Basler Zeitung

24.07.2018

Randnotiz

Fette Illusionen

Von Eugen Sorg

Die New Yorkerin Anna O’Brian, 33, tut, was viele andere junge Frauen ebenfalls tun oder gerne tun möchten. Sie agiert als Model in verschiedensten Bekleidungen und Posen vor der Kamera und veröffentlicht die Bilder auf dem eigenen Mode-Blog Glitter and Lazers. Aufsehen erregte sie, als sie sich vor ein paar Monaten auf ihrem Blog über das Personal eines Hotels in Las Vegas beklagte. Sie hatte im Leoparden-Bikini in der Lobby für ein Fotoshooting posiert, worauf man sie aufforderte, sich etwas überzuziehen. O’Brian behauptete nun, der Grund für diese Intervention sei ihre Körperfülle gewesen. Andere, ebenso leicht bekleidete, aber schlankere Frauen seien unbehelligt im Hotel herumspaziert. O’Brian ist ein Plus-size-Model, ein Model mit Übergrösse, und sie verbindet ihre Lust, sich in modischen Outfits herzuzeigen, mit dem Kampf für die komplette Gleichstellung von dicken und dünnen Frauen, ob in der Mode oder im sonstigen Leben. «Wir verstecken uns nicht mehr», verkündete sie nach dem Vorfall pathetisch und unter dem Beifall feministischer Kreise, «und wir ziehen an, was immer und wo immer wir wollen. Nicht nur in Vegas. ÜBERALL.»

So in New York, wo sie kürzlich wieder eine Fotosession absolvierte, erneut im Bikini, aber diesmal im Freien, mitten auf dem Times Square. Ihre Forderung nach der Gleichstellung aller Frauen unabhängig von deren Figur wurde erfüllt, aber nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Bald fand sich eine Gruppe von Männern ein, die offenbar Gefallen an den üppig rollenden Kurven und wogenden Fettwülsten des Plus-size-Models gefunden hatten und O’Brian mit schlüpfrigen Komplimenten und sexuell detaillierten Wünschen eindeckten, bis ihr die Tränen kamen.

Die Männer verhielten sich definitiv nicht wie Gentlemen. Aber was hatte sich O’Brian bloss gedacht, was passieren würde, wenn sich eine stark übergewichtige, halbnackte Frau in einer Grossstadt am Strassenrand räkelt? Dass die Männer mit dieser über ihre Gefühle reden möchten? Oder über das Schönheitsdiktat der Modeindustrie? «Ich bin mehr als mein Körper und ich verdiene Respekt und menschlichen Anstand», lautet das Motto der Fashion-Bloggerin. Wie weltfremd und verdreht muss jemand sein, der glaubt, derartige Bikini-Aktionen könnten dabei helfen.

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