Basler Zeitung

18.05.2018

Eine Frage der Moral

Der Bleistift der Freiheit

Von Eugen Sorg

Der Fall der Berliner Mauer am 8. November 1989 leitete den Zusammenbruch der DDR-Diktatur ein, und der Kollaps des diszipliniertesten Untertanen Moskaus bedeutete auch das Ende des Sowjet-Imperiums. Der epische Kampf des 20. Jahrhunderts, der Kampf zwischen den kapitalistischen Systemen des Westens und den Zwangskollektiven des Ostens, hatte sich entschieden. Die Sowjetunion, das grösste Reich der Geschichte, ein Imperium, das sich über zwölf Zeitzonen erstreckte, war schon lange morsch und verkommen und krachte lautlos in sich zusammen. Die auf den ideologischen Gründervater Karl Marx sich berufende Kommandowirtschaft, der totalitäre Staat, die wahnhafte Idee, eine angeblich erleuchtete kleine Partei-Elite könne über die Bedürfnisse und Gedanken von Millionen von Menschen entscheiden, hatten in allen kommunistischen Staaten zu ökonomischer Ineffizienz, Elend, geistiger Versklavung, Todeslagern geführt und mit Stalin, Mao, Pol Pot einige der grössten Politmonster hervorgebracht.

Der Marxismus ist umfassend gescheitert, und die letzten kommunistischen Diktatoren wie Maduro in Venezuela oder Kim Jong-un in Nordkorea wirken wie irre Geisterfahrer, wie Zombies, die ihre ruinierten Schattenreiche weiterhin als Paradies der Werktätigen anpreisen.

Der aus dem Kalten Krieg als Sieger hervorgegangene Westen hingegen prosperierte kontinuierlich und auf allen Ebenen: wirtschaftlich, wissenschaftlich, technologisch, den allgemeinen Lebensstandard betreffend. Die allermeisten Menschen lebten über Jahrtausende hinweg in schlimmster Armut, bis ab Mitte des 18. Jahrhunderts in den Ländern des Westens ein Wohlstandsschub einsetzte, der sich später auch auf die übrige Welt ausbreitete und bis heute anhält. 97 Prozent des Reichtums der Menschheit wurden in den letzten 250 Jahren erzeugt, berechneten Wirtschaftshistoriker, und das Welt-BIP wuchs pro Kopf um das 37-fache. Die Menschen haben seither eine dreifach so hohe Lebenserwartung, sie leben ungleich gesünder, glücklicher, komfortabler. Der Grund für diese historisch einzigartige Entwicklung liegt darin, dass sich ein Wirtschaftssystem durchgesetzt hat, das den früheren wirtschaftlichen Ordnungen weit überlegen ist. Europa und die «Neue Welt», Amerika, begannen sich an der von schottischen Aufklärungsphilosophen wie Adam Smith entwickelten Theorie des freien Markts zu orientieren, und der Kapitalismus, der freie Tausch von Gütern und Ideen, entfaltete seine umwälzende schöpferische Dynamik.

Warum der Kapitalismus den kommunistischen Wirtschaftsmodellen derart überlegen ist, versuchte der amerikanische Ökonom Leonard Read in seinem vor sechzig Jahren erschienenen Essay «I, Pencil» («Ich, der Bleistift») zu erklären. Der kurze, elegant und anschaulich geschriebene Aufsatz gehört zu den bekanntesten Texten der Wirtschaftsliteratur. Read zeichnet detailliert nach, wie viel Know-how, Spezialwissen, maschinelle Technologie, Logistik hinter der Produktion eines einfachen Bleistifts steckt. Bestimmte Bäume müssen gefällt werden, dazu braucht es Sägen aus gehärtetem Stahl, Lastwagen, Seile, Eisenbahnverbindungen, um die Stämme in die Sägefabriken zu transportieren. Dort werden sie mit Präzisionsgeräten in Stäbchen geschnitten, getrocknet, gefärbt. Später mit in Sri Lanka gefördertem und in die USA verschifftem Grafit versehen, das allerdings noch mit verschiedensten Stoffen verarbeitet werden muss, bevor es sich als Schreibmine eignet. Man benötigt Ton vom Mississippi, Rapsöl aus Indonesien, Bimsstein aus Italien, Messing aus Zink- und Kupferminen. Millionen Menschen in aller Welt sind letztlich irgendwie an der Herstellung des simplen Stifts beteiligt. Kein einzelner Mensch hätte das Wissen, dieses erstaunliche Werk alleine zu schaffen, schreibt Read. Noch erstaunlicher aber sei es, dass hinter all den unzähligen Aktionen kein Planer oder führender Kopf steht. Die hochkomplexe Schöpfung sei das Resultat der schöpferischen und produktiven Kraft der Menschen, die, wenn sie frei und ungehindert ausprobieren können, geeignete Antworten auf Notwendigkeiten und Erfordernisse des Lebens finden. Bessere Antworten, als Chefbürokraten, staatliche Experten und Wirtschaftsgelehrte je geben können.

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