Das Magazin

29.05.2010

Der Ponte Tower

Ein 54-stöckiger Turm erzählt von Südafrikas Verblendung, Hoffnung und Scheitern

Von Eugen Sorg Bilder David Southwood

«Ihr dürft weder den Core, den Innenhof des Turms, fotografieren noch Abfallhaufen und auch nicht das benachbarte Quartier. Nichts, was ein schlechtes Licht auf das Gebäude werfen könnte. Sonst werde ich euch verklagen.» Jaap, seit einem Jahr Verwalter des Ponte Tower im südafrikanischen Johannesburg, des Wohnturms mit dem vielleicht schlechtesten Ruf weltweit, mustert den Fotografen Dave und mich mit einer Mischung aus Drohung und Missbilligung und schiebt uns eine Erklärung zur Unterschrift über den Bürotisch zu. Die Besitzer des Turmes gaben uns die Erlaubnis, aus dem Inneren zu berichten. Ginge es jedoch nach Jaap, würde er jeden auf dem Gelände herumschnüffelnden Journalisten verjagen, so, wie er es in seinem früheren Leben als Chefaufseher eines Naturparks mit Wilderern machte.

Der robuste, 60-jährige Bure ist nicht nur für die Ordnung und Sicherheit des Gebäudes zuständig, das einen Steinwurf entfernt vom Ellis-Park-Stadion liegt, einer der beiden Arenen in Johannesburg, wo am 11. Juni die Fussballweltmeisterschaft beginnt Jaap fühlt sich auch für dessen Ansehen verantwortlich. Letzteres ein Vorhaben, so vollkommen uneinlösbar, dass nur epochale Sturheit oder verzweifelte Realitätsabschottung dahinterstecken können. Der Ponte Tower ist längst ein Mythos, eine urbane Saga, die sich selber fortschreibt und von der neueren Geschichte Südafrikas berichtet, von Verblendung, Umwälzungen, gescheiterten Hoffnungen und Wiederauferstehungen. Sogar Jaap scheint zu ahnen, dass er höheren Mächten gegenübersteht, gegen die er weder mit Verboten noch mit Leugnen noch mit seiner Jägerlizenz etwas ausrichten kann. Auf die Frage, mit welchen Problemen er es als Verwalter zu tun habe, sagt er knapp: «Früher lebten hier Weisse. Mit Weissen geht es gut. Jetzt sind hier Schwarze, und die sind schwierig zu führen. Unser Land war wunderbar, nun ist es kaputt.» Dann gibt er Philemon, seinem Sicherheitschef, den Auftrag, uns zu begleiten und dafür zu sorgen, dass wir keine unerlaubten Aufnahmen machen. Philemon, ein gross gewachsener Schwarzer in Uniform, hat die ganze Zeit im Raum gestanden, stumm und ohne eine Miene zu verziehen.

In der Skyline von Johannesburgs City sticht der Ponte Tower schon von weitem heraus. Er ist rund, schlank, eine schwebende, pappelhafte Silhouette inmitten klobiger Wolkenkratzer. Seine Krone bildet eine Vodacom-Reklametafel, deren Blinken man nachts bis nach Soweto sehen kann. Kommt man näher, verschwindet allerdings der Eindruck schwereloser Eleganz. Es fällt das dreckige Grau seines rohen Betonmantels auf und die industrielle Eintönigkeit seiner metallenen Fensterfassungen.

1976 im Stil des New Brutalism gebaut, eine zylinderförmige, 54-stöckige Wohnmaschine für 3000 bis 4000 Menschen, eine vertikale Kleinstadt, damals das höchste Gebäude der südlichen Hemisphäre, galt der Ponte als Ikone der Modernität, ein Symbol für den Sieg der geruchsneutralen Rationalität über zeitbedingte Sonderinteressen und Leidenschaften. Der Geist der Zweckmässigkeit, die Ästhetik des geometrisch gezirkelten Habitats würde wie von selbst auf die Bewohner übergehen und auch deren Beziehungen dem Gesetz der Funktionalität und der kollektiven Vernunft unterwerfen, hiess das geheime Versprechen des Johannesburger Wabenmonsters.

«My big erection»

Errichtet auf einer Felsbank, grenzt der Ponte Tower an Hillbrow, in den Siebzigern ein weisses, lebendiges, kosmopolitisches und junges Stadtviertel. Cafés trugen Namen wie «Wien» oder «Zürich», es gab Buchhandlungen, Kunstgalerien und trendige Clubs, in denen trotz Apartheid Schwarze verkehrten und sich gemischtrassige Paare küssten. Für den Ponte-Architekten und Bildhauer Rodney Grosskopff war es die ideale Umgebung. Die obersten Wohnungen, dreistöckige Penthouses mit der besten Aussicht südlich der Sahara, rüstete er aus mit Saunas, chromglitzernden Cocktailbars und orangefarbenen Teppichen, die sich an Boden und Wänden entlangzogen. Für den unteren Teil des 173 Meter tiefen und gegen den Himmel offenen Kerns des Zylinders, der architektonischen Sensation des Baus, bestand eine Weile der Plan, eine Skipiste zu errichten. Der utopisch übermütige Baumeister war beseelt von der Gewissheit, eine futuristische Vision zu realisieren, «my big erection» nannte er den Ponte auch.

Als im Jahre der Fertigstellung im 15 Kilometer entfernten Soweto Aufstände schwarzer Schüler ausbrachen, sahen Grosskopff und die anderen Intellektuellen und Kulturmenschen in Hillbrow darin weniger ein Omen künftiger Entwicklungen, sondern eher den unwirklichen Lärm einer Zeit, die sie in ihren insularen Milieus als überwunden glaubten. Zogen doch im Ponte nicht nur Weisse ein, auch einzelne prominente Farbige unterschrieben Mietverträge, wie die Tochter des Mandela-Mentors Walter Sisulu oder ein Sohn des Zulu-Fürsten Buthelezi.

Früher waren es sechs, später noch drei, heute ist es ein einziger Eingang, durch den man in den Ponte gelangen kann. An Sonntagen, wenn die Leute von der Kirche oder vom Einkaufen zurückkommen, bilden sich Warteschlangen. Besucher müssen dem Wächter Personalien, Zimmernummer und Ausweis hinterlassen, Mieter ihren Zugangscode eintippen und ihre Fingerabdrücke in ein biometrisches Erfassungssystem eingeben, bevor sie einzeln das Drehgitter passieren dürfen. Keine Maus würde unbemerkt ins Haus schlüpfen. Beim Lift hängt ein Blatt mit «Regeln für Besucher». Gäbe es «Probleme mit dem Sicherheitspersonal (oder umgekehrt)», heisst es dort, solle man «unter keinen Umständen die Sache in die eigenen Hände nehmen, indem man sich mit Schlägen oder Beleidigungen behilft». Eine andere Mitteilung droht mit einer Busse von 200 Franken für Leute, die «Babywindeln aus dem Fenster werfen». Bei Wiederholung würden «Familien mit Kindern aus dem Haus gewiesen. Dies muss aufhören. Das ist ernst gemeint.»

Momentan ist knapp die Hälfte der 470 Wohnungen belegt. Sicherheitschef Philemon behauptet, er kenne die meisten der etwa 1500 Mieter, zumindest vom Sehen. Während dreier Tage begleitet er uns durch die Etagen, geduldig, gemächlich, ein stoischer Hüne mit gutmütigem Gesicht. Seit 2002 ist der 42-jährige Zulu für die Sicherheit im Turm verantwortlich, davor war er Berufsmilitär. Die Leute begegnen ihm mit Respekt, und die kleinen Mädchen scheinen ihn zu lieben. Auch das Schüchternste bringt er im Lift spätestens nach zehn Stockwerken zum Lachen, und immer wieder passiert es, dass auf unseren Rundgängen eine Vier- oder Fünfjährige strahlend auf ihn zurennt, worauf er sie in die Luft hebt und gurrt wie eine Taube, um die jauchzende Kleine nach einer Weile wieder sanft auf den Boden zu stellen.

Anfänglich sei der Job hier schwieriger gewesen als der in der Armee, sagt Philemon. «Jetzt haben wir die Situation unter Kontrolle. Aber damals gab es noch viele Unruhestifter und Kriminalität.» Zum Beispiel? «Einmal wurde mir gemeldet, jemand klettere an der Fassade entlang. Es war am Mittag. Ich eilte nach draussen, schaute hoch und sah den Mann. Ich zählte die Stockwerke. Er war im Neununddreissigsten. Wir rannten zum Lift, fuhren nach oben und öffneten die Wohnungen. Eine war unvermietet und von innen verschlossen. Kaum waren wir drin, kam er durchs Fenster rein, und wir überwältigten ihn. Er war in die nächste Wohnung gestiegen, hatte den kleinen Rucksack gefüllt, kletterte zurück, leerte den Rucksack, kletterte in die übernächste Wohnung und wieder zurück, Zimmer für Zimmer, er hatte bereits einen Stapel Videorecorder und Ähnliches eingesammelt.» Philemon schüttelt den Kopf, bricht in Lachen aus. «Wie kann jemand nur so verrückt sein?» Kein Unterton von Empörung schwingt mit, nur Staunen über die Tollkühnheit des Diebes. Dieser war auf einem winzigen Sims die Wand entlanggerutscht, unter seinen Füssen der Abgrund.

Mitte der Achtziger begann der Auszug der weissen Geschäftsleute und Bewohner Hillbrows und anderer Quartiere der City in die grünen Vororte ein Vorgang, der sich mit der schrittweisen Aufhebung der Apartheid Anfang der Neunziger rasant beschleunigte. Schwarze und farbige Südafrikaner, die sich nun überall frei niederlassen durften, zogen in die leer gewordenen Gebäude, und ihnen folgten sogleich Immigranten aus anderen, ärmeren afrikanischen Ländern, Glückssucher aus Nigeria, Moçambique, Zimbabwe, dem Kongo. Das reiche, anfänglich weisse, dann «graue» Wohnquartier wurde schwarz, arm und gefährlich. War Johannesburg eine der kriminellsten Städte der Welt, so war Hillbrow das kriminellste Quartier in Johannesburg. Nirgends waren die Mord- und Vergewaltigungsraten höher. Diese Entwicklung spiegelte sich im Verfall des Ponte.

Dealer und Zuhälter

Jahrelang konnten die Besitzer ihr Haus nicht mehr betreten. Nigerianische Kokaindealer hatten sich eingenistet und trieben auf eigene Faust die Miete bei Mitbewohnern ein. Schiessereien zwischen rivalisierenden Banden hinterliessen Tote. Zuhälter verprügelten ihre minderjährigen, cracksüchtigen Huren, die im nahegelegenen Rugbystadion anschaffen gingen. Polizeirazzien wurden in Kompaniestärke mit 100 bis 200 hochgerüsteten Uniformierten durchgeführt, die regelmässig Waffenlager und Drogenverstecke aushoben, ohne den geringsten Einfluss zu haben. Zeitweise soll es bis zu zwölf Wohnungseinbrüche pro Woche gegeben haben. Und all das war begleitet von einem penetranten Gestank.

Maria lebt seit neun Monaten mit Mann und drei Kindern in 5001, fünfzigster Stock, Wohnung Nr. 1. Sie ist aus Zimbabwe, ihr Mann ist Südafrikaner, und um Kosten zu sparen, haben sie wie die meisten anderen Ponte-Bewohner zwei ihrer drei Zimmer weitervermietet. «Ich habe gehört», sagt Maria, «dass es früher gewisse Probleme gegeben hat. Aber jetzt ist der Ponte ein guter Ort. Ausser wenn der Lift stecken bleibt.» Wie es sei, so hoch oben zu leben? Sie habe keine Mühe damit, sagt sie, seit sie nicht mehr nach unten schaue. Dies habe sie nur einmal gemacht, am Anfang, und ihr sei auf einen Schlag alle Kraft aus dem Körper gewichen, als würde sie jemand mit Macht in den Abgrund des Innenhofs ziehen. Es habe viele Ausländer hier, erzählt sie später, vor allem Nigerianer, und die würden ihren Dreck zum Fenster rauswerfen. Und auch die Kongolesen hätten schlechte Manieren. «Aber ich habe keinen Kontakt zu diesen Leuten.» Man lebe für sich, sagt sie, und lasse die anderen in Ruhe.

Kulani, 1903, wohnte vor neun Jahren zum ersten Mal im Ponte. Mit fünf Freunden teilte er ein Zimmer, alles Studenten, alle aus Limpopo im Norden des Landes. Man habe natürlich von den «Drogen und den Nigerianern und den anderen kriminellen Ausländern gewusst. Alle Sünden wurden hier begangen. Aber für uns war das kein Problem.» Er und seine Freunde hätten eine gute Zeit gehabt, mit vielen Partys, was allerdings nicht so gut für das Studium gewesen sei. Nach einem Jahr sei er wieder ausgezogen, um 2008 als diplomierter Ingenieur zurückzukehren. Die Miete im Ponte sei relativ günstig, und er habe den Eindruck, dass Hillbrow sicherer geworden sei. Auf jeden Fall gehe er ab und zu in einer Bar ein Bier trinken, und er sei bisher noch nicht überfallen worden. Hingegen vermeide er es, in ein höheres Stockwerk als das eigene zu steigen. Von Ponte-Schöpfer Grosskopff hat er noch nie etwas gehört, aber seine Meinung über das Bauwerk ist klar: «Ein einziges Mal war ich im fünfzigsten Stock. Nie mehr. Das ist zu hoch für Menschen.»

Aus Faulheit und weil die Aufzüge immer wieder defekt waren, schmissen die Leute ihren Abfall in den Innenhof, wo er immer höher hinaufwuchs. Die einen sagen bis zum dritten Stock, die anderen bis zum vierten oder gar fünften. In ihm vermehrten sich Ratten, Würmer, Myriaden von kauenden und verdauenden Winzlingskreaturen, und die aufsteigenden Verwesungsdünste mischten sich mit dem Geruch von Urin und Kotze auf den Zwischengängen. Unwidersprochen blieb das Gerücht, im Müll lägen auch menschliche Leichen — Selbstmörderinnen, Gewaltopfer.

Es war die Zeit der dunklen Legendenbildungen, die wiederum Schriftsteller und Filmer inspirierten. Im Johannesburg-Roman «Stadt des Goldes» von Norman Ohler spielt ein Teil der Liebesgeschichte zwischen einem nigerianischen Drogendealer und einer jungen Frau im Ponte, dem «gefährlichsten Hochhaus der Welt». «Regel Nr. 1 in Ponte City:», dichtet der Deutsche, «Nicht ermordet werden und in der Zwischenzeit möglichst viel Spass haben». Regisseur Danny Boyle («Trainspotting», «Slumdog Millionaire») machte sich an eine bisher unvollendete Verfilmung der Story unter dem Titel «Ponte Tower». Und im grimmen Science-Fiction-Drama «District 9» des Südafrikaners Neill Blomkamp kämpfen in Johannesburg ein skrupelloses privates Sicherheitsunternehmen und Gangs von kriminellen Nigerianern gegen gutmütige insektoide Aliens, die in einem Lager interniert worden waren. Eine der letzten Einstellungen des Streifens hält auf den Ponte Tower.

Neben dem Turm-Manager Jaap, 510109, ist Wally, 4605, der einzige weisse Bewohner des Ponte. «Wally kommt von Wallace», begrüsst mich der 60-Jährige, «nun weisst du, woher ich komme.» Sein Vater war Schotte und nannte den Sohn nach dem Nationalhelden William Wallace. Genau genommen ist Wally nur ein halber Bewohner. An Werktagen renoviert er hier die elektrischen Leitungen, das Wochenende aber verbringt er in einem Vorort bei seiner Frau. Er arbeitet sich von unten nach oben vor, eine Wohnung nach der anderen, momentan ist er im 27. Stock angelangt, in einem Jahr sollte er fertig sein.

Wally hat die Gelassenheit eines Mannes, der die Flüchtigkeit aller Dinge erkannt hat. Er führt mich zum Fenster und zeigt auf ein weisses, schmuckes Fachwerkhaus, das in hundert Meter Tiefe in der Nachbarschaft liegt. Inmitten der Schnellstrassen, Wohnblöcke, Industriehallen und Unterführungen wirkt das kleine Landhaus wie aus einer anderen, versunkenen Welt. «Das ist mein Geburtshaus», sagt Wally. «Es gab hier damals nur Getreidefelder und Rinderweiden, der nächste Hof war einen zehnminütigen Pferderitt entfernt.» Er klingt sachlich wie ein Nachrichtensprecher, ohne eine Spur von Wehmut. Ebenso nüchtern spricht er über die Situation seines Landes. Vor wenigen Tagen haben zwei junge Schwarze den weissen Rassistenführer Eugène Terre’Blanche auf seiner Farm westlich von Johannesburg erschlagen. «Die Kabel sind gelegt», kommentiert Elektriker Wally ungerührt, «ein Bürgerkrieg ist möglich. Es braucht nur noch jemanden mit einem Zündholz.»

Wenn auf nichts Verlass ist, hält man sich an das Wenige, was zählt. «Dies sind meine Babys», sagt Wally und zeigt die Fotos auf seinem Handy. Auf dem ersten Bild lachen einem zwei kleine Kinder entgegen, seine Enkel, die bei ihm und seiner Frau aufwachsen. Auf den folgenden sieht man eine Ponte-Wohnung, erst in verwahrlostem, dann in renoviertem Zustand. «Im Schnitt brauche ich einen Tag pro Zimmer, um die meist kaputten Leitungen und Anschlüsse wiederherzustellen.» Dann folgt ein Motorrad, ein stolzes Exemplar. «Mein liebstes Baby», grinst er, «eine Kawasaki 1500 Classic, eine von nur sechs im ganzen Land.» Schliesslich zeigt er noch ein letztes Foto, quasi zur Abrundung seines Existenzpanoramas. Ein Mann liegt auf dem Boden, sein Körper ist grotesk verdreht, ein Bein ragt in die Höhe, das andere ist unnatürlich abgewinkelt. «Ein Selbstmörder», erklärt Wally, «vor drei Monaten, 22. Stock, jeder Knochen war mehrfach gebrochen. Einen Tag bevor er sprang, habe ich mit ihm Kaffee getrunken. Netter Junge, 25, aus Zimbabwe. Seine Freundin konnte nicht mehr aufhören zu weinen.»

Da der Turm sein Arbeitsort ist, kennt er wie Philemon viele der Bewohner. Er hält hier einen Schwatz, macht dort einen Scherz, verbreitet Entspanntheit und gute Laune. Seine augenzwinkernde Bonhommerie ist nicht bloss Ausdruck eines friedfertigen Gemüts. Es ist auch die instinktive Anpassung an die Zerrissenheit seines Landes, wo eine kleine, unbedachte Geste unheilvolle Ereignisse auslösen kann. Wallys unkompliziertesten und liebsten Mitbewohner sind seine sechs Katzen, «alle illegal, aber nützlich». Niemand kenne das Gebäude besser als sie, und sie würden die Ratten und Mäuse fernhalten. «Ich bin froh, dass hier keine Leute aus Lesotho wohnen. Sie essen Katzen.»

Krumme Geschäfte

Ende der Neunziger spottete man über den Ponte, er sei eine Abteilung des «nigerianischen Innenministeriums». Es hatte die Runde gemacht, Nigerianer betrieben in den Appartements einen lukrativen Handel mit falschen Pässen und falschem Geld. Anwohner frotzelten, die Regierung bräuchte bloss eine hohe Mauer um den Turm zu bauen: Die illegalen Ausländer und Kriminellen seien bereits drin. Die Idee der Umwandlung in ein Gefängnis wurde kurzzeitig ein öffentliches Thema. Ein Befürworter der Umnutzung, ein Architekt, diktierte einer Journalistin, diese Betonröhre sei ohnehin so hässlich, dass kein Bewohner sie vermissen werde.

2002 übernahm die südafrikanische Kempston Group die Immobilie. Ihrem neuen Verwalter, einem ehemaligen Polizisten, gelang es, die Anarchie teilweise auszusperren. Er verbesserte die Kontrolle über die Eingänge durch die Einführung eines elektronischen Zugangssystems, liess den Müllberg abtragen, senkte die Zahl der Ausländer, weil er keinen Zugang zu den polizeilichen Datenbasen ihrer Herkunftsländer hatte. Draussen wurden weiterhin Verbrechen begangen, aber der Ponte wurde langsam sicherer.

Zwei Jahre später tanzten auf den Strassen Johannesburgs jubelnde Menschenmengen. Südafrika war als Gastland für die Fussballweltmeisterschaft 2010 auserkoren worden. Eine besonders gute Nachricht für Hillbrow: Es liegt neben einem der WM-Stadien und würde vom reichen Strom öffentlicher Gelder profitieren, die man für die Sicherheit und Renovierung der betroffenen Quartiere zur Verfügung stellte. Und damit wurde auch die längst begrabene Verheissungsmagie um den Turmbau zu Ponte wiedererweckt.

Zwei enthusiastische Investoren, der südafrikanische Filmproduzent David Selan und der belgische Entrepreneur Nour Addine Ayyoup, erwarben den Wohnzylinder. Sie wollten seinen alten Glamour freilegen, der nach ihrer Überzeugung unter all dem Dreck und all den bösen Geschichten noch immer glomm. Dessen Energie sollte ausreichen, die obere, mittlerweile schwarze Mittelklasse, die Downtown arbeitete, in den «New Ponte» zu locken: junge Broker, mobile Finanzleute, Anwältinnen, Angehörige der Gay Community, Leute mit Geld und Freude an schönem Design, jene urbanen Hedonisten, «die danach trachten», so Ayyoup, «sowohl die City wie den Himmel zu erobern». Im Innenhof würde eine Kletterwand gebaut und eine Panoramaleinwand für Filmprojektionen. Ein raffiniertes Lämpchensystem sollte nachts den Core als Teil des Sternenfirmaments erscheinen lassen, und die neuen Bewohner könnten zwischen sechs Wohnstilen auswählen: Glam Rock, Future Slick, Moroccan Delight, Global Fusion, Zen-like, Old Money.

Der erste Teil der Transformation ging schnell. Nach eineinhalb Jahren waren die meisten der rund 4000 alten Mieter draussen. Der zweite Teil gestaltete sich schwieriger. Ayyoup und Selan boten die einzelnen Appartements als Eigentumswohnungen an. Mit diesen Einnahmen wollten sie den Deal und die laufenden Renovierungen finanzieren. Sie waren sicher, dass kein Mensch sich etwas anderes wünschen konnte, als im New Ponte zu leben. Auf Einwände, dass Hillbrow noch immer als eines der gefährlichsten Quartiere südlich des Äquators gelte, entgeg-neten sie unbeirrt, dies sei bloss eine Frage der Wahrnehmung. Doch im Juli 2008 war erst eines der 54 Stockwerke renoviert, die Käufer hatten sich zurückhaltender gezeigt als erwartet, und die Kempston-Gruppe erklärte mit sofortiger Wirkung den Vertrag mit den beiden Traumtänzern für ungültig und übernahm wieder die Inhaberschaft.

Es war zur gleichen Zeit, als hässliche Nachrichten aus Johannesburg um die Welt gingen. Schwarze Südafrikaner jagten schwarze Angolaner, Kongolesen, Nigerianer. Ein Bild zeigte, wie mitten auf der Strasse ein vom Mob gefasster Moçambiquer mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Die Südafrikaner machten die Immigranten für ihre Arbeitslosigkeit und Armut verantwortlich. Auch in Hillbrow kam es zu Übergriffen.

Im selben Jahr zog Jean Paul, 4802, mit seiner Familie in den Ponte ein. Seine Wohnung ist liebevoll eingerichtet, ein fröhliches Arrangement aus Plastikblumen, bunten Girlanden, Springbrunnen, Fotos. Jean Paul ist zufrieden. Seine Frau hat vor zehn Tagen einen gesunden Jungen geboren, bereits den vierten, von ihm aus könnten es noch einige mehr sein. Der elegante 45-Jährige stammt aus der kongolesischen Kobalt- und Diamantenprovinz Katanga, wo er als Elektriker und Geologe für verschiedene Minengesellschaften gearbeitet hatte. Wegen der chronischen Unruhen übersiedelte er ins vermeintlich stabile Südafrika, wo er und seine Familie aber mitten in die xenophoben Ausschreitungen gerieten.

«Die Leute im Bus redeten Zulu, und wenn wir Lingala sprachen, unsere Sprache, dann wurde es plötzlich still, und alle starrten uns drohend an. Am Fernsehen erzählten die Leute, dass wir Ausländer ihnen die Frauen und die Arbeit stehlen würden. Einmal zog eine wütende Menschenmenge aus dem Quartier zum Ponte hoch, und nur die Polizei konnte verhindern, dass sie das Gebäude stürmten.» Einen Monat lang sei es gefährlich gewesen, und man habe sich verstecken müssen. Danach sei es wieder ruhiger geworden. Aber neulich habe ihm ein Südafrikaner gesagt: «Pass auf, jetzt halten wir still. Aber wenn die Fussballweltmeisterschaft vorüber ist, dann schraubst du dir am besten Räder an die Füsse, damit du schneller abhauen kannst.»

In Wohnung 2302 lebt Blaise mit Frau und vierjährigem Sohn. Er stammt ebenfalls aus dem Kongo und kam nach Südafrika, um als Prediger die Botschaft seiner evangelikalen Kirche zu verkünden. Das Ziel ist die Rettung der Menschheit, der Weg dahin ist lang und steinig, keiner weiss das besser als Blaise, der dies jeden Tag aufs Neue erfährt. Er geht von Tür zu Tür, von Stockwerk zu Stockwerk, aber die Menschen waren bisher kaum empfänglich für die Wahrheit. Als Ersatz für die ausbleibenden Kollekten betreibt er ein kleines Business. In seinem Wohnzimmer stehen vier Telefonapparate. Er vermietet sie an Nachbarn für 1 Rand pro Minute.

Auch Blaise hat die Hatz auf Ausländer miterlebt und die Vorwürfe gehört, diese würden ihnen Arbeit und Frauen wegnehmen. «Was die Kongolesen betrifft», sagt Blaise, «stimmen die Aussagen.» Der Prediger lächelt selbstzufrieden. «Die südafrikanischen Frauen lieben uns Männer aus dem Kongo. Wir wissen, wie man ihnen den Hof macht, und wir sind sehr gut angezogen. Und bei der Arbeit sind wir zielstrebig und bringen sie erfolgreich zu Ende.» Nicht so wie andere Ausländer, sagt er. «Die Leute aus Zimbabwe zum Beispiel, das sind schlechte Leute. Oder die Nigerianer. Sie sind die Allerschlimmsten. Sie hassen es, kontrolliert zu werden. Es sind Kriminelle.»

Später mache ich mit Philemon einen Spaziergang durch Hillbrow. Man hatte mir abgeraten, unbegleitet dorthin zu gehen. Nicht am Tag, und schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Philemon dagegen behauptete, wenn es sein müsse, würde er es jederzeit und auch allein tun. Das Quartier hat schon bessere Tage gesehen. Leere Geschäfte, vergitterte Eingänge, Abfall und Scherben in verwahrlosten Kleinparks, herumlungernde junge Männer mit wachen Blicken, die einen in Sekundenschnelle taxieren.

Nachdem wir an einer dieser Gruppen vorbeigegangen sind, frage ich Philemon, warum eigentlich die Nigerianer einen derart schlechten Ruf haben. «Die Leute vorhin, das waren Nigerianer. Einer hat dich sofort angesprochen, die anderen verhandelten irgendwelche Geschäfte. Sie sind laut, stark, schreien dich an und versuchen dich einzuschüchtern.» Er imitiert ihre bedrohlichen Gesten und lacht. «Die anderen rennen davon. Aber ich bleibe ruhig. Wenn sie merken, dass du keine Angst hast, wollen sie plötzlich deine Freunde werden. Die Polizei fragte mich, wie ich das schaffe, und ich sagte ihnen, man müsse eben wissen, wie man sie richtig behandle.»

Also seien, frage ich zurück, die Anschwärzungen der Nigerianer als Hauptbösewichte im Ponte und anderswo nur Vorurteile? «Die Leute», antwortet Philemon und macht ein schlaues Gesicht, «können die verschiedenen Gruppen nicht unterscheiden. Es leben nur wenige Nigerianer im Ponte. Wir halten ihre Zahl möglichst niedrig. Nicht die Nigerianer, sondern die Kongolesen werfen ihren Abfall aus dem Fenster. Es gibt zu viele von ihnen.»

Halleluja, 53F5, ist der langjährigste Bewohner des Ponte. 1982 trat er als 18-Jähriger aus der Provinz KwaZulu-Natal eine Stelle im Hausdienst an und verliess seitdem den Turm nur in Ausnahmefällen. Er hat über ein Dutzend Besitzer und Verwalter erlebt, Legionen von Mietern «ich war anfänglich der einzige Schwarze» und verschiedenste Lebensstile «früher war es sauber und ruhig, dann weniger.» Das Rätsel seiner erstaunlichen Konstanz enthüllt sich zum Teil in seiner Wohnung. Baumeister Grosskopff hatte alle Appartements mit fertigen Einrichtungen ausgestattet. Der wahrscheinlich einzige Mieter im Tower, der das originale, aus Holz und Stahl gefertigte Ambiente erhalten hat, ist Halleluja. Tisch, Stühle, Wandschrank, Sofa, alles hat er in ursprünglicher Funktion bewahrt. Und die gleiche Fähigkeit zu Kontinuität und Treue offenbart sich in einem anderen Detail. An den Wänden, am Kühlschrank, überall sind Devotionalien der Kaizer Chiefs aus Soweto zu sehen, des prächtigsten Fussballklubs des südlichen Afrika. Halleluja kann sich mit Fug und Recht zu den Hingebungsvollsten und Ausdauerndsten der geschätzten vierzehn Millionen «Gläubigen» zählen. Niemand anders als «Rainer Dinckelacker» persönlich, der schwäbische Torhütertrainer der ersten Mannschaft «Ich sags mal so: Die Kaizer Chiefs sind hier Religion» , besuchte ihn im Ponte und setzte seine Unterschrift auf eine Fanpostkarte, die unter der Glasplatte des makellos glänzenden Cocktailtischs zu bewundern ist. Ein Spiel seiner Mannschaft ist einer der seltenen Gründe, warum Halleluja den Ponte verlässt.

Gott allein richtet

Eine weitere Erklärung seiner Sesshaftigkeit könnte sein Name liefern. Halleluja heisst eigentlich Madlala, was auf Zulu «Willkommen» bedeutet. Aber er hatte sich den Leuten immer mit einem freudigen «Halleluja» vorgestellt, mit einem «Preiset den Herrn», und so wird er nun seit Ewigkeiten genannt. Man hatte sofort erkannt, dass es sich um mehr als eine Grussformel handelte. Halleluja war ein Programm, eine Haltung der Welt gegenüber. Es signalisierte seine friedlichen Absichten, seine Toleranz gegenüber menschlichen Schwächen.

Alle Bewohner, bescheidet er mit salomonischem Blick, hätten ihren Abfall zum Fenster hinausgeworfen, die Äthiopier, die Kongolesen, die Nigerianer, die Leute aus Somalia und Zimbabwe. Gewaltopfer? Einmal habe jemand eine Cola-Flasche aus dem vierzigsten Stock geschmissen. Unglücklicherweise sei sie auf dem Kopf eines Sicherheitsangestellten gelandet, der daran gestorben sei. Nigerianische Drogenkartelle? Es habe Drogen im Haus gegeben, versteckte Lager in Heizungsrohren, und es hätten hier Leute gelebt mit viel Geld, ohne dass sie je den Tower verliessen, um zu arbeiten. Der freundliche Halleluja vermeidet jede Schuldzuweisung. Gott allein obliegt es, zu urteilen und zu richten, aber nicht dem bescheidenen Hauswart des Ponte Tower. Sicherer ist es, sich unwissend zu geben, als sich Feinde zu schaffen, die überall und jederzeit auftauchen können. Bisher ist Halleluja damit nicht schlecht gefahren. Weder wurde er je bedroht noch hat ihm je ein Verwalter die Stelle gekündigt.

Auch nicht Jaap, den wir zum Abschied nochmals treffen. Ich erwähne die gute Ordnung im Ponte Tower und die relative Sauberkeit des Innenhofs, worauf er Philemon einen giftigen Blick zuwirft und einen Moment lang schweigt, um dann unvermittelt von den Schweizer Eisenbahnen zu sprechen. «Im Fernsehen zeigen sie die Sendung ‹Swiss Railway Journeys›. Diese Lokomotiven und Tunnel, diese Brücken mit Stein- und Stahlträgern», schwärmt er. «Wie wunderschön. Und wie solid. Die halten hundert Jahre und mehr.»

Der stämmige Bure hat offensichtlich einen Anfall von Schwermut. Männer wie Philemon, die früher vor ihm zitterten und die Augen senkten, haben keine Angst mehr, schlimmer noch, sie nehmen ihn nicht mehr ernst. Er gibt ihnen Befehle, und sie missachten diese mit grösster Selbstverständlichkeit.

Die Zeit von Jaap und seinesgleichen ist vorbei; dies wird ihm in diesen Minuten wieder einmal schrecklich bewusst.

>Eugen Sorg arbeitet als freier Journalist in Zürich und schreibt regelmässig für «Das Magazin». afghan@bluewin.ch Der Fotograf David Southwood lebt in Kapstadt. www.davesouthwood.com

Zeitweise soll es im Turm bis zu zwölf Wohnungseinbrüche pro Woche gegeben haben.

Der Abfall im Innenhof türmte sich bis zum dritten Stock. Einige sagen bis zum Fünften.

Der offene Schacht der Wohnmaschine, 1976 gebaut im New-Brutalism-Stil, von unten, von oben (rechts)

Clarice aus dem Kongo ist Untermieterin von Blaise in 2302.

Jaap, Verwalter und einer von zwei Weissen im Ponte Tower

Nachts sieht man die erleuchtete Werbung der Turmspitze bis nach Soweto.

Der Kongolese Jean Paul aus Wohnung 4802 bestaunt mit seiner Frau und seinen Kindern den zehn Tage alten Jüngsten.

Halleluja, Hauswart des Ponte und sein langjährigster Bewohner

Sie kommen vom Sonntagsgottesdienst nach Hause: Kenneth mit Sohn Hillary und Tochter Rejoyce

Früher galt der Ponte Tower als Ikone der Modernität.

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