Basler Zeitung

19.09.2014

Eine Frage der Moral

Aussichten auf einen Dreissigjährigen Krieg

Von Eugen Sorg

Unlängst nannte US-Präsident Barack Obama die Terror-Miliz «Islamischer Staat im Irak und der Levante» (Isil) ein «Krebsgeschwür» und kündigte in einer Rede an die Nation an, jene zu «schwächen und zu zerstören». Noch wenige Monate zuvor hatte er über deren Schwäche gespöttelt, aber die Terrormuslime hatten unterdessen in einem grausamen Blitzkrieg weite Teile Syriens und des Nordirak erobert, ein Kalifat ausgerufen, zum Entsetzen der zivilisierten Weltöffentlichkeit vor laufender Kamera zwei amerikanische Journalisten und einen britischen Entwicklungshelfer geköpft und die Enthauptung weiterer Geiseln versprochen. Obama, dessen konfuse Aussenpolitik sich mehr an Publikumsumfragen denn an einem Konzept orientiert, musste den entschlossenen obersten Befehlshaber markieren.

Aber auch wenn er es ernst meinen und neben den Kampfjets und Drohnen auch Bodentruppen schicken würde, gelänge es nicht mehr, das «Krebsgeschwür» zu eliminieren. Der Nahe Osten befindet sich in Auflösung: Staaten zerfallen; uralte religiöse Schismen erfahren eine blutige Verschärfung; Extremisten verfolgen Moderate; Stammeskriege vermischen sich mit Konfessionskriegen; Fanatiker, Psychopathen und Desperados bestimmen den Lauf der Dinge. Und an Kämpfern besteht kein Mangel.

Es ist der Krieg selbst, der ständig neue Krieger produziert und sich selber am Leben erhält. Die bewaffneten Horden lassen die zivile Wirtschaft kollabieren und schaffen Populationen von Mittel- und Obdachlosen. Elf Millionen Syrer, die Hälfte der Bevölkerung, und fast drei Millionen Iraker, ein Zehntel des Landes, sind vertrieben worden. Viele von ihnen sind junge Männer, die keinen Ort mehr haben, wohin sie heimkehren können. Und wer nichts mehr zu verlieren hat, ist eher versucht, in einem der frommen Terrorverbände sein Leben zu riskieren und anderen die Hölle zu bereiten. Er findet dabei Kumpane aus aller Welt.

Zehntausend Gotteskrieger aus fünfzig Nationen, darunter viele aus Europa und Amerika, kämpfen beispielsweise in den Reihen der Kalifat-Jünger. Sie gaben die Sicherheit ihrer unscheinbaren westlichen Existenz auf für die Verlockungen eines Lebens der Intensität, der heiligen Menschenjagd, der rauschhaften Allmacht. Beflügelt werden sie alle von einem trüben Todeskult, direkt hervorgegangen aus einer Religion, deren heilige Schriften, Überlieferungen und Traditionen unzählige Rechtfertigungen für das Wüten seiner zeitgenössischen Getreuen liefern. Stifter und Prophet Mohammed selber, «perfekter Mensch» und Vorbild für jeden Muslim, ordnete 627 die Auslöschung des jüdischen Stammes der Quraiza an, indem er sämtliche 600–900 Männer an eine Grube führen und enthaupten liess.

Der Nahe Osten ist in eine Situation geschlittert, wie sie etwa das antike Griechenland zur Zeit des Peleponnesischen Krieges oder das Europa des 17. Jahrhunderts mit dem Dreissigjährigen Krieg durchlebten. Solche Gemetzel gehen erst zu Ende, wenn die Generation der Väter und diejenige der Söhne dermassen ausgeblutet und erschöpft sind, dass das Reservoir an frischen Kämpfern versiegt.

Bis es so weit ist, muss sich der Westen vorsehen. Mit kluger Geheimdienstarbeit und Terrorabwehr, realistischer Einwanderungs- und Asylpolitik, mit militärischer Unterstützung der vernünftigen Kräfte in Bürgerkriegszonen. Und um dies zu können, müssen vor allem die Europäer wieder erwachsen werden. Die in den Eliten verbreitete kulturrelativistische Pseudotoleranz und die pubertäre Sucht nach gesellschaftlicher Harmonie verhindern die Wahrnehmung, dass es Menschen und Bewegungen gibt, deren einziges Ziel darin besteht, andere Gruppen zu vernichten, auch wenn sie selber dabei umkommen. Doch gegen das Böse kann man sich nur schützen, wenn man es erkennt und wenn einem das eigene Haus als wertvoll genug erscheint, um es zu verteidigen.

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