Basler Zeitung

16.03.2018

Eine Frage der Moral

Der Krieg nährt den Krieg

Von Eugen Sorg

Die meisten der heute lebenden Europäer haben keinen Krieg mehr erlebt. Sie sind nach 1945 geboren und aufgewachsen in einer nun seit über siebzig Jahren andauernden Periode des Friedens. Krieg ist für die pazifistischen, auf Dialog, Toleranz und Gruppentherapie gestimmten europäischen Zeitgenossen etwas Fremdes geworden, eine archaische Veranstaltung, ein atavistischer Kropf aus einer zivilisatorischen Frühzeit. Er passt nicht mehr ins Heute und wird verschwinden, so die vorherrschende, aber naive Auffassung, wenn nur endlich alle Menschen zu denselben materiellen und kulturellen Segnungen Zugang haben werden wie wir privilegierten Westler.

Dabei wird aber ausgeblendet, dass sich die europäische Friedensära ironischerweise in erster Linie dem zerstörungsmächtigen militärischen Schutzschirm Amerikas verdankte, der sowjet-kommunistische Expansionsgelüste in Schach hielt. Und es werden andere, auch irrationale, unberechenbare, in der Natur des Menschen liegende Motive übersehen, die für den Ausbruch und den mitunter für alle Beteiligten verheerenden Verlauf von Kriegen mitverantwortlich sind.

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass in jüngster Zeit gleich drei deutschsprachige Publikationen erschienen sind, die sich auf unterschiedlichste Weise mit dem Dreissigjährigen Krieg befassen, jener menschengemachten Katastrophe, die im 17. Jahrhundert weite Teile Mitteleuropas verwüstete. Angesichts des anhaltenden und sich ausweitenden Gemetzels im Vorderen Orient, in der Sahelzone und in Südostasien und der Migration von Millionen hauptsächlich jungen Männern aus diesen Krisengebieten nach Europa wächst hier die Beunruhigung. Der Krieg ist plötzlich wieder sehr nahe und real. Das Bedürfnis nach Einordnung und Orientierung wächst, und die Verhältnisse im Europa der frühen Neuzeit sind vergleichbar mit jenen entlang den blutigen Rändern der heutigen Wohlstandszonen. Es ist verlockend, vierhundert Jahre zurückzublicken, um sich in die verstörende neue Gegenwart besser hineinversetzen zu können.

Eine grosse Leserschaft fand der Roman «Tyll» von Daniel Kehlmann. Der Schriftsteller schickt seinen Helden Tyll Ulenspiegel, einen Gaukler und Spötter, auf eine Reise durch die Wirren des Dreissigjährigen Kriegs. Die Brutalitäten der Zeit werden vergegenwärtigt, die Gewalt, der Hunger, die Seuchen, der Aberglaube, der unbarmherzige und verlogene Fanatismus der katholischen wie der protestantischen Geistlichkeit, aber auch die kaltblütige List und der amoralische Charme, die einer entwickeln muss, um sich in einer Welt durchzuschlagen, in der ein Menschenleben nichts wiegt.

Monika Marons Roman «Munin oder Chaos im Kopf» wiederum spielt in der Gegenwart. Protagonistin Mina Wolf, eine freie Texterin, schreibt für eine westfälische Kleinstadt an einer Auftragsarbeit über den Dreissigjährigen Krieg. Während sie sich in die geschichtlichen Quellen vertieft, entwickelt sich unter den Anwohnern ihrer Berliner Strasse ein wüster Nachbarschaftsstreit. Die allein lebende Mina gleitet in eine düstere Stimmung ab, der Streit belastet sie, dazu kommen bedrohliche Nachrichten aus aller Welt über Terroranschläge, Kriege, Flüchtlingsströme, Klimawandel, und in der Nähe wird ein junge Frau von zwei südländisch aussehenden Männern überfallen. Gegenwart und Szenen aus ihrer historischen Lektüre schieben sich immer mehr ineinander, bis ihr die «Vorkriegszeit» des Dreissigjährigen Kriegs wie eine «grobe Vorlage für die Gegenwart» erscheint.

Auch für den Politologen und Militärhistoriker Herfried Münkler sind die kriegerischen Ereignisse des 17. Jahrhunderts eine Art Vorlage für die Gegenwart, genauer für die aktuellen Kriege im Nahen und Mittleren Osten. Beide haben grosse Ähnlichkeiten, schreibt er in seinem gelehrten und packenden Grosspanorama «Der Dreissigjährige Krieg: Europäische Katastrophe, deutsches Trauma». Sie sind geprägt von Unübersichtlichkeit, entfesselter Grausamkeit, religiösem Endzeitglauben und einer Vielzahl kämpfender Truppen und ausländischer Einflussnehmer. Staatliche Heere, Söldnerarmeen und marodierende Haufen vernichten kontinuierlich die gesellschaftlichen Lebensgrundlagen. Der Krieg nährt den Krieg, und er endet erst, dies Münklers illusionsloses Fazit, wenn die Kriegsparteien gleichermassen erschöpft und ausgeblutet sind.

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