Basler Zeitung

15.06.2018

Eine Frage der Moral

Die Kunst des Sterbens

Von Eugen Sorg

Nach 40 Jahren Tätigkeit als politischer Kolumnist und Essayist verfasste Charles Krauthammer vor einer Woche seinen letzten Kommentar. Der Stil war so, wie man ihn von ihm kannte: präzis, unsentimental, elegant. Nur der Inhalt war ungewohnt. Es ging zum ersten Mal nicht um politische Ereignisse und Entwicklungen, sondern um den Autor selbst. Krauthammer verabschiedete sich von Freunden, Kollegen und Publikum und kündigte seinen baldigen Tod an.

Im letzten Sommer sei ihm ein Tumor im Magen erfolgreich entfernt worden, schrieb er in der Washington Post , und nach anfänglicher Hoffnung auf Genesung sei der Krebs plötzlich zurückgekehrt, aggressiv und schnell auswuchernd. «Die Ärzte sagen mir, dass ich im besten Fall nur noch wenige Wochen zu leben habe. Dies ist das endgültige Urteil. Mein Kampf ist vorbei.»

Der öffentliche Abschied des 68-jährigen amerikanischen Starkolumnisten und Mitglieds der Republikanischen Partei löste nicht nur bei seinen Anhängern Erschütterung aus, sondern sorgte in der gesamten hartgesottenen Medien- und Politwelt für Betroffenheit. Von seinen Freunden bewundert, von seinen Gegnern gefürchtet, aber von niemandem bestritten werden Krauthammers analytische Brillanz, sein Humor, sein einmaliges Talent, den Wesenskern komplexer Sachverhalte zu erkennen und in verständliche Worte zu fassen, sein bis zur Erbarmungslosigkeit nüchterner, unbestechlicher, nie zynischer Blick auf Menschen und Politiker, seine Integrität und Gelehrtheit.

Krauthammer gehört einer aussterbenden Spezies an. Er ist ein konservativer öffentlicher Intellektueller alter Schule, der tief davon überzeugt ist, wie er in seinem letzten Text schreibt, dass «die Suche nach Wahrheit und den richtigen Ideen durch ehrliche Debatte und strenger Erörterung ein nobles Unterfangen ist». Er habe aus «den richtigen Gründen geschrieben», urteilten auch die Herausgeber der linksliberalen Washington Post , wo Krauthammers wöchentliche Freitagskolumne seit 1985 erschien und für die er 1987 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde: Nicht, um ins «Weisse Haus» eingeladen zu werden, sondern «um uns zum Denken zu provozieren, um unser Verständnis zu erweitern und uns gelegentlich zum Lachen zu bringen.» Krauthammer habe einmal darüber sinniert, schreibt die Post weiter, welche Nachricht wir Menschen an andere Wesen im All schicken sollten. Und gibt selber eine Antwort: «Wir könnten beginnen, alle Krauthammer-Kolumnen herunterzurasseln», als «authentisches Beweismaterial für den Wert des Menschentums».

Vor rund 500 Jahren, im europäischen Spätmittelalter, entwickelte sich eine Erbauungsliteratur und -kunst über die richtige Art, aus dem irdischen Leben zu scheiden und ins himmlische Reich überzutreten. Das Sterbebett galt als umlauert von Teufeln und Dämonen, die den Sterbenden in die letzten Glaubensversuchungen führen wollen, um sich seiner Seele zu bemächtigen und in ewige Verdammnis zu werfen. Auf Holzschnitten und in frommen Brevieren wurde anschaulich die Ars moriendi, die Kunst des Sterbens, gelehrt, also die mentalen Vorkehrungen und frommen Massnahmen, um die Seele vor dem Zugriff des Bösen zu retten.

Heute sind die Kobolde und Höllenwesen weitgehend verschwunden, aber der Schrecken vor dem Tod ist trotz Aufklärung und Palliativmedizin geblieben. Hinter dem Schritt ins schwarze Nichts, ins ewige Verschwinden, lauern für immer die Schwindel des finalen Kontrollverlustes. Der Tod bleibt das Unfassbare. Krauthammer hat uns auch in dieser Hinsicht etwas zu sagen. Das Geheimnis der Ars moriendi, der Kunst des richtigen Sterbens, so könnte man seinen Werdegang und sein Werk auch lesen, liegt in der Ars vivendi, der Kunst des richtigen Lebens.

Der agnostische Jude Krauthammer, Arzt und Psychiater vor seiner zweiten Karriere als Kommentator, Tetraplegiker seit einem Unfall als blutjunger Student, schloss seine terminale Freitagskolumne mit einer existenziellen Verneigung und Danksagung.

«Ich verlasse dieses Leben ohne Bedauern. Es war ein wunderbares Leben – erfüllt und vollendet mit all den grossen Lieben und Bemühungen, die es lebenswert machen. Ich bin traurig, dass ich gehe, aber ich gehe mit dem Wissen, dass ich jenes Leben lebte, das ich mir wünschte.»

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