Die Weltwoche

28.02.2008

Klassenfoto

1968, die Welt war im Delirium. Ein Polizistensohn aus Zürich Höngg und seine Freundewollten das System verändern. Teil 1.

Von Eugen Sorg

Als das Bild des Umzugs vom 1. Mai 1969 in Zürich anderntags in der Zeitung erschien, war es für mich wie ein Klassenfoto. Meinem Vater hingegen dürfte es keine Freude bereitet haben. In der ersten Reihe der von den radikalen jungen Linken angeführten Demonstration konnte er gleich vier Leute ausmachen, die regelmässig bei uns zu Hause am Küchentisch sassen.

Ausgerüstet mit einem Porträt der Kommunistin Rosa Luxemburg, rannte Martin, den wir Knöpfli (13) nannten, ein charmanter Mensch, der meiner Mutter manchmal eine Blume mitbrachte, die er in irgendeinem Garten gepflückt hatte. Neben ihm, mit der schwarzen Fahne der Anarchisten, hüpfte Christine (12), meine Freundin, die zeitweilig bei uns wohnte, wiederum flankiert von Henriette (11), ebenfalls aus unserer Clique und ebenfalls eine Weile unter dem Dach meines Vaters logierend. Und dann stürmte noch Carlo (5), postiert ausgerechnet zwischen dem berüchtigten Kommunisten und PdA-Kantonsrat Franz Rueb (3) und dem Studentenführer Thomas Held (7), der als Rudi Dutschke der Schweiz galt. Carlo, dessen Familie in unserer Nachbarschaft in Höngg wohnte, ging bei uns ein und aus, wir hatten jahrelang zusammen in der Schule gesessen.

Dass ich nicht auf dem Bild war, wird meinen Vater kaum beruhigt haben. Erst recht nicht, hätte er den Grund dafür erfahren. Ich hatte den Umzug verschlafen.

Das vergangene Jahr war nicht sein bes-tes gewesen, beruflich und privat. Als Polizist musste er erleben, wie sein bis anhin geachteter Berufsstand plötzlich von einer wachsenden Zahl der jüngeren Bevölkerung als eine Einrichtung knüppelnder Schwachköpfe beurteilt wurde und wie sich einige Presseerzeugnisse und sogar ein paar der berühmtesten Schriftsteller des Landes dieser Auffassung anschlossen. Und dass ich, sein jüngster Sohn, Teil dieser himmeltraurigen Entwicklung war, verlieh der Kränkung eine familiäre Tiefendimension.

Die gesellschaftlichen Vorkommnisse, die im Frühsommer 1968 auch die Schweiz heimsuchten, fielen nicht in sein Ressort. Als Fachmann für Spurensicherung war er mit Einbrüchen und Morden befasst. Doch durch seine Kollegen von den zuständigen Diensten war er über die Aktivitäten des Sohnes informiert. Der erste Eintrag in meine polizeiliche Fiche datiert auf den Februar 1969. Carlo, Knöpfli, Gorgioff (bürgerlich Jürg) und ich hatten damals für kurze Zeit eine Zwei-Zimmer-Wohnung gemietet, wo wir Besuch von zwei Kriminalbeamten erhielten. Es war frühmorgens, und wir schliefen noch auf unseren Matratzen, die wir alle in einem Raum ausgelegt hatten.

Verdächtige Sendung aus England

Die Beamten vermuteten bei uns einen Jugendlichen, der von zu Hause ausgerissen war, nachdem ihn seine überforderten Eltern in ein Erziehungsheim hatten einweisen wollen. Sie fanden den Jungen nicht, dafür seine Schwester Judith (4), auf dem Schlafplatz von Carlo, dessen Freundin sie gerade war. Weil sie splitternackt und erst 15 war, nahmen die Polizisten sie mit auf die Wache, und gegen Carlo wurde ein Verfahren wegen «Unzucht mit Kind» eingeleitet. Es wurde aus Mangel an Beweisen eingestellt. Wir drei anderen hatten vor dem Untersuchungsrichter geschworen und dabei versucht, möglichst ernst dreinzublicken, dass nichts Ungesetzliches zwischen den beiden vorgefallen sei, nicht einmal ein Zungenkuss. In der Fiche wurde nicht dieser Vorfall festgehalten, sondern der Fund von «Prop-Material der JSPdAZ». Die Beamten hatten sich auch unsere Lektüre angeschaut. Der Boden der «sog. ‹Komune› dieser hoffnungsvollen Sprösslinge», schrieben sie im Rapport, «war mit linksextremen Büchern, Flugblättern und Broschüren der ‹Jungen Sektion der PdA› übersät».

Während dieser ganzen Jahre hatten mein Vater und ich weder Streit noch sonstige Auseinandersetzungen. Einmal begegneten wir uns zufällig an einer Kundgebung. Wir Demonstranten schrien Parolen gegen das Regime Francos vor der spanischen Botschaft, als ich ihn plötzlich zehn Meter neben mir stehen sah. Während ich mich abdrehte, um in der Menge zu verschwinden, bemerkte ich, dass er sich gleichzeitig in die andere Richtung entfernte. Ich war mir sicher, dass er mich gesehen hatte. Ich weiss nicht, ob er in beruflicher Funktion oder aus Neugier unterwegs war. Wir sprachen nie über diese «politischen» Dinge und taten es auch später nicht. Es herrschte eine stille Peinlichkeit zwischen uns, vielleicht weil wir ahnten, dass sich unsere Welten unüberbrückbar fremd geworden waren.

Von meiner Mutter wusste ich, dass er sich auch ihr gegenüber kaum darüber äusserte. Einmal, erzählte sie, habe er wütend gemeint, diesen Gorgioff wolle er nie mehr in seinem Haus sehen. Er war gerade in dem Moment an einer Kundgebung vorbeigekommen, als Gorgioff, den er als Mitglied unserer Clique kannte, via Megafon in der üblichen Ausdrucksweise – «Schmier», «Pigs» – über die Polizei herzog. Das Hausverbot setzte er nie um.

Ein andermal berichtete meine Mutter, dass er sich bei ihr beklagt habe, ich hätte mir ausländische Propagandaschriften zukommen lassen. Tatsächlich hatte ich in London eine Wochenzeitung abonniert, ein idealistisches Blättchen namens Freedom, welches aber bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht bei mir eingetroffen war. Der Posthalter von Niederglatt, wo einige von uns damals in einer Villa lebten, hatte die verdächtige Sendung an die Polizei in Zürich weitergeleitet. Dort wurde sie untersucht, und bevor man sie endlich an mich schickte, wurde ein Bericht an die Bundespolizei in Bern verfasst und mein Vater informiert.

Längere Zeit schien dieser sich an die Möglichkeit geklammert zu haben, die Entwicklung seines jüngsten Sohnes sei nur eine oberflächliche, vorübergehende Abirrung. Der Mutter gegenüber hatte er gemutmasst, dass die Zeitung auch für Jürg alias Gorgioff hätte bestimmt gewesen sein können. Die Engländer hatten meinen Familiennamen falsch geschrieben, «Jorg» anstatt «Sorg». Und in einer Akten-Notiz, die ich Jahre später mit meiner Fiche zugeschickt bekam, hatte ein Beamter der politischen Polizei die Aussagen meines Vaters festgehalten, «Eugen sei erst durch die Freundschaft mit Jürg L. (geb. 1950, bekannt) und den Einfluss seiner, Eugen’s, Geliebten, Christine K. (geb. 1950, bekannt), politisch nach links abgeglitten. Er, Max Sorg, hoffe immer noch, Eugen finde den Weg zurück ins Elternhaus.»

Munitionsdepot im WG-Keller

Es trat keine Besserung ein, sondern gemäss Informationen seiner Kollegen sogar ei-ne gefährliche Verschärfung. So tauchte zum Beispiel mein Name in den Ermittlungen im Zusammenhang mit der Affäre Bändlistrasse auf. Anfang der siebziger Jahre hatte sich ein Grüppchen gebildet, das davon träumte, die schweizerischen Baader-Meinhofs zu werden. Sie mieteten eine Blockwohnung an besagter Bändlistrasse, brachen in Depots der Armee ein und legten Waffenlager für die kommende Weltrevolution an.

Ich kannte einige der Leute: ehemalige Heimzöglinge, ein verkrachter Lehrling, zwei Mädchen, auch ein Junglehrer. Man bewegte sich in denselben Milieus, denselben Lokalen und Wohngemeinschaften. Man hatte immer wieder Gerüchte gehört, dass einige von ihnen irgendetwas Militantes planten, was aber in der fiebrig-utopischen Atmosphäre jener Tage nicht besonders auffiel. Von anderen wusste man, dass sie in militärischen Ausbildungscamps der Palästinenser gewesen waren, und Auseinandersetzungen über Guerillataktik im Dschungel oder den Sinn von revolutionärem Terror in den Städten waren so selbstverständlich wie der Austausch von Reiserouten oder Couscous-Rezepten. Der Schriftsteller und Dramatiker Peter Weiss hatte 1968 im von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Kursbuch, dem publizistischen Leitmedium der neuen intellektuellen Eliten, über Che Guevara geschrieben: «Er zeigte: Das einzig Richtige ist, ein Gewehr zu nehmen und zu kämpfen. […] Nur die Gewalt kann helfen.» Und als General Francos Regierungschef Carrero Blanco 1973 von einer ETA-Bombe in die Luft gesprengt wurde, titelte eine linke Publikation frohgemut: «Wie ein Schwein das Fliegen lernte.»

Anfangs der Siebziger klingelte es eines Nachts um drei an der Haustüre unserer Wohngemeinschaft in Niederglatt, unserer Kommune, wie wir sie nannten. Da niemand anders aufstehen wollte, öffnete schliesslich ich, und draussen standen Werner, seine Freundin Salome und Küde, Leute von der Bändlistrasse. Sie hätten soeben ein Munitionsdepot ausgeräumt, sagten sie verlegen grinsend. Und ob sie die Waffen in unserem Keller zwischenlagern dürften. «Warum hier?», fragte ich. «Wir haben den Schlüssel für unseren Keller verlegt.» – «Wo sind die Waffen?» – «Draussen im Auto.» Dieses sei übrigens auch gestohlen, fügten sie nach einer kleinen Pause hinzu.

Sogar in meiner damaligen weltanschaulichen Exaltiertheit fand ich die Idee eines bewaffneten Aufstandes in der Schweiz, angeführt von zwei jugendlichen Autodieben, keine überzeugende Sache. Andererseits wäre ich mir als Verräter vorgekommen, hätte ich sie weggeschickt. Immerhin standen wir im Prinzip auf derselben Seite. Sie schworen, die Beute am übernächsten Tag wieder abzuholen, worauf wir die Sturmgewehre und die Holzkisten mit der Munition und den Handgranaten aus dem weissen Luxuswagen luden und neben der Kellertreppe aufstapelten. Nach vier Tagen schafften Werner und Küde, diesmal in Begleitung von Carlo, die Ware endlich wieder weg.

Vorladung vom Bezirksanwalt

Einige Monate später meldeten die Medien, dass die Zürcher Polizei an der Bändlistrasse eine Anarchistengruppe ausgehoben habe. Werner hatte sie auf deren Spur gebracht, als er im LSD-Rausch aus deren Wohnung im dritten Stock gesprungen und verletzt liegen geblieben war. Die erstaunten Beamten hatten in der Wohnung Waffen gefunden, Listen von potenziellen Entführungsopfern, Schriften wie das Bombenbastelbrevier «Anarchist Cookbook», viele Pillen, die sich als verbotene Drogen herausstellten, und ein gelbliches Granulat, das der wissenschaftliche Dienst als TNT identifizierte, Sprengstoff, den die Hobbychemiker in der Küche hergestellt hatten.

Bald darauf bekam ich eine gerichtliche Vorladung. Küde hatte, kaum verhaftet, alles gebeichtet, die Einbrüche in Depots und Apotheken, die Autodiebstähle – vor allem Jaguars und Bentleys –, insgesamt 99 Delikte in vier Monaten, und er hatte sämtliche auf irgendeine Weise Beteiligten aufgezählt. Ich versuchte den Bezirksanwalt zu überzeugen, warum ich niemals der Verrückte gewesen sein konnte, der die Waffen entgegennahm, und da mich Küde nur mit Vornamen kannte und Carlo und die anderen behaupteten, ein Unbekannter habe in Niederglatt die Türe geöffnet, stellte die Behörde die Untersuchung gegen mich ein. Der harte Kern um Werner wurde zu Gefängnis verurteilt, Carlo und zwei weitere Gelegenheitshelfer erhielten bedingte Strafen.

Ungefähr ab dieser Zeit redete der Vater auch nicht mehr mit meiner Mutter. Sie stand bedingungslos auf der Seite des Sohnes und weitete ihren Beschützerinstinkt auf alle meine Freunde und Freundinnen und Bekannten aus. Sie fütterte und adoptierte jeden, den ich nach Hause brachte, auch Werner und Salome, die einige Zeit vor der Verhaftung für zwei Wochen bei ihr unterschlüpften, als Vater in den Ferien war. Lange noch erkundigte sie sich nach dem netten Paar, und ich erzählte ihr nie, was die beiden wirklich getan hatten. Nicht um ihr eine Enttäuschung zu ersparen, sondern weil die Tatsache, dass man die beiden eingesperrt hatte, ihr furchtbar leidgetan hätte. Bestimmt müsse diesen Kindern etwas Schlimmes zugestossen sein, hätte sie gedacht, dass sie solche Dummheiten begehen konnten.

Ebenso demütigend wie die Anteilnahme seiner Polizistenkollegen und der Umstand, den Feind im eigenen Schlafzimmer zu wissen, musste für Vater gewesen sein, dass ich die Ausbildung abgebrochen hatte. 1968, ein Jahr vor der Matur, war ich wegen unterirdisch schlechter Leistungen von der Kantonsschule geflogen, hatte an eine Privatschule gewechselt und diese zum Entsetzen meiner Eltern wieder verlassen, nachdem ich von den Weihnachtsferien zurückgekehrt war, die ich mit Carlo, Gorgioff und Knöpfli in Kopenhagen verbracht hatte, anstatt für die Maturaprüfungen zu lernen. Ich war der erste angehende Akademiker in der sorgschen Abstammungslinie, und wenn Vater jemandem erzählte, sein Jüngster besuche das Gymnasium, sprach er das Wort auf eine seltsam gestelzte, fast ehrfürchtige Weise aus.›››

Auch Gorgioff, Carlo, Judith und ihre Freundin Smadar (6) waren aus dem Gymi ausgetreten, Christine aus der Kunstgewerbeschule. Nur Knöpfli hatte die Matura im Herbst 68, so wie Aldo (8), Carlos jüngerer Bruder, ein Jahr später, gerade noch hinter sich gebracht. Im Gegensatz zu mir, dem der Austritt die Mühe wegzauberte, in kurzer Zeit riesige Stoffmengen nachzubüffeln und zu riskieren, trotzdem durchzufallen, hatten die anderen keine derartigen geheimen Motive. Sie waren alle gut in der Schule. Wir erklärten unseren Ausstieg als heroischen Akt der Negation der herrschenden autoritären Institutionen.

In meinem letzten Deutschaufsatz, bevor ich aus der Schule flog, schrieb ich Dinge wie: «Diese neuen vitalen Bedürfnisse nach Freiheit würden die perfektionierten Unterdrückungsstrukturen der spätkapitalistischen Gesellschaft beseitigen und das Individuum aus seiner Entfremdung, seiner industriellen Versklavung und seinem totalitären Konformismus erlösen.» Wenige Monate zuvor wären mir derartige Sätze so fremdartig vorgekommen wie ein Rauschen aus dem All. Zwar verstand ich sie immer noch nicht, aber ich war stolz, dass ich sie formulieren konnte. Sie klangen wie diejenigen der neuen Propheten, der Adorno, der Marcuse und der anderen Grossdeuter des Geschichtsverlaufes. Alles an den blechern-abstrakten Begriffen leuchtete und funkelte und versetzte uns in Erregung. Sie waren der Schlüssel zum Geheimnis der Welt.

Ein Weltenretter und ein Lusttribun

Wir verfolgten gebannt, was in Deutschland passierte, wo wir zu Veranstaltungen hinpilgerten. Die Studentenführer schienen uns in ihrer intellektuellen Entwicklung beneidenswert weit gekommen zu sein. Sie argumentierten virtuos im Jargon der Meister und beschleunigten deren Theorien zum Programm des radikalen Aufruhrs. Figuren wie Dutschke, ein humorfreier Dialektiker mit dem Augenglühen des Weltenretters, der scharlataneske Lusttribun Günter Amendt, der einäugige, hässliche, mit einer düsteren Energie begabte Intelligenzler Hans-Jürgen Krahl, aber auch die närrischen Fundamentalkommunarden Teufel und Langhans waren unsere Helden.

Und jeder von uns erinnerte sich, wie er zum ersten Mal die Buchhandlung des Kommunisten Theo Pinkus in der Zürcher Altstadt betreten hatte. Der Besuch war ein Bekenntnis. Dort standen alle die Bücher, auf die sich die Revolte berief. Mein erster Kauf war eine Schrift mit dem rätselhaften Titel «Sexualität und Klassenkampf. Zur Kritik repressiver Entsublimierung»; ein Büchlein über Black Power in den USA; und eine Broschur, «Texte zum Anarchismus». Mich hätte das Taschenbuch mit einem Bild von Dutschke und dem Titel «Was wollen die Studenten?» interessiert. Ich kaufte es aber nicht, denn ich wollte nicht, dass die junge Buchhändlerin denken könnte, ich wüsste nicht, was die Studenten wollten. Ich wusste es tatsächlich nicht genau, und nachdem ich schliesslich jahrelang geglaubt hatte, es zu verstehen, bin ich mir wieder unsicher, um was es damals eigentlich ging. Die Auffassung hat sich durchgesetzt, dass die Revolte der 68er eine zum Teil überbordende, als Ganzes aber befreiende Reaktion auf erdrückende Machtverhältnisse in Schulen und Familien war, auf eine verklemmte Moral, auf den Krieg der Amerikaner in Vietnam. Doch dies ist die veredelte, sich selbst schmeichelnde Geschichtsschreibung der Sieger, welche nach ein paar ausgelassenen Jugendjahren die meinungsbildenden Positionen in Kultur, Medien, Geisteswissenschaften übernehmen sollten.

Einer der am häufigsten von uns verwendeten Ausdrücke war «das System». Das System umfasste alles: die kapitalistische Ausbeutung, das Schutzalter, die Napalmbombe, die Schulnoten, die Gasöfen, das Deodorant und das manipulierte Bewusstsein, das die Leute zu willigen Komplizen der eigenen Unterwerfung machte. Dass zwischen dem von uns angeprangerten Totalitarismus und unserer realen Situation ein offensichtlicher Widerspruch bestand, kümmerte uns nicht gross.

Keiner in unseren Kreisen litt an Unterdrückung. Die einen Eltern waren etwas strenger, die anderen etwas grosszügiger, aber wir taten ohnehin – wie das bei jungen Menschen üblich ist –, was wir wollten. Versteckt oder offen. Auch die Schulen waren in den Sechzigern längst keine Drillanstalten mehr. Es gab zwar wie immer und überall sadistische oder parteiische Lehrer oder bornierte Professoren. Aber als Schüler wusste man schnell, wie sie zu nehmen waren, und wenn man einigermassen wach dem Unterricht folgte, absolvierte man unbeschadet und erfolgreich die Ausbildung.

Die meisten meiner Freunde stammten aus mittelständischen Verhältnissen, mit Vätern, die als Beamte, Kleinunternehmer, Freiberufler ihr Geld verdienten, und sie waren wie ich die Ersten ihrer Familien, die ein Gymnasium oder eine Uni besuchten. Ein unerhörter wirtschaftlicher Schub nach dem Zweiten Weltkrieg und der Fleiss der Eltern hatten uns ein materiell sorgloses Aufwachsen ermöglicht, während sich gleichzeitig die höheren Schulen den unteren Schichten öffneten. Wir waren frei und vom Schicksal bevorzugt wie keine Generation vor uns und konnten unter den vielen Möglichkeiten, die das Leben bereithielt, diejenige aussuchen, die unseren Wünschen entsprach.

Im Englischunterricht hatten wir den Roman «Herr der Fliegen» von William Golding gelesen. Die moderne Robinsonade erzählt von einer Gruppe von Kindern, die als Einzige einen Flugzeugabsturz auf einer abgelegenen Insel überleben. Der Ort liefert genug Nahrung, aber auf sich selbst gestellt, ohne Erwachsene, dem Einfluss von Gesetz und Regeln entzogen, rutschen die Gestrandeten immer tiefer in einen hobbesschen Zustand von Gewalt, Chaos und Barbarei, der erst ein Ende findet, als eines Tages zufällig ein Schiff aufkreuzt und die verwilderten Junginsulaner an Bord holt.

Eher als antiautoritären Rebellen glichen wir Goldings Inselkindern. Zwar gab es in unserer Welt weiterhin Normenhüter und Zwänge, aber wir erklärten sie für abgeschafft, und wie die Romanfiguren verloren wir in der grossen Freiheit bald die Unschuld. Das Buch hatte mich sehr beeindruckt und einen Moment ins Grübeln gebracht. Aber es wieder zu entschärfen, fiel nicht allzu schwer. Natürlich war Golding ein Reaktionär, der Hierarchie und Tradition, das System legitimieren wollte, indem er die angebliche Bösartigkeit der menschlichen Natur behauptete.

Oder der Publizist Hans Habe: Ich hatte von ihm einen oder zwei Zeitungsartikel gelesen und mich gewundert, wie jemand so klug und elegant schreiben konnte. Als ich aber später mitbekam, dass er die Studentenbewegung kritisierte, war er für mich erledigt. Vor kurzem las ich zum ersten Mal ausführlicher in seinen Schriften und entdeckte einen brillanten Autor mit einer faszinierenden Biografie, dessen Polemik gegen die 68er scharfsichtig und präzis war und der deswegen aus den Debatten verschwand. Als er 1977 in Ascona starb, war er für die meisten Jüngeren ein Unbekannter.

So verfuhren wir mit allen, die nicht mit uns einig waren oder sich uns entgegenstellten. In grandioser Überheblichkeit wischten wir Werke und Ideensysteme und Realitäten samt ihren Urhebern und Bewahrern mit einer Handbewegung vom Tisch. Wir waren die Ersten, die die Welt erkannten, wie sie ist. Sie war falsch, und wir waren richtig. Für eine Weile lebten wir in einer Art Delirium, und wir fühlten uns gut dabei. Nichts war mehr gültig, politisch, wirtschaftlich, moralisch, alles aber möglich, und wir allein legten die Regeln fest.

Schlafzimmer ohne Türen

Zum Beispiel als wir beschlossen, die kleinbürgerlichen Sexualvorstellungen hinter uns zu lassen. In der Kommune in Niederglatt hängten wir die Türen aus, und die ganze Truppe nächtigte in einem einzigen Grossschlafraum. Es ging nicht darum, die völlig freie Liebe einzuführen. Aber wieso sollte Sex, die natürlichste Sache der Welt, im Versteckten stattfinden? Wir hatten bei Wilhelm Reich und anderen Orgasmustheoretikern gelesen, dass unterdrückte Sexualität und Faschismus irgendwie zusammenhängen.

Christine und ich waren das einzige Paar, das andere hatte sich nach lauten, nächtelangen Streitereien getrennt. Die übrigen sechs bis acht waren in der Mehrzahl männlich und alle ohne feste Beziehung. Die Kollektivierung der Intimität war verkrampft und qualvoll, aber keiner hätte sich getraut, das zuzugeben. Ich glaube, es war Carlo, der uns nach einigen Wochen erlöste. Er hatte eines Abends ein Mädchen mitgebracht, gemurmelt, dass seine neue Bekanntschaft noch etwas verklemmt sei, und war mit ihr in einem leeren Zimmer verschwunden. In den nächsten Tagen bezogen auch die anderen stillschweigend wieder ihre eigenen Räume. Offenbar waren wir noch zu stark in rückständigen Moralbegriffen befangen.

Auch den Begriff des Eigentums definierten wir neu. Wir waren der Auffassung, dass man in Warenhäusern wie Jelmoli oder Globus stehlen durfte, aber nicht in kleinen Geschäften. «Expropriation der Expropriateure» lautete die ehrenhafte Devise, Enteignung der Enteigner. Spontane Ausnahmen machten wir, wenn wir zum Beispiel den Eindruck hatten, ein Ladeninhaber behandle seinen italienischen Angestellten schlecht. Dann liessen wir die Kalbsfilets und den Wein unter den Jacken verschwinden und bezahlten nur die Tube Senf. Selbstredend wurden wir mit den Ausnahmen immer grosszügiger.

Unsere Anmassung, die reibungslos in Rücksichtslosigkeit überglitt, die Nonchalance, mit der wir gesetzliche und sonstige Limiten ignorierten, das Kokettieren mit Gewalt, der Revolutionskult, die schwärmerische Endzeiterwartung, der ganze unfassbare Blödsinn, den wir in vollem Ernst verkündeten, all dies war wasserdicht geschützt gegen alle Einwände der Vernunft und der Moral. Wir glaubten tatsächlich, was wir sagten.

Zum einen war die Wirtschaftslage sehr gut, und es schien uns sicher wie ein Naturgesetz, dass sie sich weiterhin verbessern würde, da wir seit unserer Geburt nichts anderes erlebt hatten. Mit dem Lohn für zwei Wochen Arbeit konnte man zwei Monate gut leben, und wenn man wieder arbeiten musste, hatte man am nächsten Tag eine Stelle. Dies bestärkte uns in der kindlichen Illusion, dass das Leben ein arkadisches Freizeitvergnügen zu sein habe.

Zum anderen rebellierte die Jugend gleichzeitig auf allen Kontinenten. Dies war ein historisch neuartiges Phänomen. Jeden Tag lasen wir von Studentenunruhen in Tokio, Seoul, Lagos, Chicago, Montevideo, Damaskus, Rom. Der normale adoleszente Grössenwahn erfuhr eine tausendfache Bestätigung und schoss in sphärische Höhen. Und unser erhebendes Gefühl, Teil einer mächtigen globalen Bewegung zu sein, fand seinen sinnlichen Widerhall in einem starken Soundtrack, in kraftvollen, aggressiven, rauschhaften Rocksongs, erfunden und gespielt von Musikern in unserem Alter, gehört auf der ganzen Welt.

Die Überwachung durch die Polizei, das Belauschen unserer Telefone, das Einschleusen von Spitzeln in die linken Subkulturen kritisierten wir empört, als ob Polizisten Kriminelle wären und als ob der Staat nicht gute Gründe gehabt hätte, uns genauer im Auge zu behalten. Schliesslich propagierten unsere sämtlichen Heftchen, Flugblätter, Bücher den totalen gesellschaftlichen Umsturz. Doch vor allem schmeichelte das Interesse der Sicherheitsorgane auch unserem Selbstgefühl, von welthistorischer Bedeutung zu sein.

Vereinzelte legten offen, wie ihr Innenleben auf die Ankunft der jungen Wilden reagierte. So zum Beispiel Adolf Muschg im Nachwort zu seinem Hörspiel «Das Kerbelgericht», einer Auseinandersetzung mit den Zürcher Globus-Krawallen vom Juni 1968. Mit der selbstquälerischen Raffinesse des langjährigen Psychoanalyse-Patienten bekennt sich der damals 36-Jährige angesichts der randalierenden Jugend für «schuldig», einer Generation «braver Leisetreter» anzugehören, grübelt darüber nach, ob den Demonstranten seine Unterstützung willkommen gewesen wäre, ob er «das Recht» auf Einlösung seines «Nachholbedarfs» habe, schämt sich sogleich wieder für diesen Gedanken, kommt sich als «Anbiederer» vor, als eine «Art von spät-linkem Sugar-Daddy», dessen «Sympathie, die umgebogener Neid» ist – «wie unappetitlich» –, sich nicht gehört.

Ich erinnere mich noch genau, was ich empfand, als er im selben Text weiter schrieb: «[…] dass unsereins nur mit dem schlechten Gewissen ein Linker, von Geschmack ein Konservativer ist, dass meine Gewohnheiten im Milieu der Herrschaften erzogen sind, mit denen die Rebellen aufräumen wollen. Wenn sie – mit meinem Segen – damit fertig sind, wird mein Segen nichts mehr bedeuten.» Mir imponierte die Selbstinspektion des Schriftstellers, der mir nur schon deshalb gefiel, weil er sich zu unserer Seite bekannte. Gleichzeitig merkte ich, dass er ein wenig in meiner Achtung sank. Er erniedrigte sich vor uns. Er kam mir vor wie ein Villenbesitzer, der einen Bückling vor den Räubern macht, ihnen den Schlüssel zu Haus und Weinkeller übergibt und sich entschuldigt, sie nicht schon früher eingeladen zu haben.

Die meisten älteren Fürsprecher der Revolte, Intellektuelle, wohlmeinende Pfarrer, reagierten ähnlich wie Muschg. Sie vermieden jegliche Kritik, um bei uns nicht in Ungnade zu fallen. Wir spürten diese Schwäche und fühlten uns als Gewinner. Nichts und niemand hätte uns stoppen können, ausser der Schwerkraft des Lebens selbst. Serie

Nächste Woche Teil 2: Aufbruch nach Indien,Sektiererei und was aus uns wurde.

Familiäre Tiefendimension: 1. Mai 1969 in der Zürcher Innenstadt (Namenliste der Teilnehmer siehe Seite 45).

Klassenfoto von Seite 42: Paul (1), Simon (2), Franz Rueb (3), Judith (4), Carlo (5),Smadar (6), Thomas Held (7), Aldo (8),Kaspar (9), Dieter (10), Henriette (11),Christine (12), Knöpfli (13), Vreni (14) undder «Maoist» (15) (v. l.).

Qualvolle Kollektivierung der Intimität: Schlafraum der Kommune in Niederglatt.

«Hoffnungsvolle Sprösslinge»: Autor, Carlo (l.).

Reise nach Kopenhagen: Gorgioff, Carlo.

Soundtrack der globalen Revolte: Auftritt der Fugs an den Essener Songtagen 1968.

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