Die Weltwoche

20.08.2009

Das MoralGen

Darf man einen Menschen umbringen, wenn so das Leben anderer gerettet werden kann? Ist die Moral anerzogen oder angeboren? Jüngste Resultate der Hirnforschung zeigen, dass ethisches Verhalten auf spontanen Impulsen beruht. Eigentlich eine gute Nachricht.

Von Eugen Sorg

Als Kinder und Jugendliche vertrieben wir uns manchmal die Zeit mit kleinen Denkspielen: In einem Rettungsboot befinden sich ein Fabrikdirektor, ein Lokomotivführer, ein Arzt, ein Polizist. Das winzige Boot ist überladen, einer der Insassen muss geopfert werden, sonst säuft es mit allen Passagieren ab. Welchen der vier würden wir über Bord schicken? Die gleiche Versuchsanordnung stellten wir uns mit wechselnden Besatzungen vor, beispielsweise mit einem Italiener, einem Deutschen, einem Amerikaner, einem Schweizer, wahrscheinlich auch mit einem hübschen, aber dummen, hässlichen, aber sympathischen Mädchen usw. Wir lachten viel dabei, aber gleichzeitig loteten wir, unbeschwert und ohne dass wir uns dessen bewusst gewesen wären, elementare moralische Dimensionen des Lebens aus. Gibt es Menschen, die mehr wert sind als andere?Wie misst man den Wert? Darf man jemanden opfern, um drei andere zu retten? Ich erinnere mich an keinen konkreten Entscheid mehr, den ich oder die anderen gefällt hätten. Aber ich erinnere mich gut an meine unwillkürlichen Versuche, die Spielregeln auszutricksen, um keinen Entscheid treffen zu müssen, und an den Gedanken, hoffentlich nie im realen Leben in eine solche Situation zu geraten.

Bewertung des Apfels

Wenn wir uns durch die Welt bewegen, bewerten wir permanent alle Dinge und Ereignisse, denen wir begegnen. Wahrnehmung und Evaluation vollziehen sich nahezu gleichzeitig, und sie geschehen intuitiv, emotional und bevor die Vernunft auf den Plan tritt. Wenn wir in einen Apfel beissen, wissen wir augenblicklich, ob er uns schmeckt oder nicht, ob er sauer, süss oder faulig ist. Ebenso verhält es sich mit moralischen Urteilen. Wir empfinden etwas als ungerecht oder fair, gut oder schlecht, ohne vorher über die Gründe unseres Verdikts nachgedacht zu haben, welche wir zudem oft auch im Nachhinein nicht erklären können. Aber ein spontanes Gefühl sagt uns, dass etwas nicht in Ordnung ist. Diese Vorgänge sind so selbstverständlich und natürlich wie das Atmen, und wie dieses nehmen wir jene oft erst wahr, wenn ihr Ablauf gestört wird. Zum Beispiel im Falle unserer Rettungsbootübung, wo das Gebot, niemanden zu töten, dem Gebot, das Leben anderer zu retten, in die Quere gerät und ein moralisches Dilemma schafft.

Ist die Bereitschaft, auf das Wohl des anderen Rücksicht zu nehmen und denjenigen zu verurteilen, der sich darum foutiert, eine anerzogene und kulturelle Zufälligkeit? Oder ist sie jenseits alles Relativismus eine universelle menschliche Eigenschaft, ein Erbe der Evolution, biologisch gesichert in einer Art «MoralGen»?

Wir hatten als Jugendliche keine Ahnung,dass unsere übermütigen Grenzfallszenarien Thema von vielen literarischen und philosophischen Erörterungen waren. Zum Beispiel im Stück «Auf hoher See» des Polen Slawomir Mrozek, einem grotesken Einakter, wo drei hungrige Männer, ein dicker, ein mittlerer und ein schmächtiger, in einem Boot auf dem Meer treiben und sich darüber unterhalten, wer von ihnen sich als Überlebensnahrung für die anderen zwei opfern sollte. Oder im als «Trolley-Problem» bekanntgewordenen Gedankenexperiment der Philosophinnen Philippa Foot und Judith Jarvis Thomson.

Darf man ein Leben opfern?

Ein Trolley, eine Strassenbahn, so die ursprüngliche Version, ist ausser Kontrolle geraten und rast auf eine Gruppe von fünf ahnungslosen Geleisearbeitern zu. Durch Umstellen einer Weiche kann der Wagen auf ein anderes Gleis geleitet werden. Leider befindet sich dort ein weiterer Arbeiter. Darf ich nun den Schalter umlegen und den Tod des einen in Kauf nehmen, um das Leben der fünf anderen zu erhalten?

In einem zweiten Experiment rast erneut eine Strassenbahn auf fünf ahnungslose Arbeiter zu. Ich überblicke die Szene von einer Brücke aus und realisiere, dass der Wagen nur gestoppt werden kann, wenn ich den dicken Mann, der neben mir steht, auf die Geleise stosse. Darf ich seinen Tod herbeiführen, um das Leben der fünf anderen zu erhalten?

Das Trolley-Problem inspirierte andere Moral– und Rechtsphilosophen und Wissenschaftler, und das Versuchsexposé erfuhr verschiedenste Weiterungen. Aus dem dicken Mann wurde ein dicker Verbrecher; ein Chirurg wird vor die Wahl gestellt, einem gesunden, unbekannten Reisenden fünf lebensnotwendige Organe zu entnehmen, um damit fünf Patienten vor dem sicheren Tod zu bewahren; eine Mutter versteckt sich im Krieg mit ihrem Baby im Keller, draussen patrouillieren feindliche Soldaten. Das Baby beginnt zu schreien, und wenn ihm die Mutter nicht den Mund zuhält und die Gefahr auf sich nimmt, das Baby zu ersticken, werden die Soldaten kommen und Mutter, Kind und alle anderen Anwesenden töten.

Je nach philosophischer Schule neigten die Autoren entweder zur Auffassung, dass es Handlungen gibt, die in sich moralisch absolut verwerflich und deshalb verboten sind, ungeachtet ihrer Folgen, oder kamen zum Schluss, dass der Charakter einer schlechten Tat durch ihre positiven Konsequenzen moralisch aufgewertet werden kann.

Eine andere Fragestellung verfolgte vor wenigen Jahren ein Team um die Psychologen Fiery Cushman und Liane Young und den Biologen Marc Hauser. In einer grossangelegten Untersuchung wollten sie von 200 000 Leuten aus 100 Ländern wissen, wie sie das Trolley-Problem lösen würden. Die Befragten stammten aus Asien, Europa, Süd- und Nordamerika, waren Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten, Juden, Atheisten, Alte und Junge, Schwarze, Farbige und Weisse, Männer und Frauen aus allen Bildungsschichten. Über 90 Prozent gaben dieselben Antworten, intuitiv, ohne sie plausibel begründen zu können und unabhängig von ihrer Herkunft: Den Hebel würden sie umlegen, aber den dicken Mann nicht von der Brücke stossen.

Fasziniert von diesem Resultat, ging der junge Neurowissenschaftler und Philosoph Joshua Greene einen Schritt weiter. Die Weigerung der allermeisten, einen Unschuldigen eigenhändig in den Tod zu befördern, bei gleichzeitiger Inkaufnahme seines Todes, wenn dieser quasi als Kollateralschaden einer humanitären Rettungsaktion erfolgt, war für Greene ein Indiz für die Wirksamkeit eines humanen, entwicklungsgeschichtlichen Moral-Instinkts, der sich auch mit harten naturwissenschaftlichen Methoden nachweisen lassen müsste. Unter Zuhilfenahme der neuesten Wunderwaffe der Medizinaltechnologie, der fMRI (funktionelle Magnetresonanztomografie), machte er sich daran, das Innerste des menschlichen Gehirns auszuhorchen.

Spontane Moral

Zusammen mit einigen Kollegen der Princeton-Universität testete er die zerebralen Reaktionen von Probanden, denen verschiedene Versionen des Trolley-Dilemmas vorgelegt wurden. Ging es um mehr «unpersönliche» Entscheidungen wie jene, den Wagen durch Weichenstellung auf das andere Gleis umzulenken, zeigte jene Gehirnregion eine erhöhte Betriebsamkeit, in der «kühle», rationale Berechnungen und kognitive Erwägungen abgewickelt werden. Anders bei der mehr «persönlichen» Herausforderung, mit eigenen Händen jemanden zu töten: Hier wurden gleich mehrere neuronale Systeme aktiviert. Neben dem für kognitive Erwägungen zuständigen Netzwerk vermeldeten die in «heisse», emotionale und empathische Prozesse involvierten Zonen eine starke negative Reaktion, und gleichzeitig arbeitete es heftig in einer dritten Hirngegend, im Cingularis anterior Cortex, dem als eine Art sechsten Sinn die alte evolutionäre Funktion eines Frühwarnsystems bei drohender Fehlentscheidung zugeschrieben wird und der moralische Konflikte wie denjenigen des Mannes auf der Brücke registriert.

Greenes Befund, dass ethisches Verhalten, dass die zivilisatorische Elementarformel «Du sollst nicht töten», tatsächlich auf spontanen emotionalen Impulsen gründet, wurde gestützt durch Tests mit Patienten, deren Fähigkeit zur emotionalen Wahrnehmung aufgrund von Verletzungen im vorderen Hirnbereich stark beeinträchtigt war. Das Trolley-Problem bereitete ihnen keinerlei Kopfschmerzen. Es war für sie eine rein rechnerische Herausforderung. Alle hätten sie den dicken Mann von der Brücke gestossen.

Gute Nachrichten der Hirnforschung

Die Nachrichten aus den Neurolabors sind eigentlich gute Nachrichten. Sie werfen ein wärmeres Licht auf die menschliche Natur. Mitempfinden, Altruismus, Fürsorglichkeit, Loyalität sind uralte Veranlagungen, entwickelt in Abertausenden von Jahren des Zusammenlebens und der Kooperation.

Das Konzept des Homo oeconomicus, des nur auf den eigenen Gewinn bedachten Egoisten, erscheint dagegen als armseliges Gerippe. Vor die Wahl gestellt, einen schnellen Vorteil zum Schaden seines Nachbarn zu ergattern oder darauf zu verzichten, entscheiden sich die allermeisten für die moralische Variante. Nicht nur aus Angst vor Sanktionen, sondern aus einem spontanen menschlichen Gefühl für Fairness heraus.

Angesichts der Erkenntnisse rund um die «Trolleyologie» könnte man sagen, dass die Macht der moralischen Empfindungen bisher stark unterschätzt wurde. Sie sind nicht bloss private Sensibilitäten, sondern sie geben die soziale und geistige Fahrtrichtung vor, ohne die der Einzelne sich verirren und die Gesellschaft im Chaos versinken würde. Jüngst haben gar Wissenschaftler, in Anlehnung an Noam Chomskys linguistische Theorie einer universellen Grammatik, den Begriff einer universellen moralischen Grammatik geprägt. Er meint, dass die Menschen mit genetisch fixierten, abstrakten Prinzipien geboren werden, die uns zwingen, alle Handlungen in Bezug auf deren moralischen Wert zu beurteilen.

Aber sollten auch Neurowissenschaftler eines Tages im glitschigen Nanokosmos der Eiweisse und Aminosäuren ein MoralGen lokalisieren, würde dies nicht bedeuten, dass damit die Frage nach Gut und Böse endlich gelöst wäre.

Der moralische Instinkt kennt keine positiven Antworten auf all die Paradoxien, Vertracktheiten und Komplexitäten der Humanzivilisation. Er weiss nicht, ob Euthanasie erlaubt sein soll, ob Krieg gerechtfertigt sein kann, ob gefoltert werden darf, wenn damit Menschenleben gerettet werden können. Diese Antworten können nur mit kognitiven, rationalistisch geführten Auseinandersetzungen laufend neu verhandelt werden. Aber der moralische Impuls hat die zentrale Aufgabe, den Diskurs vor dem doktrinären Klügeln und vor dem Erstarren im Kältetod zu bewahren.

Nach oben scrollen