Basler Zeitung
27.05.2014
Die jüngste Abstimmung trifft die Eurokraten in Brüssel wie eine schallende Ohrfeige.
Aufstand im Euroland
Von Eugen Sorg
Mit einem kleinen PR-Trick versuchten die EU-Strategen das chronisch tiefe Publikumsinteresse an europäischen Wahlveranstaltungen zu steigern. Erstmals traten die grösseren Parteien bei den jüngsten Parlamentswahlen mit so- genannten «Spitzenkandidaten» für den Posten des Kommissionspräsidenten an. Abgesehen davon, dass kaum jemand weiss, dass solch ein Amt existiert, und noch weniger, welchem Zweck es dient, wird der Präsident zudem ohnehin von der stärksten Partei und nicht vom Stimmvolk bestimmt. Die Personalisierung sollte aber die politische Temperatur und die Aufmerksamkeit für das Wahlgeschehen steigern. Die Konservativen präsentierten Jean-Claude Juncker, abgewählter Ministerpräsident des Zwergstaates Luxemburg, ein blasser, intrigengestählter Bürokrat. Die Sozialisten wiederum portierten den nassforschen Deutschen Martin Schulz, glückloser ehemaliger Bürgermeister der Kleinstadt Würselen und heutiger europäischer Parlamentspräsident. Beide lieferten sich in verschiedenen TV-Shows Scheinduelle. Doch die Rechnung der Europolitiker ging nicht auf.
Nicht nur blieb wie bei allen Wahlen der letzten Jahre weit mehr als die Hälfte der 400 Millionen Stimmberechtigten zu Hause, auch die neuen Mitgliedsstaaten in Osteuropa erzielten gar neue, «besorgniserregende» (Tages-Anzeiger) Rekorde der Wahlabstinenz. Was die Brüsseler Eurokraten aber wie eine schallende Ohrfeige traf, war die Tatsache, dass euroskeptische Parteien in beinahe allen der 28 Mitgliedstaaten, vor allem aber in mächtigen wie Grossbritannien und Frankreich, überwältigend zulegen konnten. Erste Schätzungen gehen von einem 30-Prozent-Anteil an den abgegebenen Stimmen aus. Und dies, obwohl die EU, das «Projekt Europa», die Unterstützung der linksliberalen Eliten geniesst.
Alle Politiker oder Publizisten, die eine kritische oder ablehnende Position gegenüber der EU einnahmen, wurden vom Gros der Medien mit Schmähungen eingedeckt. Als ob Euroskepsis keine politische Einstellung, sondern ein Charakterdefekt sei. Ihre Namen werden nicht ohne den Zusatz «schrill», «rechtsaussen», «Europahasser», «fremdenfeindlich», «rassistisch und islamophob» erwähnt. Und die Fotoredaktionen der Medien verstärken diese Charakterisierungen regelmässig mit ausgesucht unvorteilhaften Bildern der «Rechtspopulisten». Während im Gegensatz dazu den EU-Befürwortern a priori attestiert wird, aus einer Position der Menschenfreundlichkeit heraus zu handeln und zu denken.
«Die Resultate zeigen London als eine offene, tolerante und farbige Stadt», twitterte die Labour-Abgeordnete und ehemalige Ministerin Tessa Jowell nach den Europawahlen. In London hatte die euroskeptische Partei Ukip von Nigel Farage im Gegensatz zum übrigen Land wenig Stimmen erhalten. Eine vermeintliche moralische Überlegenheit sollte Jowell darüber hinwegtrösten, dass ihre europhile Partei gerade eine demütigende Niederlage kassiert hatte. Berufspolitikerin Jowell übersieht dabei, dass ihr weltoffenes «London» eine kleine, reiche Blase ist, das innerstädtische London der Finanzspezialisten, Spitzenbeamten, Anwälte, Lobbyisten, Medien- und Werbekader. Deren Kontakt zur sozialen Aussenwelt verläuft vornehmlich über Kindermädchen, Chauffeure, Pförtner, Putzfrauen aus aller Herren Länder. Toleranz ist aus dieser feudalen Position wohlfeil zu haben. Der Durchschnitts-Engländer kann sich die Gegend aber längst nicht mehr leisten.
Viele Journalisten unterliegen derselben Wahrnehmungsverengung wie Dame Jowell. Sie funktionieren als Aktivisten einer scheinbar fortschrittlichen Idee und übergehen in grandioser Überheblichkeit, was sich direkt unter ihren Augen in der Realität abspielt. Im ganzen Euroland, von Irland bis Italien, von Polen über Frankreich bis nach Portugal, findet ein Aufstand statt. Ein «Bauernaufstand», wie es Londons Bürgermeister Boris Johnson nennt, «eine Jacquerie», ein grenzüberschreitender, bis jetzt friedlicher, mit Stimmzetteln statt mit Mistgabeln ausgetragener Aufstand einer unordentlich gemischten Truppe. Wie damals der schmarotzende Adel ist heute das Bürokratiemonster von Brüssel Objekt des wachsenden Unmutes. Anstatt sich über die ungehobelten Tischmanieren des undankbaren Pöbels zu enervieren, wie weiland die blasierten Oberschichtler, sollten die Medienleute sich besser auf ihre primäre Aufgabe besinnen und sich mit den Ursachen der Unzufriedenheit befassen. Beispielsweise damit, wie eine demokratisch nicht legitimierte Clique mit fürchterlichen Fehlentscheiden die Zahl der Langzeitarbeitslosen innert wenigen Jahren verdoppelt, ganze Volkswirtschaften in den Bankrott treibt und über zehn Prozent der arbeitsfähigen Europäer auf die Strasse stellt.
Konservative bleiben knapp vor Sozialdemokraten
Brüssel. Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) kommt gemäss vorläufigem Ergebnis auf 213 von insgesamt 751 Mandaten und ist damit stärkste Kraft im EU-Parlament, auch wenn sie gegenüber den letzten Wahlen 61 Sitze verloren hat. Die Sozialdemokraten holen 190 Sitze (-6). Drittstärkste Kraft bleiben die Liberalen mit 64 Abgeordneten (-19), gefolgt von den Grünen mit 53 Mandaten (-4). Rechtsorientierte und populistische Parteien legen insgesamt von 64 auf 142 Mandate zu.
Von Grossbritannien aus rief UKIP-Chef Nigel Farage nach seinem «Jahrhundertsieg» ein Ende der europäischen Integration aus. Die Tories von Premier David Cameron landeten hinter der Labour Party auf Platz drei. «Die Menschen sind von der EU tief enttäuscht», schob der konservative Regierungschef im BBC-Radio den Schwarzen Peter nach Brüssel. «Die Menschen wollen Veränderungen.» Cameron hat den Briten für 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU zugesagt. Auch in Skandinavien schnitten die Rechtspopulisten besser ab als erwartet.
Der scheidende EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zeigte sich besorgt über den Erfolg eurokritischer Parteien. «Wenn man daraus einen Trend machen will, dann diesen: Die Menschen auf der Strasse haben den Eindruck, dass sie nicht mehr kontrollieren können, was passiert.»