Basler Zeitung

02.05.2014

Ungarn – eine Reise durch das Orban-Land

Zu Hause grandios wiedergewählt, wird der Premierminister im Westen argwöhnisch beäugt. Was ist da los?

Von Eugen Sorg, Budapest

Der Schock sitzt immer noch tief. «Es ist eine Tragödie», sagt Julia Vasarhelyi, schüttelt den Kopf und schaut an die Decke der Hotellobby in Budapest, wo wir uns gegenübersitzen. «Ich verstehe mein Land nicht mehr. Vor 25 Jahren waren wir Ungarn die Wunderkinder des Ostens und jetzt sind wir in die Fänge eines Mafia-Staates, eines krakenhaften Machtsystems geraten.» Julia (63) bekannte Polit-Journalistin aus Budapest, redet von den jüngsten Wahlen in Ungarn.

Zwei Wochen zuvor waren der Ministerpräsident Viktor Orban und seine patriotisch-konservative Partei Fidesz (Bund Junger Demokraten) mit grosser Mehrheit wiedergewählt worden. Und, noch bedenklicher, die an den politischen Rändern mit antisemitischen («Juden sind Heimatverräter») und antiziganistischen («Zigeuner sind faul und kriminell») Ausfällen irrlichternde Partei Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn) kam auf 20 Prozent aller Stimmen. Die Fünf-Parteien-Allianz «Regierungswechsel» der Linken fuhr eine vernichtende Niederlage ein und hat als politisch ernst zu nehmende Kraft für die nächsten Jahre aufgehört zu existieren.

Das düstere Urteil Vasarhelyis über den Zustand ihres Landes hat sicher damit zu tun, dass sie als Linke zu den grossen Wahlverlierern gehört. Und obwohl sie keine dogmatische Sozialistin ist, teilt sie die Grundüberzeugung der linksliberalen europäischen Eliten, dass Gebilde wie Nationen oder Kirchen historisch überholt seien. Wer ihnen anhängt, muss rückständlerisch, naiv oder, wie Orban, verlogen und gefährlich sein. Aber die Journalistin, Tochter von Miklos Vasarhelyi, einem der bedeutendsten ungarischen Publizisten, belässt es nicht bei pauschalen Urteilen.

Detailliert zählt sie auf, wie Orban seit seiner Wahl 2010 begonnen habe, die Gesellschaft systematisch umzukrempeln. Die Wahlkreise seien neu gezogen worden, das Verfassungsgericht zurückgebunden, eine Flut von neuen Gesetzen erlassen, die Medien juristisch domestiziert, strategische Posten mit eigenen Leuten besetzt. Alles habe einem einzigen Zweck gedient: die Demokratie zu schwächen und die persönliche Macht auszubauen.

Auf meinen Einwand, das Volk sei aber offenbar mit Orban zufrieden gewesen, ansonsten nicht beinahe die Hälfte der Ungarn ihn wiedergewählt hätten, entgegnet sie, dass vor allem in der ländlichen Bevölkerung eine noch sehr patriarchale Mentalität vorherrsche und autoritäre Führerfiguren bewundert würden. Als ich darauf hinweise, dass in 96 von 106 Wahlkreisen die Mehrheit für Fidesz eingelegt hätte, also mitnichten nur die bäuerlichen Schichten, meint sie, das Volk sei eben «uninformiert und politisch nicht interessiert». Es würde hauptsächlich das staatliche, weil gebührenfreie Fernsehen konsumieren, das wie mittlerweile auch die meisten privaten Medien von Orban-Getreuen kontrolliert würde. Vasarhelyi scheint überzeugt zu sein, dass alle, die für die Rechte gestimmt haben, letztlich unmündige, unterbelichtete und manipulierte Subjekte sind.

Perfid sei vor allem, fährt sie fort, dass Orban seine Politik als nationales Erweckungsprojekt verkaufe. Selber ein Mann «ohne Ideologie und ohne Ethik», ein neureicher, verantwortungsloser Par­venü, ein kleiner Putin, schüre er chauvinistische Vorurteile und dumpfe Aversionen. Er sei nicht offen nazistisch wie die Vertreter von Jobbik, sondern gebe sich moderater, um die vernünftigeren Bürger und vor allem die EU, die viel Geld ins Land pumpt, nicht zu erschrecken. Doch unterschwellig bediene er die Ultranationalisten, sende immer wieder Signale, die besagen sollen, «wir sind auf eurer Seite».

Lange habe er zum Beispiel eine Visitenkarte mit einem Aufdruck der Umrisse von Gross-Ungarn gehabt. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Ungarn durch den Vertrag von Trianon zwei Drittel seines Territoriums und die Hälfte seiner Bevölkerung verloren und war auf einen Schlag vom stolzen Königreich zur unbedeutenden Steppenrepublik geschrumpft. Trianon ist eine schmerzende nationale Wunde geblieben, die Forderung nach Wiederherstellung des alten Staatsgebietes jedoch bedeutet Krieg mit den Nachbarn.

Vasarhelyi berichtet von weiteren alarmierenden Zeichen, wie dem Denkmal, das auf dem Freiheitsplatz in Budapest in Erinnerung an die deutsche Besatzung Ungarns vom März 1944 errichtet werden soll. Das Monument zeigt einen Adler, Symbol für Hitlers ­Armee, der über den goldenen Erzengel Gabriel, Symbol für Ungarn, herfällt.

Mit skeptischem Optimismus

Das sei eine bösartige Geschichts­fälschung, sagt Vasarhelyi. In Wirklichkeit hätten die Deutschen, ohne einen Schuss abfeuern zu müssen, Ungarn eingenommen. Und hätten mit tatkräftiger Hilfe der Pfeilkreuzler, der einheimischen Nazis, und willigen Helfern aus der Bevölkerung in den letzten Monaten des Krieges 600 000 ungarische Juden zusammengetrieben und ermordet. Indem das von Orban bestellte Denkmal die Ungarn als unschuldige Opfer darstelle, wolle er von deren tiefer Verstrickung in den Holocaust ablenken.

Die Vasarhelyis sind eine jüdische Familie, viele Angehörige wurden damals getötet. Die Journalistin ist herkunftsbedingt mit einem sensitiven Frühwarnsystem ausgerüstet, was Diskriminierung und Verfolgung betrifft. Als Jobbik zur politischen Kraft aufstieg, habe ihre Mutter mit Angst in den Augen gesagt: «Julia, das ist wie 1944.»

Ist Orban eine Gefahr für Ungarn oder gar für die umliegenden Länder, wo, wie Vasarhelyi behauptet, ehrgeizige und skrupellose Nachahmer bereitstünden, inspiriert durch die scheinbare Leichtigkeit, mit der man eine demokratische Ordnung aushebeln kann? Hat sich eine Mehrheit der Ungarn von den Werten eines aufgeklärten und zivilisierten Zusammenlebens verabschiedet? Sind Fidesz-Wähler tumb, xenophob und latent rassistisch?

Um mehr darüber zu erfahren, reise ich in den abgelegenen Nordosten des Landes, in das Gebiet um Tokaj, eine der ältesten Weinregionen der Welt. Die Gegend hat früher sozialistisch gewählt, jetzt ist sie Fidesz-Land. Es ist ein Zufall, dass ich dorthin reise. Tibor, ein ungarischer Bekannter, hat mich eingeladen. Er wird mich einigen Landsleuten vorstellen, Unternehmern, Weinbauern, Weinliebhabern. Um es vorwegzunehmen: Die Menschen, denen ich dort begegne, entsprechen in keiner Weise dem von ­Julia Vasarhelyi entworfenen Bild. Alle sind sie reflektierte Zeitgenossen, die mit skeptischem Optimismus Ungarns Zukunft beurteilen, unideologisch, welterfahren, mit pragmatischem Sinn für die Realität. Alle haben sie Fidesz gewählt.

Als Erstes unterhalte ich mich mit Peter Molnar. Aufgewachsen in der Region, kehrte er nach einem Studium in Budapest mit Abschluss in Philosophie in die Rebberge seiner Jugend zurück und ist heute CEO eines über dreihundert Jahre alten Weinguts, das nach der Enteignung durch die Kommunisten und der darauf folgenden kompletten Verwahrlosung 1990 wieder in familiären Privatbesitz überging. Heute werden die er­lesenen Tokajer-Weine wieder auf den Weinmessen der ganzen Welt mit Preisen ausgezeichnet.

Molnar vertraut dem Politiker Orban. Dem Land gehe es in jeder Hinsicht besser. Nach acht Jahren sozialistischer Regierung sei Ungarn 2010 vor dem Kollaps gestanden. Orban habe die Wirtschaft wieder auf Vordermann gebracht, das Haushaltsdefizit massiv reduziert und die Schulden von 20 Milliarden Euro der EU und dem IWF vollständig zurückbezahlt. «Die Zukunft ist wieder berechenbar geworden, es kann investiert werden.»

Das Volk weiss, was richtig ist

Auf den Antisemitismus von Jobbik angesprochen, antwortet Molnar, hier in den Dörfern mache man keine Unterschiede zwischen den Menschen. «Man ist Teil der europäischen Kultur.» Kein ernst zu nehmender Mitbürger würde Jobbik unterstützen. Jobbik-Wähler seien enttäuschte ehemalige Linke, Ungebildete, Frustrierte und Junge, die schnelllebigen Trends hinterherrennen würden. Bis jetzt habe die Partei keine Macht und das Wichtigste sei, dass sie auch weiterhin nicht an die Schaltstellen gelange. Aber er habe keine Angst um Ungarn, das Volk wisse, was richtig und was falsch sei.

Tamas Dusocky, ein weiterer Gesprächspartner, ist Grossmeister der Innung der Tokajer Winzer. Der vitale 83-Jährige war in seiner Jugend ungarischer Velochamp im Strassenrennen, dann flüchtete er vor den Kommunisten in die Schweiz, studierte an der ETH Zürich Physik und Mathematik und erwarb einen Schweizer Pass. Nach der Pensionierung und dem Zusammenbruch des Kommunismus kam er mit seiner Schweizer Frau nach Ungarn zurück und kaufte sich ein Weingut, auf dem er heute lebt. Schon sein Vater und sein Grossvater hatten Rebberge besessen. Er ist ein fesselnder Erzähler, und wenn er über die Geschichte des Weins redet, was er am liebsten tut, ist das wie eine Reise durch die Jahrhunderte und Kontinente und Zivilisationen.

Orban habe er kennengelernt, als er noch Parlamentarier war und es um eine neue Weinverordnung ging. Dessen wache Intelligenz und die Fähigkeit, sofort Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können, seien ihm aufgefallen. Der könnte ein guter Politiker werden, habe er gedacht, einzig seine Ungeduld könnte ein Problem werden. Er habe dessen Werdegang verfolgt und miterlebt, wie Orban schon 1998 erstmals zum Premierminister gewählt wurde mit 37 Jahren, der jüngste ganz Europas.

Seine politische Leistung sei enorm, er habe die hoch korrupte alte kommunistische Garde endgültig aus dem Spiel genommen. Zwar sei bei den immer noch zu zahlreichen Beamten weiter ei­- ne Verhinderungs-Mentalität verbreitet. «Das zu überwinden braucht eine Generation.» Aber die Richtung stimme und der Wirtschaft gehe es langsam besser.

«Orban hat ein ethisches Fundament», ist Dusocky überzeugt, «und ist kein Machtzyniker.» Er habe zum Beispiel mehr für die Minderheit der Roma getan als sämtliche früheren Regierungen. Wenn die Eltern ihre Kinder nicht zur Schule schickten, so ein neues Gesetz, dann würde ihnen das Kindergeld gestrichen. Jetzt gingen alle Roma-­Kinder zur Schule. Ähnlich habe er die Arbeitslosigkeit bekämpft. Er strich das Fürsorgegeld für arbeitsfähige Stellen­lose, schuf im Gegenzug viele Staats­stellen. Billigjobs zwar, aber ein erster Schritt zurück in die Arbeitswelt.

Für die nationalistischen und abenteuerlichen Mythen eines heroischen Urvolkes der Ungarn, die vor allem von rechten Kreisen mit Hingabe kultiviert werden, hat Dusocky nicht viel übrig. Nur vier Prozent der Bevölkerung stammten genetisch von den magyarischen Stämmen ab, die im neunten Jahrhundert, angeführt von Grossfürst ­Arpad, Ungarn gegründet hätten. Dies habe eine Studie ergeben. Der Rest seien Rumänen, Tschechen, Bulgaren, ein einziger, grosser Mix. «Lasst uns also freundlich sein mit unseren Nachbarn», lacht er, «wir sind alles Brüder.»

Zu schnelle und zu viele Gesetze

Grundsätzlich positiv, wenn auch nicht vorbehaltlos, würdigt auch Laszlo Meszaros das Wirken Orbans. Der rund vierzigjährige Agroingenieur, ein höf­licher, etwas schüchterner Mann, ist Direktor eines sich in französischem Besitz befindlichen stattlichen Weingutes, das sich über hundert Hektaren an die sanften Abhänge der vulkanischen Tokajer Hügel schmiegt. Orban sei ein guter Politiker, meint Meszaros, nachdem er nachgedacht hat. Er könne Ziele erreichen, die er sich vorgenommen hat. Leider habe er keinen ernsthaften Gegner mehr. Doch Demokratie brauche die Konkurrenz als Korrektiv, und Orban neige zu autokratischem Verhalten. Er erlasse zu schnell und zu viele Gesetze, um seine Ideen durchzuboxen. Oder dieses Denkmal auf dem Freiheitsplatz: Das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen. «Es ist unpassend. Ungarn ist nicht unschuldig.» Aber viele seiner Landsleute hätten Mühe, die dunklen Seiten ihrer Vergangenheit zu sehen. «Wir sind unausgeglichen. Wir sind sehr stolz auf unsere Geschichte, aber kippen schnell in Pessimismus, wenn was schiefläuft, und sind bereit, andere zu beschuldigen.»

Die Schwerkraft der Realität

Die ausländischen Medien würden oft übertreiben, was Ungarn angehe. Es gebe natürlich Antisemitismus, aber der durchschnittliche Ungar sei kein Rassist. Sogar Jobbik hätte sich mässigen müssen, weil die laute Art nicht ankam. Es gebe tatsächlich Probleme mit den Roma, auch von diesen selbst verursachte, und es gebe auch Vorurteile. «Man muss sie nicht lieben, doch man muss mit ihnen zusammenleben können», dies sei die Auffassung der meisten Ungarn. Orban habe übrigens viel für die Integration getan. In keinem anderen Land gebe es unter den Roma mehr Künstler und Intellektuelle als hier.

Das gleiche Land, die gleiche Zeit, die gleichen Geschehnisse, aber Berichte darüber, die sich in nichts gleichen. Wenn Julia Vasarhelyi von Ungarn erzählt, ist es, als würde sie von einem anderen Land reden als die Tokajer Weinunternehmer. Dies ist überall auf der Welt so, aber vielleicht ist es in Ungarn ausgeprägter. Das Land sei ein soziales Labor, meint ein ungarischer Freund, der in der Schweiz lebt, eine alte Nation mit einer verwirrlichen Historie voller Triumphe und Katastrophen, auf der Suche nach einer Identität, die für den Aufbruch in die neue Zeit taugt. Wahrheit und Mythos verschwimmen ineinander, Gewissheiten sind eine Frage der subjektiven Befindlichkeit. Und doch existiert die Schwerkraft der Realität. Ob am Ende des Monats etwas Geld übrig bleibt, ob man die Ausbildung der Kinder bezahlen kann, ob jeder ohne Angst durch die Stadt spazieren kann – diese Dinge entscheiden darüber, wie das Urteil über Orban ausfallen wird. Ob er ein guter Politiker war oder ein schlechter.

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