Basler Zeitung

22.01.2012

Lügen, Tricks und Schlaumeiereien

Politiker, Prominente und Journalisten tun sich oft schwer mit der Wahrheit. Ihnen wird nicht verziehen – zu Recht

Von Eugen Sorg (Text) und Igor Kravarik (Illustrationen)

In der Literatur zur Mentiologie, zur Lügenforschung, geistert die Zahl herum, dass normale Menschen bis zu schwindelerregende 200-mal pro Tag lügen, Männer ein wenig mehr als Frauen, Letztere dafür etwas raffinierter. Wobei es in den wenigsten Fällen um harte Lügen geht, also um jene zielgerichtete, auch juristisch relevante Täuschung, bei der zur Gewinnung eines Vorteils auch die Schädigung des Belogenen in Kauf genommen wird.

Meistens handelt es sich um weichere Formen der Unehrlichkeit, es wird geflunkert, geschummelt und beschönigt, übertrieben, verschwiegen oder geschwindelt. Männer wuchern mit ihren angeblichen Erfolgen, Frauen dagegen verheimlichen Alter und Gewicht oder heucheln aus Harmoniebedürftigkeit Bewunderung für den anderen, um dessen Wohlbefinden zu fördern. Moralische Leuchttürme wie Augustinus oder Kant lehnten zwar jede Lüge unterschiedslos ab. Der Kirchenvater kategorisierte sie als Sünde und sah in ihr den Tod der Seele; der Königsberger Aufklärungsphilosoph ortete in ihr die Verkörperung der unvollkommenen, «krummen» Beschaffenheit unseres Wesens: «Die Lüge ist der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur.» Der durchschnittliche Erdenbürger hingegen ahnt, dass ohne gelegentliche Wahrheitsbeugung keine Ehe, keine Freundschaft, ja kein sozialer Zusammenhalt möglich wären, und flunkert sich so in der Regel instinktsicher durch den Alltag.

Boris Beckers «Samenraub»

Die kleinen Lügen sind der Preis des zivilisatorischen Friedens, wobei den meisten Menschen die feinen moralischen Unterschiede zwischen einer gutartigen Notlüge, einer eigennützigen, einer kriminellen oder einer pathologisch fabulierenden Lüge durchaus bewusst bleiben. Die in regelmässigen Abständen stattfindenden öffentlich-medialen Verfahren gegen Angehörige der Elite und der Prominenz, die beim Mogeln erwischt worden sind, dienen der kollektiven Vergewisserung und Bekräftigung dieser moralischen Grenzen.

Mächtige stehen über den Gesetzen, so der nicht unbegründete allgemeine Verdacht. Ihr Sturz stellt für einen kurzen Moment wieder Gerechtigkeit und Gleichheit her und versöhnt mit dem Verzicht, den die Allermeisten leisten beim anstrengenden und stets gefährdeten Versuch, ein ehrliches Leben zu führen. Die windigen Ausreden der Überführten lösen Häme, Spott und Gelächter aus. Nicht weil sich das Publikum moralisch überlegen fühlen würde. Im Gegenteil, jeder durchschaut sofort die Vernebelungsrhetorik, weil er sie in vergleichbaren Situationen schon selbst bemüht hat. Die Schadenfreude ist die Genugtuung ob der Erkenntnis, dass die Berühmten und die Grossen die gleichen fehlbaren und lächerlichen Figuren sind, wie man selber eine ist.

Unvergessen bleibt der Satz des notorischen Seitenspringers Bill Clinton, als er mit treuherzigem Gesicht abstritt, eine Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky gehabt zu haben: «Ich hatte keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau.» Dummerweise hatte die junge Frau ein Kleid aufbewahrt, auf dem das Sperma des 42. Präsidenten der USA versehentlich gelandet war. Clinton konnte sich nicht mehr länger herausreden und musste sich vor der ganzen Nation und seiner Frau entschuldigen. In eine vergleichbare Situation war der Tennisstar Boris Becker geraten, der hartnäckig verneinte, in der Besenkamer eines Londoner Hotels mit einer Angestellten schnellen Sex gehabt zu haben. Erst als die Frau neun Monate später ein Kind auf die Welt brachte, das eine fast schon unheimliche Ähnlichkeit mit Becker hatte, konnte er die Drei-Minuten-Affäre nicht mehr leugnen. Noch gab er sich aber nicht geschlagen und probierte mit einem letzten kreativen Effort, wenn schon nicht seine Beteiligung, dann zumindest seine Schuld an der Putzkammerzeugung von sich zu weisen. Seine Begriffskreation «Samenraub» ging unter weltweitem Gelächter in die Annalen der himmeltraurigsten Ausreden ein.

Daums chronischer Schnupfen

Ein Volksspektakel erster Güte lieferte auch die Auseinandersetzung um den Fussballtrainer Christoph Daum. Der Erfolgscoach von Bayer Leverkusen war eben zum neuen Bundescoach designiert worden, als der Vorwurf aufkam, Daum sei chronisch «verschnupft», das heisst er konsumiere regelmässig und seit Langem Kokain. Dies wäre nicht nur illegal gewesen, sondern natürlich auch unmöglich für einen Nationaltrainer, dessen verantwortungsschweres Amt mit demjenigen des Bundeskanzlers verglichen werden kann. Zudem führte der Deutsche Fussballbund gerade die Kampagne «Keine Macht den Drogen» durch. Daum, dessen Diplomarbeit an der Sporthochschule Köln den Titel trug: «Die Bedeutung und Wichtigkeit von pädagogischen und psychologischen Massnahmen eines Fussballtrainers», willigte in einen freiwilligen Haartest ein und äusserte stellvertretend für alle Flunkerer dieser Welt vor den laufenden Fernsehkameras mit stechendem Blick die Sentenz: «Ich tue dies, weil ich ein absolut reines Gewissen habe.» In der Haarprobe wurden Kokainrückstände gefunden und der blossgestellte, plötzlich arbeitslose Trainer tauchte für einige Monate ab in die USA.

Besonders unbarmherzig trifft der Spott den ertappten Sünder, der sich als Tugendbold und Musterknabe präsentiert hatte. Dies musste der deutsche Langstreckenläufer und Olympiasieger Dieter Baumann erfahren. Der Ausnahmeathlet engagierte sich an vorderster Front für einen sauberen, dopingfreien Sport, dessen stärkstes Argument er selber war, er, Baumann, der «weisse Massai», der als einziger Hellhäutiger mit den afrikanischen Übertalenten mithalten konnte. Eine unangemeldete Kontrolluntersuchung wies eine weit über dem Grenzwert liegende Menge des Dopingmittels Nandrolon in Baumanns Urin nach. Der Athlet schwor, keine Ahnung zu haben, wie das potente Anabolikum in seinen Urin gelangt sei, und wartete schliesslich mit der These auf, er sei das Opfer eines «langfristig geplanten Anschlags», bei dem seine Zahnpasta manipuliert und mit dem Dopingmittel versetzt worden sei. Baumann setzte eine Belohnung von 100 000 Mark für denjenigen aus, der den Täter findet. Es wird nie ein Täter gefunden, und Baumann, das weisse Laufwunder, gilt seit da als tragische Witzfigur, als Mr. Zahnpasta.

Einen tiefen Fall erlebte im letzten Jahr auch der deutsche CSU-Abgeordnete und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Der schneidige und gleichzeitig volksnahe Freiherr mit dem pomadigen Haar, dem Namen wie aus einem Ärzteroman und einer schönen, ebenfalls blaublütigen Gattin war ein Politstar und wurde, obwohl erst 40, insgeheim als baldiger Kanzler gehandelt. Seine juristische Dissertation war mit «Summa cum laude» ausgezeichnet worden, und die Welt attestierte dem «promovierten Adligen», im Gleichklang mit den meisten anderen Blättern des Landes, «Profil und Authentizität».

Guttenberg mit «gutem Gewissen»

Dann wurde ruchbar, dass er Teile seiner Dissertation möglicherweise abgeschrieben habe. Guttenberg weist die Vorwürfe als «abstrus» zurück und der Doktorvater nimmt seinen Zögling in Schutz. Die Angriffe seien «absurd», gibt er zu Protokoll, «Herr zu Guttenberg war einer meiner besten Seminaristen und Doktoranden». Weitere Plagiatsvorwürfe tauchen auf, Guttenberg bleibt dabei, dass er seine Arbeit mit «bestem Wissen und Gewissen» selbstständig verfasst habe, und dann wird die Internetsite GuttenPlag gegründet, die laufend neue Belege dafür liefert, dass des Doktors Promotionsarbeit ein schamloses Plagiat ist. Auf 371 von 393 Seiten, also auf 94,8 Prozent aller Seiten, weisen aufmerksame Leser schliesslich 1218 Plagiatsfragmente aus 135 Quellen nach. Der Freiherr ist entlarvt als Scharlatan, die Universität nimmt ihm seinen Titel wieder ab, er tritt von allen Ämtern zurück und verschwindet Richtung USA.

Vielleicht hätte der einstige Liebling der Medien und des Volkes die Chance auf Vergebung gehabt, wenn er sich entschuldigt und eine plausible, ehrliche Erklärung für seine Abschreiberei geliefert hätte. Doch er erlag jenem Zwang, den alle kennen, die sich mit einer Lüge Ärger vom Hals halten wollten. Die Lüge entwickelt ihre eigene Schwerkraft. Je länger sie andauert, desto inniger verknüpft sie sich mit dem Träger. Sie tendiert dazu, zur Lebenslüge auszuwachsen, und die geleugnete Wahrheit, die anfänglich noch klar bewusst war, entrückt in immer fernere Erinnerungsregionen, bis sie nur noch als vage Bedrohung, als latente Panikzone existiert, um die man mit viel Aufwand einen Bogen macht.

So könnte man sich die spitzfindigen, ausschweifenden und wortreichen Erläuterungen erklären, die Guttenberg in seinem ersten Interview nach der Rückkehr aus den USA dem Wochenblatt «Die Zeit» diktierte. Publiziert auch als Buch mit dem Titel «Vorerst gescheitert» sollte es sein Comeback in die Politik vorspuren, besiegelte aber vielmehr seine endgültige Vertreibung aus dem germanischen Olymp. Er zeigte sich unbelehrbar, uneinsichtig, arrogant. Konfrontiert mit dem Urteil des Nachfolgers auf dem staatsrechtlichen Lehrstuhl seines Doktorvaters, er, Guttenberg, sei ein Betrüger, replizierte der Plagiator ungeniert, eine solche Aussage zeuge «nicht von grosser juristischer Kunstfertigkeit». Sich selber sprach er von jeglicher Betrugsabsicht frei, er konzedierte lediglich, dass ihm ein «Fehler» passiert sei, ein «ungeheuerlicher» zwar, aber eben nur ein Fehler, als ob es ihm einfach so passiert wäre, über 1200 Plagiatsteile akkurat zu einem als eigenen Text deklarierten Werk zusammenzufügen. Er habe eben den Überblick über die auf angeblich 80 Datenträger verteilten Dokumente verloren, rechtfertigte er sich, da er sich in einer Situation der «Doppelbelastung» durch Politik und Doktorarbeit befunden habe, und ja, dies sei sein einziger Fehler gewesen, dass er den Zeitpunkt verpasst habe, zu sagen, «ich schaffe diese Arbeit nicht mehr», einerseits hingebungsvoll seinem Land zu dienen und parallel dazu seine juristische Studie voranzutreiben. Er war nicht der Autor eines dreisten Täuschungsmanövers, wollte er damit suggerieren, sondern das Opfer seines eigenen Fleisses. Wer vor dem Interview noch Zweifel gehabt hatte, war jetzt sicher: Der charmante Herr Guttenberg ist ein Schwindler, ein Lügenbaron und seine Dissertation ein gezielt inszenierter Beschiss.

Ärger vom Hals halten wollte sich vermutlich auch der Unternehmer und Politiker Christoph Blocher, als er mehrfach und beharrlich wiederholte, keinerlei Beteiligung an der Basler Zeitung (BaZ) zu unterhalten. Alle Äusserungen und Handlungen des von der Linken innigst gehassten Milliardärs und autoritären Leaders der konservativen Schweizerischen Volkspartei werden genauestens verfolgt, und der Kauf einer Tageszeitung hätte mediale Stürme der Entrüstung und Angstfantasien vor einer Verblocherung der Medienlandschaft entfesselt. Nach einem Jahr des Abstreitens liess ein Insider durchsickern, dass Blocher trotz gegenteiliger Beteuerungen bei der BaZ finanziell engagiert sei. Zwar nicht direkt, aber über eine seiner Töchter. Er hatte nicht gelogen im engen Sinne, aber er hatte geschlaumeiert, was auf dasselbe herauskam, und er war dabei erwischt worden. Er stand da mit einer langen Nase wie Pinocchio.

Das waren schlechte Voraussetzungen für die bald darauf folgende nächste Affäre. Ein IT-Mitarbeiter der Basler Bank Sarasin hatte Kontoauszüge des damaligen Nationalbankpräsidenten Philipp Hildebrand fotografiert und sie einem alten Schulfreund, Anwalt und SVP-Mitglied gezeigt. Die illegal erworbenen Bankunterlagen landeten schliesslich bei der «Weltwoche», wurden von dieser publiziert, und sie verrieten, dass über das private Namenskonto des Ehepaars Hildebrand Dollarkäufe in der Höhe von 400 000 Franken und verschiedene Aktienkäufe stattgefunden hatten. Sie zeigten zudem, wie Hildebrand mit seinem Kundenberater über Spekulationsmöglichkeiten in der europäischen Versicherungsindustrie diskutierte, als wäre er ein «kommuner Investor» («Bilanz») und nicht der oberste Währungshüter des Landes, der mit seinen Entscheiden Devisenkurse und Hypothekarzinssätze beeinflusste.

Die Veröffentlichung der Bankdaten löste eine ungemein heftige Diskussion aus, bei der mindestens die Hälfte, wenn nicht alle der direkt oder indirekt Beteiligten logen, flunkerten oder nur selektiv die Wahrheit erzählten. Der Datendieb behauptete, er sei von seinem Schulkollegen hintergangen worden, habe er doch nie in die Veröffentlichung der Daten eingewilligt. Der Anwalt behauptete das Gegenteil und teilte mit, er habe die Unterlagen an Blocher weitergereicht, während Blocher behauptete, keinerlei Bankunterlagen besessen zu haben, als er Bundesrätin Calmy-Rey über die heiklen Geschäfte des Nationalbankpräsidenten informiert habe. Hildebrand wiederum, der als ehemaliger Mitarbeiter des Hedge-Fund Moore Capital Management, einem der aggressivsten Fonds der Wall Street, durch Spekulationen ein Vermögen gemacht hatte, gab die familiären Geldaktionen nur scheibchenweise und unter Druck zu und beharrte wenig glaubwürdig bis zu seinem Rücktritt darauf, dass seine Frau ohne sein Wissen die Dollarkäufe getätigt habe. Dabei hatte er noch wenige Wochen zuvor der «Schweizer Illustrierten» anvertraut: «Ich verwalte das Geld gemeinsam mit meiner Frau.» Einen Auftritt in der Pinocchio-Parade hatte zu guter Letzt auch Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf, die sich in der «Arena» auf die Seite ihres Verbündeten Hildebrand schlug und zum internen Verhaltensreglement für Nationalbanker meinte: «Wir haben nicht gewusst, dass das Reglement relativ lasch ist.» Eine gewagte Aussage. Widmer-Schlumpf war von 2004 bis 2007 selber Mitglied des nationalen Bankrates, das letzte Halbjahr gar als Vizepräsidentin unter Hildebrands Vorgänger Raggenbass, ebenfalls ein Pinocchio-Kandidat. Das schwache Reglement muss ihr also bewusst gewesen sein, meinte auch die «Bilanz».

Die Blocher-Pinocchio-Affäre

Obwohl Hildebrand wie die anderen Mitspieler des Dramas einen offensichtlich instrumentellen Begriff von Wahrheit an den Tag legten, misstraute eine Mehrheit des Publikums der Darstellung Blochers. Er war schon einmal beim Schummeln ertappt worden. Seine Geheimnistuerei um die Basler Zeitung war noch in frischer Erinnerung, und die Geschichte hatte sich als heftiger Bumerang erwiesen. Der Aufschrei wäre natürlich weniger laut ausgefallen, hätte Blocher von Anfang an mit offenen Karten gespielt. Zwar hatte er kein Gesetz gebrochen, und niemand ist verpflichtet, der Öffentlichkeit zu erzählen, für was man sein Geld ausgibt. Aber warum steht man nicht zu dem, was man tut, wenn man keine dunklen Absichten hegt? Dies war das Misstrauen des Publikums, und es wurde von der Konkurrenz enthusiastisch bewirtschaftet. Die grossen deutschschweizerischen Medienhäuser Tamedia und NZZ-Verlag, aber auch die AZ-Medien des umtriebigen Aargauer Verlegers Peter Wanner hatten schon länger einen begehrlichen Blick auf die BaZ und ihre lukrative, unabhängige Position als Quasi-Monopolblatt in der Nordwestschweiz geworfen. Die Blocher-Pinocchio-Affäre gab den willkommenen Anlass, die BaZ möglichst sturmreif zu schiessen, indem man das wichtigste Kapital einer Zeitung, ihre Glaubwürdigkeit, infrage stellte. Und mit kaum verhohlener Genugtuung vermeldeten die Konkurrenzblätter, wie die Zeitung aus Basel schmerzhafte Abo-Kündigungen hinnehmen musste. Dass die BaZ unter ihrem neuen, von Blocher favorisierten Chefredaktor bis jetzt besser, vielfältiger und spannender geworden ist, bestätigen zwar auch die Gegner. Aber nur hinter vorgehaltener Hand.

Zu Recht war moniert worden, dass Medienunternehmen aufgrund ihrer Funktion als vierte Gewalt, als Hüter der Demokratie und der aufgeklärten Öffentlichkeit eine besondere moralische Verpflichtung zur Transparenz ihrer wirtschaftlichen, publizistischen und personellen Verhältnisse hätten. Noch überzeugender hätte die Forderung geklungen, wenn die journalistischen Moralwächter auch in ihren eigenen Reihen für Glaubhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit sorgen würden.

Einer der «Tages-Anzeiger»-Journalisten, der am lautesten gegen die blochersche Verschleierungs- und Strohmannpolitik getrommelt hat, war beispielsweise der Basler Maurice Thiriet. Der Redaktor hatte im selben Jahr den mit 10 000 Franken dotierten Nachwuchspreis des Zürcher Journalistenverbandes bekommen für den Text «Die eingebildete Astronautin», eine Enthüllungsgeschichte über eine junge Frau, die sich zu Unrecht als Nasa-Astronautin ausgegeben hatte. Die Journalisten-Jury lobte den Preisträger für seine beharrliche Entlarvungsarbeit und hielt zusammenfassend fest: «Journalismus vermittelt Wirklichkeit. Daraus beziehen wir Journalisten unsere ganze Glaubwürdigkeit.» Pikant an der Geschichte war allerdings, dass der 31-jährige Nachwuchsjournalist die Story und einen guten Teil der Recherchen von einem Basler Blogger übernommen hatte, den er aber nirgends als Quelle oder Mitautor erwähnte. Die kleine Bloggerszene reagierte auf den dreisten Schlungg mit Empörung, Spott und Häme – «Der eingebildete Preisträger» –, und Thiriet, dessen Ehrgeiz offensichtlich stärker ist als sein Gefühl für menschlichen Anstand, machte sich darauf in der Preisbroschüre noch lustig über den Lieferanten seiner Geschichte. Dieser sei «mittleren Alters und alleinstehend. Nicht zufällig: Gute Geschichten sind wie gute Frauen. Man trifft zufällig auf sie, und wer nicht hartnäckig dranbleibt, kriegt sie nicht.» Aber auch die Journalistenjury spielte keine heldenhafte Rolle. Anstatt den Preis abzuerkennen oder zumindest den Blogger mitauszuzeichnen, gab sie sich unfehlbar und liess Maurice Thiriet Geld und Ehrung.

Ein anderer «Tages-Anzeiger»-Mann wiederum, Res Strehle, einer der zwei Co-Chefredaktoren, hatte 2008 ein kleines Buch veröffentlicht, «Mein Leben als 68er», in dem er seine Jungmännerzeit als Ökonomiestudent in St. Gallen, als linker Aktivist und WG-Bewohner aufleben lässt. Die Erzählung ist flüssig, anekdotenreich verfasst von einem journalistischen Profi, eingestellt auf Schmunzelmodus, durchsetzt von onkelhaften Untertönen. Man erfährt, dass Strehle mit auffällig vielen damaligen oder späteren Berühmtheiten bekannt war, allen voran mit Niklaus Meienberg, der ihm das Schreiben beigebracht haben soll, Roger de Weck, dem Strehle wiederum das Gelernte weitervermittelt haben will, Roger Schawinski, Lukas Mühlemann, Hans A. Pestalozzi, Peter Noll, Max Frisch und anderen «Weltliteraten», mit denen er auf Du war. Persönliche Freunde, soweit es denn welche gab, bleiben überwiegend ohne Namen. Die Akteure aus Strehles Revoltezeit sind ausnahmslos gutmeinend, vielleicht mitunter schräg oder unpraktisch, aber durchs Band von ausgesuchter Harmlosigkeit. Seht, wie viele wichtige Leute ich kannte, sagt uns der Text, und: Seht, wir waren «links, aber lieb», wie Strehle die Botschaft seines Aufsatzes zusammenfasst.

Anderer Meinung war der Staatsschutz. Das Haus am Fusse des Zürichbergs, in dem Strehle ab Ende der 70er-Jahre lebte, stand unter strenger polizeilicher Beobachtung. Eine Zeitlang hatte der Staatsschutz gar einen «Horst», eine konspirative Wohnung auf der gegenüberliegenden Strassenseite gemietet, um die Briefkästen, die Abfallsäcke und die Besuche der häufig wechselnden Mitbewohner Strehles zu kontrollieren. Das Interesse der Sicherheitskräfte an diesen war nachvollziehbar. Unter ihnen befand sich in den Achtzigerjahren Georgio Bellini, Tessiner Anarchist und guter Bekannter des Terrorpaten Carlos, zweimal lange in schweizerischer Untersuchungshaft wegen Verdacht auf Beteiligung an Sprengstoffattentaten, aber wegen ungenügender Beweislage nie verurteilt. Auch Bernard Rambert wohnte zeitweise dort, Rechtsanwalt mit Sympathien für linke Revolutionsfundamentalisten, langjähriger Arbeitgeber von Andrea Stauffacher, dienstälteste Linksextremistin der Deutschschweiz. Der grossbürgerliche Rambert, in Stasi-Akten als «Duke» geführt, hatte prominente Klienten, wie zum Beispiel den Westschweizer Bruno Bréguet alias «Luca», Terrorkomplize und Bombenexperte von Illich Ramirez Sanchez alias Carlos, den Schakal.

In den 90ern zog ein weiterer interessanter Zeitgenosse in das Haus ein, Nicola Bortone, ein Italiener und neuer Freund einer Hausbewohnerin, mit der er bald zwei Kinder hatte. Den meisten war der zirka 40-Jährige mit dem neapolitanischen Akzent, der als Reinigungsmann arbeitete, nur unter seinem Vornamen bekannt. Erst als er 2002 verhaftet und die Wohnung von der Bundespolizei durchsucht wurde, erfuhren sie Genaueres über ihn. Bortone war wegen Mitgliedschaft bei den terroristischen Roten Brigaden 1989 in Frankreich verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Brigate Rosse hatten in den 70ern und 80ern Italien mit Mordanschlägen, Banküberfällen und Entführungen überzogen. Bortone musste die Strafe nie absitzen, sondern war untergetaucht und illegal in die Schweiz eingereist, wo er gute Beziehungen hatte. Er war in den 80ern jahrelang der Geliebte von besagter Andrea Stauffacher gewesen.

Bortone wurde an Italien ausgeliefert. Die Italiener verdächtigten ihn zusätzlich der Beteiligung am Mord eines Regierungsmitarbeiters im Jahre 2000 und hatten ihn in Zürich aufgestöbert. Die Verhaftung fand ein breites Medienecho und wurde sogar von der «Chicago Tribune» vermeldet. Bortones Zürcher Gesinnungsgenossen um Andrea Stauffacher führten für ihn und den inhaftierten Ökoterroristen Marco Camenisch eine Solidaritätsveranstaltung durch. Ein Kreis von Leuten hatte immer um Bortones Identität gewusst und ihm Schutz gewährt. Ein weiterer Kreis ahnte etwas und wollte nichts Genaueres wissen. Andere kannten Nicola, wären aber nie auf die Idee gekommen, dass der sympathische Vater zweier kleiner Buben ein Terrorist auf der Flucht war. Was wusste Res Strehle?

Strehle schweigt wie ein Grab

Es ist anzunehmen, dass Strehle, der bis in die späten 90er-Jahre «als intellektueller Vordenker der Zürcher Autonomen» (WoZ) galt, die wahre Geschichte Bortones bekannt war. Und wenn nicht, hätte er sie spätestens bei der Verhaftung des Wohnungsnachbars erfahren. Bemerkenswert ist nun, dass Strehle in seinen 68er-Erinnerungen sowohl die aufsehenerregende Verhaftung und Auslieferung als auch die persönlichen Kontakte zu den terrorgeneigten Zeit- und Wohngenossen mit keinem Wort erwähnt. Er berichtet uns zwar, dass Meienberg «meine spätere Radikalisierung stets abgelehnt» habe, worin diese «Radikalisierung» aber bestanden hat, darüber erfahren wir nichts. Und wir lernen, dass abgesehen von Strafrechtler Peter Noll, dem die Frauen wegen allzu offensiven Werbeverhaltens ein Hausverbot erteilt hatten, alle anderen Gäste in «unseren WGs wohlwollend aufgenommen» worden seien. «Mal waren es Flüchtlinge, mal ein Spitzel des Verfassungsschutzes (wie sich später herausstellte), zwischendurch auch immer wieder solche, die auf der Kurve waren. Küde etwa, ein liebenswerter, aber schräger Vogel.»

Unter erfahrenen Gerichtsreportern würde man eine solche Aussage wohl ein landmannsches Geständnis nennen – in Anlehnung an den gewieften Zürcher Milieuanwalt Valentin Landmann, der seine Klienten dahin berät, kleinere Delikt reumütig zuzugeben, um die Chance zu erhöhen, dass der Richter bei den grösseren nicht mehr so genau hinschaut. Strehle findet sonst jede Belanglosigkeit erwähnenswert, steht sie nur im Zusammenhang mit einer seiner berühmten Bekanntschaften, wie zum Beispiel das Ereignis, dass er in seinem Occasions-Alfa einmal Max Frisch nach Hause fahren durfte. Über die internationale Terrorprominenz hingegen, mit der er Wand an Wand zusammengelebt hatte, schweigt er wie ein Grab.

Dabei würden hier die wirklich spannenden Geschichten bereitliegen. Hätte er tatsächlich nicht realisiert, wer Bortone ist, so wäre ein kurze Meditation über die eigene Naivität und über die Fähigkeit gewisser Menschen, selbst gute Bekannte zu täuschen, angebracht gewesen. Wusste er aber Bescheid, hätte man gerne erfahren, warum er mitgeholfen hatte, einen Terroristen zu verstecken. Wieso hatte er Bortone nicht gesagt, er solle sich eine andere Bleibe suchen? Oder sich stellen? Sein Text hätte eine lehrreiche Auseinandersetzung mit der eigenen radikalen Vergangenheit werden können, eine aufschlussreiche Reflexion über Gewaltverherrlichung, Revolutionsgläubigkeit und Demokratieverachtung, über die Lebenslügen der 68er-Generation, über die Grenze zwischen Solidarität mit verfolgten Genossen und Beihilfe zur Vertuschung eines möglichen Verbrechens. Oder er hätte mit uns über ein diffiziles moralisches Dilemma nachdenken können. Bortones Freundin hatte Krebs. Hätte man ihn den Behörden verraten oder hätte er sich diesen gestellt, wären die zwei Kinder ohne Vater aufgewachsen und vielleicht auch bald ohne Mutter. Tatsächlich starb diese ein halbes Jahr nach seiner Verhaftung. Sie hatte noch zu Lebzeiten verfügt, dass die Kinder nach ihrem Tod in die Obhut einer Freundin kommen sollten, die wiederum mit der Berufsrevolutionärin Andrea Stauffacher zusammenlebte. Kaum die ideale Umgebung für zwei heranwachsende Buben. Kurz: Strehle hätte einiges zu erzählen und viel zu sinnieren gehabt. Warum verliert er über all das kein Wort?

Der Text erschien zuerst im März 2008 im Magazin des «Tages-Anzeigers». Strehle war zu diesem Zeitpunkt noch Chefredaktor des «Magazins», und er stand in diesen Wochen davor, zum neuen Chefredaktor des «Tages-Anzeigers» ernannt zu werden. Seine rote Vergangenheit als WoZ-Mitbegründer und marxistischer Kapitalismuskritiker war bekannt. Aber hätte seine Wahl zum Chef einer der einflussreichsten Schweizer Tageszeitungen noch dieselben Chancen gehabt, wäre seine Vertrautheit mit Figuren aus dem Umkreis des bewaffneten kommunistischen Kampfes öffentlich geworden? Eine solche Überlegung mag Strehle bewogen haben, dieses Thema nachhaltig und möglichst geräuschlos zu umgehen. Er log nicht, er erfand fast nichts hinzu, sondern er liess all die hässlichen Dinge einfach weg. Das Büchlein «Mein Leben als 68er» ist weder eine Rückschau noch eine Analyse noch eine Selbstbefragung, sondern eine sorgfältig fabrizierte Biografie mit der Absicht, ihr Subjekt möglichst harmlos aussehen zu lassen, eben «links, aber nett» und «kritisch, aber anständig». Es ist ein Bewerbungsschreiben.

Währung ist die Aufrichtigkeit

Strehle tat, was viele tun, wenn sie sich um einen Posten bemühen. Eine Studie der Control Risk Group hat ermittelt, dass in Deutschland mehr als jeder zehnte Bewerber bei den Angaben zum beruflichen Werdegang oder bei den Daten zum Lebenslauf und fast ein Drittel bei den Daten zur Beschäftigung schummeln. Nicht mit groben Lügen, sondern mit Tricks, Retuschen, Weglassungen, Beschönigungen. Wer wollte dies einem Jobaspiranten verübeln. Nun ist Strehle aber Journalist. Seine Währung ist die Aufrichtigkeit, sein Job ist die Wahrheitssuche. Zwar haben Journalisten ein weit geringeres Ansehen als Ärzte, Hochschulprofessoren oder gar die wegen epidemischem Kindsmissbrauch in Verruf geratenen Priester, wie das Umfrageinstitut Allensbach jüngst ermittelt hat, und mehr als die Hälfte der Deutschen glaubt, dass Journalisten «nicht wahrheitsgemäss» berichten. Umso penibler sollten sich diese daher befleissigen, bei den Fakten zu bleiben, um das geschäftsschädigende Gerücht zu widerlegen.

Journalisten sind in doppelter Hinsicht der Versuchung zur Mogelei ausgesetzt. Erstens, weil sie Menschen sind, und der Mensch ist, wie auch Schopenhauer wusste, das lügenhafte Wesen: «Wie unser Leib in die Gewänder, so ist unser Geist in Lügen gehüllt.» Zweitens, weil der Beruf des Journalisten darin besteht, Wirklichkeit abzubilden, eine Position, worin seine einzige Macht besteht und die ihn permanent verlockt, die Realität nach seinem Gusto zu frisieren – aus Ehrgeiz, Eitelkeit oder Faulheit, weil man jemanden hasst oder bewundert, weil man die Zustimmung der Kollegen nicht verlieren, die Wut eines Einflussreichen nicht riskieren will. Oder weil man nicht langweilig sein will .

Langweilig zu sein, ist einer der schlimmsten Vorwürfe, den man einem Journalisten machen kann. Schlimmer ist nur noch der Vorwurf, unehrlich zu sein. Zwischen den beiden Übeln wählen zu müssen, gehört zum Berufsalltag. Der Journalist sollte sich immer für die Wahrheit entscheiden, auch wenn es auf Kosten der guten Story oder der gelungenen Pointe oder des Ansehens geht. Immer wieder hat er ja auch Glück und die wahre Geschichte ist gleichzeitig die gute Geschichte. Dies wäre bei Res Strehle der Fall gewesen. Er hatte alle Zutaten für einen spannenden Text: aussergewöhnliche Figuren, einen packenden Plot und ein moralisches Dilemma. Leider verschmähte er diesen kostbaren Rohstoff. Er kassierte die gerechte Strafe für dieses Ausweichmanöver. Sein Aufsatz geriet zur seichten, belanglosen Plauderei.

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