Basler Zeitung

21.06.2013

Held oder Verräter

Das neue Gesicht der Spionage

Von Eugen Sorg

Es war eine der grössten Datenenthüllungen in der politischen Geschichte Amerikas. Edward Snowden, ein 29-jähriger Mitarbeiter des verschwiegensten und mächtigsten US-Geheimdienstes NSA (National Security Agency), hatte eine Fülle von Dokumenten über Art und Ausmass der Tätigkeit der NSA kopiert und dem «Guardian» sowie der «Washington Post» ausgehändigt.

In einem Video bekannte sich Snowden, der sich nach Hongkong abgesetzt hatte, zu seiner Tat und versuchte die Gründe seines Geheimnisverrats zu erklären. Es ginge ihm nicht um sich, meinte er, nicht darum, öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sondern es gehe ihm darum, aufzu­zeigen, was die US-Regierung mache. Sie sei in der Lage, jedes Telefongespräch, jede E-Mail, jedes private Treffen von jedem Bürger simultan zu kontrollieren, und sammle systematisch Daten bei Google, Facebook, Microsoft, Apple und so weiter. «Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, die so etwas macht.»

Snowden, ein Schulabbrecher, hatte sich 2003 als Freiwilliger für den Irak-Krieg gemeldet, sich aber bei der Ausbildung die Beine gebrochen, und ­heuerte danach als Computertechniker bei der CIA an. Er war talentiert, stieg auf, wurde nach Genf versetzt, wechselte später zur NSA, ein gefragter Hightech-Spion, der zuletzt auf Hawaii stationiert war mit einem Jahressalär von satten 200 000 Dollar. Was jede Putzfrau und jeder Angestellte weiss – dass man interne Geschäfts­papiere nicht mitgehen lassen darf –, war für Snowden, der sein ganzes bisheriges Erwachsenenleben in den Dunkelkammern des Staats ­gearbeitet hatte, ein quasi sakrales Gebot. Sogar seine Freundin hatte nicht genau gewusst, womit er sein Geld verdiente.

Was in ihm vorging, dass er sich nach einem Jahrzehnt doch zum Datenverrat entschied, wird man wahrscheinlich nie erfahren. Seine sich selbst idealisierenden Darstellungen als Winkelried der globalen Privatsphäre darf man infrage stellen. Sein Verhalten im Hongkonger Hotelzimmer, wo er nach dem Untertauchen einige Journalisten empfing, wirkte leicht paranoid: Er platzierte ­Kissen vor den Türspalt und legte ein Tuch über Kopf und Tastatur, bevor er den Computer ­startete, um sich so vor einer allgegenwärtigen Überwachung zu schützen.

Auch eine weitere Rechtfertigung für seinen kolossalen Sicherheitsverstoss hörte sich seltsam an, nicht wie das Urteil eines rational abwägenden Zeitgenossen. Als CIA-Angestellter in Genf habe er erfahren, mit welchen Methoden Agentenkollegen einen Schweizer Banker bearbeitet hätten, um an geheime Bankdaten zu gelangen. Sie hätten ihn betrunken gemacht, zum Auto­fahren überredet, und als der lustige Banker wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet worden sei, habe man ihm Hilfe angeboten, was schliesslich zur erfolgreichen Rekrutierung geführt habe. Nun ist diese Geschichte nicht nur unglaub­würdig, sie eignet sich auch schlecht, Snowdens moralischen Dégoût nachvollziehbar zu machen. Sogar ein gutmütiger und naiver Zeitgenosse ­vermöchte im beschriebenen Verhalten der CIA nichts zutiefst Schreckliches zu erkennen. Wenn dies das Maximum geheimdienstlicher Abgründigkeit wäre, dann wäre die CIA ein harmloser Freizeitverein und die Welt ein paradiesischer Ort.

Das US-Rechtssystem bietet im Übrigen unzufriedenen, besorgten Beamten legale Möglichkeiten, ihr Anliegen vorzutragen. Es gibt Gesetze für Whistleblower; Klagen können im Kongress ein­gebracht werden; innerhalb der Institutionen ­können Beschwerdewege beschritten werden. Snowden versuchte, soweit man bisher weiss, keine dieser Optionen, sondern gelangte mit den hoch klassifizierten Informationen direkt an die Presse. Für die einen ist er ein Verräter, ein Überläufer, ein geltungssüchtiger Narziss, der mit der Preisgabe von Staatsgeheimnissen die Sicherheit des Landes und das Leben vieler Mitbürger gefährdet. Dass er nach Hongkong geflüchtet ist und sich damit faktisch unter die Obhut Chinas, des grössten Herausforderers der amerikanischen Welthegemonie, gestellt hat, ist Beweis für die Gefährlichkeit des NSA-Abtrünnigen. Für viele andere aber ist Snowden ein Held, ein reuiger Spion, der seine Spitzeltätigkeit nicht mehr mit seinem Gewissen verantworten konnte und unter Gefährdung des eigenen Lebens auf die Existenz des unkontrolliert und gespenstisch wuchernden Überwachungsstaats aufmerksam gemacht hat.

Fest steht nur, dass er die Daten nicht aus finan­ziellen Gründen gestohlen hat. Ziemlich sicher ist auch, dass der 29-Jährige im weiteren Sinne ein Produkt des Apparats ist, den er nun denunziert. Die technologische Entwicklung bietet Möglichkeiten, das Leben der Menschen zu kontrollieren, die vor Kurzem unvorstellbar waren. Geheimdienste, das zweitälteste Gewerbe der Welt, mit dem Auftrag, die Sicherheit des Landes und der Bürger zu schützen, setzen naturgemäss auf ­modernste Überwachungstechniken.

Leute wie Snowden sind das heutige Gesicht der Spionage. Aufgewachsen vor dem Computer und sozialisiert im Internet sowie im virtuellen Ethik­universum der Hacker, das keine Informations­barriere anerkennt, lernten sie früh, dass man mit wenigen Tastenklicks in fremde Räume eindringen und wieder verschwinden konnte, dass man jede Identität annehmen und ohne Folgen wieder aufgeben konnte. Klassische Spione zeichneten sich aus durch Charme, Weltgewandtheit, Verführungskraft oder Risikobereitschaft. Ihr Geschäft der Informationsbeschaffung funktionierte über persönliche Beziehungen zu Geheimnisträgern. Moderne Spione sitzen am Bildschirm, sind introvertiert, technisch begabt, träumen vom richtigen Leben wie Snowden, oder sind einsam wie der 22-jährige homosexuelle Soldat Bradley Manning, der vor drei Jahren 720 000 geheime militärische und diplomatische Akten aus seinem Unterstand im Irak an Wikileaks weitergeleitet hatte.

Es gehört zu den schwierigeren Aufgaben demokratischer Staaten, die Überwachungsorgane zu überwachen. Ebenso schwierig ist es aber auch zu verhindern, dass Mitarbeiter des Apparats an die falsche Adresse Geheimnisse preisgeben. In den USA haben 1,4 Millionen Menschen Zugang zu geheimdienstlichen Daten. Der nächste Fall ­Snowden kommt bestimmt. eugen.sorg@baz.ch

Sie lernten früh, dass man mit wenigen Tastenklicks in fremde Räume eindringen und ohne Folgen wieder verschwinden konnte.

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