Basler Zeitung

13.07.2018

Eine Frage der Moral

Virtuosen des Überlebens

Von Eugen Sorg

In den letzten Tagen des zusammenbrechenden Nazi-Deutschlands wurde der damalige Schüler und spätere Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger in den Volkssturm eingezogen. Dem 15-Jährigen stand der Sinn nicht nach blindem Gehorsam und Heldentod, er haute wieder ab und schlug sich nach Hause durch. In der folgenden chaotischen Nachkriegszeit war er Barmann bei den amerikanischen Truppen, lernte dabei Englisch, arbeitete als Dolmetscher und ernährte seine Familie als Schwarzhändler. Nebenbei machte er das Abitur und las sich wie ein Besessener durch die Weltliteratur, die unter den Nazis verboten gewesen war und nun von den Amerikanern zur Verfügung gestellt wurde. Als er sich durch seine guten Beziehungen zu den Besatzungsbehörden Papiere verschafft hatte, unternahm er sofort seine erste Reise ins Ausland, nach England. Das Leben hatte begonnen.

Der junge Enzensberger offenbarte bereits alle jene Eigenschaften, die ihn und sein Werk bis heute kennzeichnen sollten: Widerwillen gegen Herdenverhalten und moralisierendes Pathos, Mut zum Ausscheren, kluger pragmatischer Instinkt, Wissenshunger und unversiegbare Neugier auf Menschen und Welt. Seit 60 Jahren prägt Enzensberger das politische und kulturelle Leben des deutschsprachigen Raums. Seine Essays sind brillant, klar, ohne Bildungshuberei oder eitle Effekthascherei, dafür verfasst mit einem untrüglichen Gespür für neue, bis anhin übersehene gesellschaftliche Entwicklungen. Aufsätze wie «Die grosse Wanderung» oder «Aussichten auf den Bürgerkrieg» aus den 90er-Jahren veränderten in vielen Köpfen die naive Art und Weise, mit der bisher über Migration und Weltfrieden nachgedacht worden war. Und als er begann, die EU als entmündigendes «sanftes Monster», als «Geburtsfehler» zu kritisieren, war ihm bewusst, dass ihm das Brüsselfromme deutsche Feuilleton die Liebe entziehen würde. Es kümmerte ihn nicht. Er war immer unabhängig und frei.

Neben den Essays schreibt Enzensberger auch Gedichte, Kinder- und Jugendbücher, Dramen, Romane, Autobiografisches und meisterhafte Porträts. Es gibt kaum ein literarisches Genre, das er nicht beherrscht. «Deutscher Diderot» wurde er auch schon genannt. Alle Texte sind vom charakteristischen Enzensberger-Stil getragen. Die Sätze kommen leicht daher, entspannt, scheinen fast über dem Stoff zu schweben. Der von den Figuren und Handlungen sichtlich faszinierte Autor verhindert seine Überwältigung, indem er eine Haltung der Lakonik und Ironie dem Material gegenüber einnimmt. So schafft er Distanz zum Erzählten und ist jederzeit in der Lage, Wirkung und Fortgang des Textes zu kontrollieren. Beobachter zu bleiben und trotzdem die eigene Faszination im Leser zu wecken, ist das Geheimnis eines literarischen Ausnahmekönners wie Enzensberger.

Mittlerweile ist er 88 Jahre alt. Vor Kurzem hat er wieder ein Buch veröffentlicht, «Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert». Er stellt darin 99 Dichter vor, die den Wirren und Katastrophen des letzten Jahrhunderts, Kriegen und Terror irgendwie entkommen konnten. Die Auswahl ist subjektiv, einzige Bedingung war, dass sie Schriftsteller waren und physisch überlebt hatten. Gegliedert ist das Buch nach Geburtsdaten, es fängt an mit Knut Hamsun (1859) und hört auf mit Ismail Kadare (1936), dem einzigen aus der Galerie, der noch am Leben ist. Die Vignetten sind Kurzporträts, nicht länger als zwei bis maximal vier Seiten, mit den elementarsten biografischen Daten und Lebensstationen, ähnlich wie flüchtig hingeworfene Skizzen zu einem Buch, das einer noch zu schreiben gedenkt. Trotz der fast unverschämten Verknappung der Lebensläufe sind die Miniaturen spannend zu lesen. Enzensberger geht davon aus, dass kaum jemand die Totalitarismen der Zeit überleben konnte, ohne auf irgendeine Weise Komplize des Unheils zu werden. Moralische, selbstgerechte Urteile darüber masst er sich als Nachgeborener, der die Prüfungen der Früheren nicht bestehen musste, jedoch keine an. Ihn interessiert nur das Wie des Überlebens. Hatten Gorki, Nelly Sachs, Ricarda Huch, Rudolf Borchardt, Ilja Ehrenburg, Gottfried Benn und viele andere einfach Glück, oder waren sie intelligent, hellsichtig, Virtuosen der Tarnung? Hatten sie eine Taktik? Vielleicht, so der alte Enzensberger, könnte irgendwann wieder, «ein Training in der Kunst des Überlebens von Nutzen sein».

Nach oben scrollen