Basler Zeitung

13.06.2017

Randnotiz

Lou Reed heute

Von Eugen Sorg

Vier junge Frauen, Chelsea, Emily, Becca und Kayla, Vorsteherinnen des Studierendenverbandes der renommierten Universität von Guelph in Kanada, hatten an einer Univeranstaltung den legendären Lou-Reed-Song «Walk on the Wild Side» abgespielt. Am nächsten Tag entschuldigten sie sich eilends und devot dafür, bereuten ihre «Ignoranz», bedauerten den «Schmerz», den die Songverse ihren «Freunden aus der trans community zugefügt» hätten und versprachen, solche «Fehler» künftig zu vermeiden. Was war passiert? Ein transsexueller Student hatte sich beschwert, er fühle sich durch den Song emotional verletzt. Und was singt Lou Reed im 1972 produzierten Klassiker? Jeder der fünf Verse erzählt von Freunden und Bekannten Reeds aus dem Umfeld der Andy Warhol Factory – Transvestiten, Homosexuelle, Stricher. Der erste Vers lautet: «Holly kam aus Miami F.L.A./Fuhr per Anhalter durch die USA/Zupfte sich die Augenbrauen auf dem Weg/Rasierte ihre Beine/Dann war er eine sie/Sie sagt, hey Baby, spazier’ mal auf der wilden Seite usw.»

«Transphob» soll nun nach Urteil von Chelsea und Co. zum Beispiel die Zeile sein: «Dann war er eine sie», da sie die «Erfahrungen der trans folks entwerte» und «damit die Erfahrungen der Unterdrückung bagatellisiere». Der ganze Song sei problematisch. Er unterstelle, dass Transgender-Leute «wild», «ungewöhnlich» und «unnatürlich» seien.

Wer hier Hass auf sexuelle Minderheiten erblickt, leidet unter Wahnvorstellungen. Doch die Realitätsverzerrungen von Chelsea und Co. sind nicht nur individuelle Erscheinungen. Sie sind Ausdruck einer hysterischen politischen Korrektheit, die auf vielen nordamerikanischen Campussen grassiert. Diverse Minoritäten fordern homogene Schutzräume für ihresgleichen, Vorlesungen, die keine Gefahr bergen, angebliche Traumata – persönliche oder solche des eigenen Volkes – wieder zu beleben. Wachsende Bereiche der universitären Kultur erinnern mehr an gruppentherapeutische Einrichtungen mit hyperempfindlichen Insassen als an Orte geistiger Auseinandersetzung und rationaler Debatten.

«F*ck your feelings», postete jemand auf der Webseite der Uni. Es gibt offensichtlich auch solche, denen die Exaltiertheiten ihrer sensiblen Mitstudierenden gehörig auf die Nerven gehen.

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