leben wie Keling und seine Freunde in selbst gebastelten Hütten entlang den Highways, die wie Schneisen durch die wuchernde Elfmillionenmetropole gehauen wurden; oder entlang den Schottertrassees der Eisenbahnen; oder auf Holzpfählen über den städtischen Kanalkloaken. Es sind rechtsfreie und wirtschaftlich kaum nutzbare Räume, wer sich dort einnistet, ist behördlich inexistent, braucht aber auch keine Miete zu bezahlen. Jakarta ist chaotisch, verdreckt und überfüllt, und trotzdem wächst es jährlich um geschätzte 300000 Menschen. Von 15000 Inseln mit 3000 Sprachen und Dialekten strömen Leute in die indonesische Megalopolis, ohne Geld, aber mit der Hoffnung auf etwas Glück. Die Existenz unter den Autobahnpfeilern gilt ihnen als Durchgangsstation auf dem Weg zum besseren Leben. Aber ihr Alltagskampf ist weit mehr: In ihm werden die traditionellen Dörfler umgeschmolzen zu urbanen Menschen, und die reiche Verschiedenheit ihrer Überlieferungen und Lebenskulturen wird eingedampft zu dem universalen Wissen, dass nur überlebt, wer die Augen offen behält.

«Keling, warum lebst du unter einer Brücke und nicht in einer Villa?» – «Ich würde gerne in einem grossen Haus leben, aber ich bin nicht lange genug zur Schule gegangen.»

«Bist du eifersüchtig auf die Reichen?» – «Manchmal ja. Aber wir haben hier ein Sprichwort: Sperre das schlechte Gefühl in dir ein, und vergiss es.»

«Was meint Gott zu arm und reich?» – «Gott kontrolliert das Schicksal. Ich glaube an das Schicksal. Meines ist es, arm zu sein.»

«Kann sich das Schicksal wenden?» – «Sicher.»

«Kann man es beeinflussen?» – «Das ist schwierig. Ich bin zuunterst in der Gesellschaft, ich bin ein Abfallsammler. Eine feste Arbeit und ein kleines Haus wären das Höchste für mich.»

«Warum raubst du keinen Reichen aus?» – «Das ging mir schon durch den Sinn. Aber ich bin Vater, und wenn das Geld für meine Kinder von schlechten Taten kommt, wenn Blutgeld meine Kinder ernährt, dann wird der Familie etwas Schlimmes zustossen.»

Auf Tour im Chinesenviertel

Als wir uns zur Abfalltour aufmachen wollen, bekommt Keling plötzlich Bedenken. Es sei zu anstrengend für uns, meint er, zu heiss, der Verkehr unzumutbar, und übrigens sei gar nicht sicher, ob er für heute Morgen vorgesehen sei. Was ist los? Auf Nachfragen gesteht er, dass es ihm etwas unangenehm sei, mit uns unterwegs zu sein. Nicht wegen uns, entschuldigt er sich, aber alle Leute würden dann auf ihn schauen, und er sei schüchtern. Wir versprechen, dass wir in der Hälfte der Runde aussteigen würden, Keling willigt schliesslich ein und stellte uns Adi vor, seinen besten Freund. Er mache die Tour immer mit Adi.

Es ist sechs Uhr morgens. Kinder treten blinzelnd vor die Türen, Männer husten Nikotinschleim aus den Bronchien, Hunde balgen sich, Gänse schnattern, und an einem Wasserloch neben dem Fluss waschen sich wunderschöne junge Frauen, die sich kichernd weg- drehen, als wir vorbeigehen, wie zufällig den über der Brust geschlossenen Sarong rasch öffnen, neu wickeln und uns dabei halb verlegen, halb spöttisch aus den Augenwinkeln beobachten. Keling und Adi rufen ihnen etwas zu, ein Kompliment oder Anzüglichkeiten, worauf die Mädchen noch mehr kichern.

Die Tour führt über lärmige Kreuzungen und Hauptstrassen in chinesische Wohnviertel, wo dicke, bleiche Mädchen sich von Velotaxis in die Schule fahren lassen und die chinesischen Ladenbesitzer die massiven Gittertüren ihrer Geschäfte öffnen. Einmal zieht Keling den Karren, und Adi fischt die Flaschen aus dem Müll, dann wieder tauschen sie die Rollen. Adi ist klein wie Keling, aber zierlicher und erinnert mit seinen hohen Backenknochen, dem geraden, in die Stirn fallenden Haar und dem Kindergesicht, das unversehens wie dasjenige einer alten, faltenlosen Frau aussehen kann, an einen Vietcong-Soldaten. Die beiden legen ein Höllentempo hin, wirken aber nach einer Stunde immer noch frisch und bestens gelaunt, während wir schon nach einer Viertelstunde nass geschwitzt sind und mit Schwindelgefühlen zu kämpfen haben. Eine normale Tour dauert vier Stunden. Nach eineinhalb Stunden bitten wir um eine Pause. Auf einem inselartigen Platz inmitten einer der labyrinthischen Grosskreuzungen sinken wir unter einen Baum. Neben uns legt ein Coiffeur seine Scheren auf einer Kiste aus, zwei fliegende Küchen bieten Suppen an, einige Frauen und Kinder, die offenbar hier wohnen, legen Kleider zum Trocknen auf die Büsche. Keling treibt zum Frühstück irgendwo eine Flasche hiesigen Rotweins auf, eine süsse, klebrige Substanz. Er brauche dies nur, weil wir dabei seien, meint er, es mache stark und mutig. Er lacht und rollt seinen strammen Bizeps. Nachdem sie die Flasche geleert haben, brechen sie wieder auf. Wir wünschen ihnen viel Erfolg und sehen zu, wie sie im Getümmel der Fahrzeuge verschwinden. Sie werden am Nachmittag noch eine zweite Runde machen.

Sie glaubten, er sei tot

Keling hatte mit 13 sein Dorf im Westen Javas verlassen und war nach Jakarta gegangen, alleine. Er wollte nicht sein Leben lang Reis ernten und sich langweilen, wie er sagt, sondern unabhängig sein und frei. Als Strassenhändler verkaufte er Zeitungen, Softdrinks, Zigaretten, er schlief im Laden eines Verwandten, und als er nach drei Jahren zum ersten Mal wieder sein Dorf besuchte, brach die Mutter in Tränen aus. Die Eltern hatten geglaubt, er sei tot. Einige Wochen später kehrte er nach Jakarta zurück, diesmal hatte ihm die Familie etwas Geld mitgegeben, er mietete sich eine Wohnung und fand Arbeit in einer Fabrik. Irgendwann ging diese Pleite, und da er keine neue Anstellung mehr fand, zog er aus dem Zimmer aus und schlug sich durch mit diversen Taglöhnereien. Er sammelte Eisenschrott, trug Lasten, nicht immer lief alles rund, wie er andeutete, und vor drei Jahren schloss er sich dem Abfallkollektiv unter der Brücke an. Wenn Keling von sich erzählt, tönt es nüchtern und pragmatisch wie ein Rapport. Nie hört man eine Klage oder ein Jammern. So ist das Leben, scheint er zu sagen, und man hat nicht den Eindruck, dass ihn dieses betrübt.

«Was hast du lernen müssen, als du nach Jakarta kamst?» – «Jakarta ist hart. Ich lernte, dass ich allein für mich verantwortlich bin. Arbeit, Essen, einen Platz zum Schlafen: Niemand hilft dir, für alles musst du selber schauen.»

«Wie wichtig sind Freunde?» – «Du bist niemand im Leben, wenn kein Freund hinter dir steht. Sogar die Ehefrau steht an zweiter Stelle.»

«Was braucht man, um zu überleben?» – «Kraft, Energie, Stärke, man muss tragen können und laufen. Und es braucht Geduld. Oft wirst du bei der Arbeit beleidigt, aber du darfst nicht reagieren. Geduld ist eine Stärke der Intelligenz.»

«Worin bist du gut?» – «Ich werde nicht krank. Ich habe eine gute Gesundheit und eine starke Natur.»

«Was ist deine schlechte Seite?»- «Wenn ich krank werden würde.»

Die meiste Zeit verbringt Keling mit den Kollegen seiner Gruppe. Sie koordinieren die Arbeit, legen Geld für Wein, Bier und Zigaretten zusammen, gehen gemeinsam aus. Da sie auf engstem Raum wohnen, wissen sie alles voneinander, sie sind wie eine Familie, in der aber niemand versucht, den anderen zu verändern.

Rus zum Beispiel ist der Schweigsame, Typ freundlicher Türsteher, nicht hübsch, nicht besonders hell, aber sehr männlich, mit akkurat gepflegter Teddyfrisur und muskelbepacktem Modellkörper, den er bei jeder Gelegenheit zur Geltung bringt. Von Jari wiederum geht eine ständige Unruhe aus. Er ist sprunghaft und redet viel und kann einem dabei nicht in die Augen schauen. Obwohl er oft prahlt und lügt, wird er von den anderen nie korrigiert und blossgestellt. Joko dagegen ist eine schlichte, unbekümmerte Natur. Er ist stolz auf seine Tattoos am Oberkörper, und es genügt, den Namen «Bruce Lee» auszusprechen und den Daumen in die Höhe zu halten, um jedes Mal eine halbminütige Lachsalve zu ernten.

Der Einzige der Gruppe, der nicht im Ressort Abfall tätig ist, ist Budi. Er besitzt eine Trillerpfeife und arbeitet als selbst ernannter Verkehrspolizist an einer der chronisch verstopften Kreuzungen ganz in der Nähe. Es gibt bessere Jobs, als für zwei Franken Trinkgeld sieben Stunden lang in Hitze und Abgas mit den Armen zu fuchteln und dabei aufzupassen, dass man nicht zerquetscht wird. Aber der Posten war begehrt. Schon mehrmals musste die Gruppe eingreifen und einen Konkurrenten von Budis Kreuzung vertreiben. Budi, indonesisch: «kluger Bursche», sieht aus, als hätte ihm jemand Salzsäure übers Gesicht geschüttet. Er hat weder Augenbrauen noch Wimpern, und die Haut sieht verätzt aus. Ein Geburtsfehler, sagt er ungerührt, und ein Vorteil in seinem Job. Die Leute hätten Mitleid.

Manchmal setzt sich jener Mann zur Gruppe, der am ersten Morgen verhaftet und wieder freigelassen worden ist. Er heisst Rudi, hat eine Vokuhila-Frisur, lächelt immerzu und wirkt entspannt. Keling und die anderen behandeln ihn mit Respekt, bringen ihm sofort Bier und bieten Zigaretten an. «Rudi ist der Chef dieses Gebiets», sagt Keling, nachdem wir uns besser kennen gelernt haben. «Was macht ein Chef?» – «Er zieht das Geld für den Strom ein.» Alle Hütten haben elektrischen Strom, irgendeine Leitung ist angezapft worden. «Nur das Stromgeld?» Keling zögert. «Vielleicht», räumt er schliesslich ein, «hat er noch Geld von den Prostituierten auf der anderen Seite des Flusses.» – «Wie wird man Chef?» – «Wenn man viele Leute kennt. So wie Rudi.»

Rudi ist offensichtlich eine Art Pate, ein «preman», wie man die Tausenden von kleinen und grösseren mafiosen Bosse hier nennt. In einer unregierbaren Stadt wie Jakarta übernehmen private Gruppen und Individuen die Kontrolle über Wohnviertel, Märkte, Restaurants, Vergnügungsstätten. Oft arbeiten sie mit dem Staat zusammen, indem sie einzelne Beamte mit an ihren Einkünften beteiligen, oder sie liefern ihnen ab und zu einen Kriminellen aus, vorzugsweise unliebsame Konkurrenten, wie wahrscheinlich im Fall von Rudi. Wie der Staat ziehen sie Steuern ein und liefern dafür Schutz. Wie der Staat bestrafen sie denjenigen, der nicht zahlen will. Und genau wie bei Regierungen gibt es «gute» und «schlechte» Chefs.

Dass Chefs existieren, immer und überall, ist für Keling und seine Freunde so selbstverständlich wie ein Naturereignis. Und mit ihrem Chef scheinen sie nicht unzufrieden zu sein. Sie fühlen sich hier sicher, sagte Keling, und die Kollegen nickten. Einmal sei aus einem der Häuser ein Videogerät gestohlen worden. Rudi habe sich darum gekümmert. Nach kurzer Zeit sei das Gerät wieder aufgetaucht und der Dieb gefunden worden. Rudi habe eben überall seine Leute. Was mit dem Dieb passiert sei? Ein bisschen verprügelt sei er worden.

Im Kino sagte er ihr, dass er sie liebe

An einem dieser Tage bekam Keling Besuch von seiner Frau. Sie wohnt mit den zwei Kindern bei ihren Eltern auf dem Dorf und unternimmt mindestens alle zwei Wochen die dreistündige Busfahrt nach Jakarta, um ihren Mann zu sehen. Sie heisst Eka, ist winzig, feingliedrig, mit einem offenen Gesicht. Keling erzählt, dass er sich sofort in sie verliebt habe, als er sie vor sechs Jahren zum ersten Mal sah. Er war damals 18 und arbeitete in der Fabrik, sie war 14 und Babysitter beim Chef. Er habe jeden Vorwand benutzt, ins Haus zu gehen, um sie zu sehen. Schliesslich lud er sie ins Kino ein, in einen indischen Streifen. Dort habe er ihr gesagt, dass er sie liebe, und sie habe geantwortet, sie liebe ihn auch. Wie im Film sei es gewesen, erzählt er weiter, und seine Frau, die zugehört hat, strahlt. Noch immer würde er gerne indische Filme anschauen, sagt er, und wir verabreden uns auf den nächsten Tag zum Kinobesuch.

Die Männer haben ihre besten T-Shirts angezogen, die Hemdkragen hochgestellt, tragen Turnschuhe statt Flipflops, Muskel-Rus tätschelt seine Frisur behutsam in die perfekte Form, und die Frauen und Freundinnen haben sich mit ein paar raffinierten Tricks und Retuschen ästhetisch optimiert und sehen allesamt hinreissend aus. Wir sind mittlerweile bestimmt zwanzig Leute, eine stolze, fröhlich leuchtende Galatruppe, die sich auf einen grossen, gesponserten Kinoabend freut, und es hätte mich nicht erstaunt, wenn bei unserem Gang durch die Slumbaracken die Bewohner vor die Türen getreten wären und applaudiert hätten.

Nur Budi, der Verkehrspolizist, wirkt etwas abwesend und traurig. Um das Handgelenk trägt er einen Verband. «Was ist passiert?» Budi winkt ab. «Komm. Lass sehen.» Budi nimmt den Verband ab. Quer über die Innenseite des Gelenks zog sich ein tiefer, frischer Schnitt. «Er war gestern Abend betrunken», schaltet sich Keling ein, «und hat versucht, sich umzubringen.» Er sagt dies völlig beiläufig. Budi nickt. «Seine Frau hat ihn verlassen.» – «Und woher kommen diese hier?» Neben der frischen Wunde sind noch, wie Kerben im Schaft eines Gewehrs, mindestens zehn ältere, vernarbte Einschnitte zu sehen. «Dieser entstand, als die Mutter starb», antwortet Budi, «und dieser, als…» Er denkt einen Moment nach und dreht sich dann müde weg. Keling blinzelt mir zu. So ist der nun mal, scheint er zu sagen, jeder Mensch hat irgendwelche Marotten.

Unterwegs gesellt sich der geschwätzige Jari zu mir. Sehr zuvorkommend, geleitet er mich über Strassen, schaufelt mir im Kleinbus einen Platz frei, holt mir im Kino zu trinken, lotst mich nach dem Ende des sirupigen Leinwandmelodramas durch die Menge. Er ist neben mir, hinter mir, streicht um mich herum wie eine Katze, und wenn ich ihn für einen Moment nicht sehe, spüre ich seine Anwesenheit. Er hat ziemlich getrunken, wirkt aber hyperwach, wie in einem Zustand magnetischer Konzentration. Die Lider hat er mit einem Kajalstift nachgezogen, was den hungrigen, leicht irren Glanz in seinen Augen verstärkt.

Ich habe seine Aufmerksamkeiten zuerst nicht beachtet, plötzlich aber fallen sie mir auf, drängen sich in meine Wahrnehmung, bis ich merke, dass ich kaum mehr an etwas anderes denken kann. Etwas in mir ist alarmiert – ich fühle keine Angst, aber ich stelle mich instinktiv auf erhöhte Wachsamkeit ein. So oft es geht, behalte ich meine Hand in der Hosentasche, wo mein Portemonnaie steckt, und kontrolliere fast zwanghaft, ob ich mein Natel noch habe. Oder tue ich Jari Unrecht? Will er einfach nur höflich sein, sich von seiner besten Seite zeigen, und ich bin ein Idiot? Ich schaue mich nach Keling und Adi um. Sie haben Jaris Verhalten ebenfalls bemerkt, und je länger es dauert, desto mehr scheint es ihnen zu missfallen. Sie sagen nichts, aber ihre ausgelassene Stimmung verfliegt zusehends, und am Ende des Abends, als ich ihnen aus dem Taxi zum Abschied winke (Jari hat mir freundlicherweise beim Einsteigen geholfen), bewegen sie kaum ihre Arme, und ihre Gesichter blicken ernst.

Ein Beinchen durchgebissen

Am nächsten Morgen ist alles wieder gut. Wir fahren mit Keling und Adi zu einem Hahnenkampf, und unterwegs entschuldigen sie sich für den gestrigen Abend. Wofür? Jari, sagen sie, die Sache mit Jari. Welche Sache? Es tue ihnen Leid, sagen sie, Jari sei ein Dieb. Ob mir das nicht aufgefallen sei? Er sei ein Taschendieb und habe deswegen schon mehrmals im Gefängnis gesessen. Das sei, scheint’s, antworte ich, ein gefährlicher Beruf. Ich habe gelesen, dass in Jakarta jedes Jahr Hunderte von ertappten Dieben von der erbosten Menge zu Tode geprügelt oder mit Kerosin übergossen und bei lebendigem Leib verbrannt würden. Ein sehr gefährlicher Beruf, bestätigten sie, doch sie sind mit ihren Gedanken längst woanders.

Wir haben unterdessen den Kampfplatz erreicht. Ein Hinterhof voll von Männern, die leidenschaftlich fachsimpelnd um Korbkäfige herumstehen, in denen stolze Hähne mit den Köpfen ruckeln. Die Besitzer preisen deren Stärke und Kampflust und loben die metallene Schärfe des Schnabels. Sie wollen möglichst viele Wettwillige gewinnen. Keling wirkt bereits etwas fiebrig. Auf dem Weg hierhin hat er in zwei Grillenkämpfe investiert, quasi als Appetitanreger, und beide Male war seiner Grille innerhalb einer Sekunde ein Beinchen durchgebissen worden. Der Verlust von umgerechnet einem Franken, einem halben Tagesverdienst, war nicht riesig, aber gross genug, um jenes kranke Sehnen zu kitzeln, das den Befallenen zwingt, gegen das Schicksal anzutreten.

Keling und Adi entscheiden sich für ein gesprenkeltes, schwarzweisses Tier, einen sehnigen, aggressiven Kämpfer, der laut Besitzer dem letzten Gegner den Hals durchgehackt hat. Für den Einsatz, zwei Tagesverdienste, müssen sie ihre Taschen leeren. Es wird ruhig im Hinterhof, als die zwei Hähne in die kleine Arena gesetzt werden, Schnabel gegen Schnabel, die Nackenfedern gesträubt, und sich aus bösen Vogelaugen anstarren. Der andere ist etwas grösser, mit prächtigem rotgrünem Gefieder, und er explodiert einen Bruchteil schneller als der unsrige, als er in die Luft springt und versucht, blitzschnell den Sporn in den Kopf oder den Körper seines Feindes zu schlagen.

Bei jedem Treffer heult das Publikum auf. Die Tiere belauern sich, versuchen sich gegenseitig in den kleinen Schädel zu hacken, in die runden Äuglein, den faltigen Hals, einer treibt den Schnabel in den Kamm des anderen, reisst und zerrt dessen Kopf nach unten, um ihn mit einem jähen Krallenhieb aufzuschlitzen.

Eine Runde dauert 15 Minuten, und theoretisch kann ein Fight über fünf Runden gehen. Die erste Runde scheint Stunden zu dauern, als endlich die Pause eingeläutet wird, ist es eine Erlösung. Der Rotgrüne liegt klar in Führung und wirkt frisch. Unserm Hahn dagegen geht es nicht gut. Ein Auge ist nur noch halb geöffnet, der Kopf dunkelrot geschwollen und voller Blut, offene Wunden an Brust und Flügeln.

Die zweite Runde ist nach drei Minuten zu Ende. Unser Kämpfer startet mit einer überraschenden und fulminanten Attacke, verliert aber bald an Schwung, fängt an zu klammern mit seinem Hals wie ein müder Boxer und steckt schliesslich seinen Kopf unter den Flügel des Gegners, zitternd, er wolle nicht mehr kämpfen. Er ist besiegt, gedemütigt, bereit, alles herzugeben, nur um sein Leben zu retten.

Irak-Krieg? Nie gehört

Mich erstaunt, dass Keling den erneuten Geldverlust ohne eine Miene zu verziehen hinnimmt und auf einen weiteren Wetteinsatz verzichtet. Wo er diese Selbstbeherrschung gelernt habe? Im Gefängnis, antwortet er, dort habe er Disziplin und Respekt gelernt. Im Gefängnis? Eineinhalb Jahre habe er gesessen. Wegen einer Prügelei. Nur wegen einer Prügelei? Sie seien zu acht gewesen und hätten den anderen halb tot geschlagen. Zu acht: Ob das nicht feige sei? Der andere sei stark und bekannt gewesen, aus einem anderen Quartier, und er habe einen Freund angerempelt und beleidigt. War der Preis nicht etwas zu hoch? Nein, es ging um Freundschaft. Joko hätten sie ebenfalls erwischt, die Namen der sechs anderen habe aber keiner von ihnen verraten.

Im Gefängnis, fährt er fort, habe er gelernt, sich gut zu benehmen und Streit aus dem Weg zu gehen. Jeder Neue sei zusammengeschlagen worden, erst von den Wärtern, dann von den Gefangenen. Es ging um Geld und Unterordnung. Man habe nie ins Gesicht geschlagen, man wollte keine Spuren hinterlassen. Wenn einer starb, hiess es, er habe ein schwaches Herz gehabt oder einen kranken Magen. Das Gesetz war einfach: Entweder wurde man geschlagen oder man liess schlagen. Er habe es bis zum Vize-Zellenchef gebracht, obwohl er kein Geld hatte. Insgesamt, so bilanzierte er, sei es keine schlechte Zeit gewesen. Ausser, dass es im Gefängnis keine Mädchen gab.

«Kennst du Bill Clinton?» – «Nein.»

«Jennifer Lopez?» (Keling hat ein Poster des Stars im Zimmer aufgehängt.) – «Ja. Ich kenne alle hübschen Mädchen.»

«Mike Tyson?» – «Nein.»

«Elvis?»- «Nein.»

«Rolling Stones?» – «Nein. Frag mich etwas, das ich weiss. Über indische Filme zum Beispiel.»

«Osama?» – «Nein.»

«Irak-Krieg?» – «Nein, nie gehört. Hör auf, sonst frage ich dich über indische Filme aus.»

Es war selbstverständlich, dass wir unseren Abschied im Royal feiern würden. Keling und Adi haben schon einige Male von diesem Ort erzählt, ihrem Ort, es muss eine Art Disco sein, mit Livemusik, kühlem Bier und vielen Mädchen. Wann immer sie etwas Geld übrig haben und ihre Frauen abwesend sind, gehen sie dorthin. Sie sprühen vor Vorfreude und bändeln schon unterwegs immer wieder mit Mädchen an. «Ah, da bist du ja», wendet sich Keling im Bus überrascht an die unbekannte Sitznachbarin und spielt den Schmollenden, «wo warst du gestern Abend? Ich habe auf dich gewartet.» Das Mädchen hält sich lachend die Hände vor den Mund. «Schön siehst du aus», sülzt Adi einer jugendlichen Passantin zu, «also, bis bald, wie versprochen. Ich werde dich in meinem Auto abholen.» Die Auserwählte versteckt sich kichernd hinter ihren Freundinnen.

«Wie wichtig ist Sex?» – «Das Wichtigste.»

«Was machst du, wenn deine Frau nicht da ist?» – «Dann kann ich hin, wo ich will. Zum Beispiel ins Royal, um Mädchen zu treffen.»

«Was weisst du über Aids?» – «Aids ist, wenn du auf die Toilette gehst und merkst, dass dein Urin rot ist und dein Hoden anschwillt.»

«Wie kriegt man Aids?» – «Von Frauen.»

«Wie schützt man sich?» – «Erstens: Kein Sex mit einer Frau, wenn man hungrig ist. Zweitens: Vor dem Sex eine Pille Antibiotika nehmen.»

«Benützt du Kondome?» – «Nie. Die Mädchen kriegen von der Familienplanung Anti-Baby-Spritzen.»

Das Royal ist ein 600 Meter langer Abschnitt eines Bahntrassees, beidseitig gesäumt von Holzbuden, von unzähligen kleinen, meist rot beleuchteten Bars und einigen Minirestaurants. Auf dem Trassee, zwischen den beiden Geleisen, stehen Tische und Bänke. Immer wenn ein Zug anrollt, springen die Leute den Schotterdamm hinunter, warten, bis die funkensprühende Walze wieder in der Nacht verschwunden ist, und steigen zurück auf ihre Plätze. Die Bänke stehen nur etwa dreissig Zentimeter von den Schienen entfernt, aber sie liegen ein wenig niedriger als die Zuggehäuse, so dass sie nicht mitgerissen werden.

Wir finden einen freien Tisch und bestellen Bier. Über unsern Köpfen hängt ein schmutziger blauer Vollmond, auf einer Stromleitung rennt eine Ratte, ich wische mir einen dicken Käfer vom Oberschenkel. Der Ort wimmelt von Menschen, und auch in der Dunkelheit kann man unschwer erkennen, dass die eine Hälfte Habenichtse und die andere Prostituierte sind. Dies ist definitiv keine Lokalität, die je in einem Cityguide empfohlen wurde. Trotzdem scheint eine unaggressive, fröhliche Stimmung zu herrschen. Auf jeden Fall in unserer Gruppe.

Soeben ist Adi wieder aufgetaucht, im Arm eine junge Frau. Die Kollegen trommeln vor Freude auf die Tischplatten, feixen, zeigen auf seinen Schritt. «Schaut, so hoch steht er schon.» Das Mädchen lacht ebenfalls und versetzt Adi einen Nasenstüber, worauf die beiden im Getümmel verschwinden. Nach zwanzig Minuten trudelt Adi wieder ein, «glücklich», vermeldet er grinsend, zündet eine Zigarette an und streckt zwei Finger in die Höhe. Zweimal, heisst dies, zweimal habe er es gemacht.

Später geht’s hinüber zur Liveband. Joko schnappt sich ein Mikrofon und singt, alle anderen tanzen. Rus, strahlend, mit weichen Bewegungen, eine Tempelgöttin, die Bodybuilding-Übungen vorführt; Adi, drahtig, federleicht, ein Dschungelkrieger mit Rhythmusgefühl; Keling, heidnisch leuchtend, die Bewegungen nur andeutend, nie die Umgebung aus den Augen verlierend; oder Budi, der seine Krise überwunden hat, Gummigelenke, Schlangenhüften, lasziv, beseelt, ein Gossen-Dalai-Lama mit unnachahmlichem Tanzstil.

«Was werden deine Söhne tun, wenn sie gross sind?» – «Nicht den gleichen Job haben wie ich. Sie sollten Kyai werden, muslimische Lehrer. Das ist ein respektierter Beruf, und die Ausbildung ist nicht so teuer.»

«Sex und Islam: Gibt das keine Probleme?» – «Sex existiert unabhängig von deiner Person. Er ist eine grosse Macht in jedem Menschen. Sogar ein Kyai kann deswegen tief fallen. Ich lernte im Gefängnis einen kennen. Er war eingesperrt worden, weil er Sex mit einer Schülerin gehabt hatte.»

«Bist du glücklich?» – «Ja.»

«Warum?» – «Weil ich glücklich bin. Weil ich eine Familie habe und weil ich meine Kinder ernähren kann.»

Wieder ist es Jari, der nach Mitternacht ins Taxi half. Aus Höflichkeit oder in der letzten Hoffnung auf eine Beute. Durchs Rückfenster nicken wir den Brückenleuten nochmals zu, Adi und Keling flanieren mitten auf der Strasse, Hand in Hand, sie grüssen zurück, werden kleiner und kleiner, bis sie sich im schwarz gleissenden Horizont auflösen. g

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