Die Weltwoche / Eugen Sorg

11.04.2002

Die Geometrie des Glücks

Von Eugen Sorg

Etienne Cabet entwarf im 19. Jahrhundert die perfekte Republik Ikarien, die in Amerika Realität wurde. Seine Ideen nahmen den Alptraum des Totalitarismus vorweg

Am 3. Februar des Jahres 1848, einem nebligen Wintermorgen, wurden auf einem der riesigen Segelmaster im Hafen von Le Havre die letzten hektischen Vorbereitungen getroffen für die lange Überseefahrt nach New Orleans. Auf dem Quai, etwas abseits vom üblichen Abreisegetümmel, hatte sich eine grössere Gruppe versammelt. In deren Mittelpunkt stand ein älterer, städtisch gekleideter Herr, mit rundem Gesicht, schlauen Äuglein und schmalen, verkniffenen Lippen. Er hielt eine Ansprache. «Es ist Cabet», raunte einer der neugierigen Zuschauer seinem Nachbarn zu, «Papa Cabet, der Kommunist.» Und er fügte zwinkernd hinzu: «Der König Ikariens.»

Gegenüber Cabet hatten sich mehrere Dutzend Männer aufgestellt, in militärischer Formation, 69 jüngere, kräftige Handwerkertypen mit ernsten Gesichtern. Sie trugen eine Art Uniform aus kurzem, schwarzem Samtrock und breitkrempigem, grauem Filzhut. Um sie herum postierten sich in etwas loserer Anordnung nochmals so viele Leute – Männer, einige Frauen und Kinder. Über der ganzen Versammlung lag gleichzeitig feierliche Gefasstheit und freudige Erregung.

Cabet sprach wortgewandt, er beschwor heilige Brüderlichkeit, und seine Rede kulminierte in der Verkündung, dass mit dem heutigen Tag ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte eingeleitet worden sei, «der nach unserem Dafürhalten zum Grossartigsten gehört, was die Geschichte der Menschheit zu verzeichnen hat». Etwas später mussten die jungen Männer einen Schwur ablegen. «Gelobt ihr», rief Cabet, und seine hohe Stimme durchschnitt das Gekreisch der Möwen, «gelobt ihr, die Auszeichnung ?Soldaten der Menschheit? mit all den Pflichten, welche dieser Titel euch auferlegt, zu akzeptieren?» – «Oui, oui, ja, ja!» Und schliesslich stimmte die ganze Gesellschaft in eine vierstrophige Hymne ein, deren Refrain lautete: «Gründen wir ein Vaterland, reisen wir nach Ikarien!»

Das Land Ikarien war auf keiner Landkarte zu finden. Es existierte lediglich in einem Buch mit dem Titel «Voyage en Icarie» («Reise nach Ikarien»), verfasst von Etienne Cabet, von Père Cabet, wie ihn seine Anhänger liebevoll und seine Feinde spöttisch nannten. Und es existierte in den Köpfen der wackeren 69 Filzhutträger, die am 3. Februar 1848 singend den Meereskahn betraten, um drüben in Amerika, auf einem riesigen Grundstück am Red River in Texas, die ikarische Neuzeit einzuläuten. Cabet hatte sie unter den Tüchtigsten seiner Gefolgschaft ausgesucht, als Vorhut einer befreiten Menschheit, hatte für den grossen Moment eigenhändig die ikarische Uniform entworfen, die ikarische Landeshymne gedichtet, und er hatte festgelegt, dass der 3. Februar fortan ikarischer Nationalfeiertag sein sollte.

Das Buch des 1788 in der französischen Senfhauptstadt Dijon geborenen Cabet hatte eine bis dahin einzigartige Wirkungsgeschichte entfaltet. Der Advokat, Ex-Deputierter der Nationalversammlung, Ex-Kodirektor des republikanischen Carbonaro-Geheimbundes, Zeitungsverleger, rastloser Projektemacher, kränkbarer Polemiker, manischer Vielschreiber und (in seinen Kreisen) anerkannter Wohltäter der Menschheit, erzählte darin von einer fiktiven Reise in das Zukunftsland Ikarien – ein weltliches Paradies, arbeitsfromm, ohne Not und Verbrechen, streng gegliedert wie eine geometrische Figur, ein perfektioniertes Frankreich ohne Mein und Dein. Der etwas geschwätzige Longseller wurde zwischen 1839 und 1848 fünfmal aufgelegt, wurde ins Englische, Spanische, Deutsche übersetzt, verkaufte sich Tausende Male und wurde vor allem von städtischen Unterschichtlern gelesen.

Hutmacher, Bötticher, Stiefelmacher, Handelskommis, Werkzeugschmiede bildeten überall in Frankreich Bildungszirkel und «Bibliotheken», wo sie das Werklein studierten, und aus den plebejischen Feierabendsalons ging eine eigentliche Bewegung des ikarischen Kommunismus hervor. Beflügelt vom Erfolg, gab Cabet 1841 seine Wochenzeitung Populaire neu heraus, ab 1843 den jährlichen Ikarischen Almanach. Er legte zwei polithistorische Untersuchungen vor und verfasste eine Unmenge Broschüren und Aufrufe. «Und wer kauft diese Bücher?», fragte der zeitgenössische Publizist Karl Grün. «Kein Mensch ausser die Arbeiter! Und jedes Exemplar befriedigt zwanzig bis dreissig Leser!» Papa Cabet war ein routinierter Journalist und ein ausgefuchster Anwalt, der auf der Klaviatur der Emotionen zu spielen verstand. In den vierziger Jahren wuchsen seine Ikarier vorübergehend zur stärksten der um Einfluss auf die französische Arbeiterschaft ringenden sozialistischen Schulen und Sekten heran.

Im 16. Jahrhundert hatte der englische Humanist Thomas Morus mit seinem Buch «Utopia» die Vorlage für das Genre des utopischen Romans geliefert. In den folgenden Jahrhunderten erschien eine lange Reihe Texte über die ideale Staatsverfassung. Bei Cabet schlug die literarische Utopie unversehens und zum ersten Mal in Praxis um. Seine Leser in den Handwerkerbuden von Paris, Lyon, Marseille nahmen ihn beim Wort, das märchenhafte Land aus dem Buch wurde als Programm für eine sozialpolitische Läuterung verstanden. Sie glaubten nicht nur an die Wünschbarkeit, sondern auch an die Machbarkeit Ikariens. Und beides war – zumindest aus heutiger Sicht – erstaunlich.

Père Cabets Utopie ist die Fantasie eines Kontrollfreaks, die Ausgeburt eines Ordnungsmanikers, die Vision eines westlichen Talibs des reinen Nutzens. In seinem ikarisch optimierten Frankreich ist der Zufall abgeschafft. Es ist ein fugenlos durchstrukturiertes Kunstprodukt, präzis wie eine Maschine, streng wie ein Kristall, unerbittlich wie eine mathematische Operation, detailversessen wie die Zeichnung eines begabten Irren.

Politische Masseinheit ist das Dezimalsystem. Hundert gleich grosse Provinzen bestehen aus je zehn gleich grossen Gemeinden, in der geometrischen Mitte die Hauptorte, alle mit gleich vielen Einwohnern. Landesmetropole ist Ikara, das Zentralhirn, ein kreisrundes architektonisches Renommierstück, ein gigantisches Versailles fürs Volk. Letzteres versammelt sich alle zehn Tage, um über Gesetzesvorlagen und Projekte abzustimmen. Die Sitzungen verlaufen immer ruhig, es gibt keine Parteien, keine gegensätzlichen Interessen, im Lande herrscht Einigkeit. Denn alles gehört der Gemeinschaft, das heisst dem Staat, welcher an alle verteilt, was diese brauchen. Exakt berechnet, gleichmässig, gerecht.

An die Stelle der Politik ist die Wissenschaft getreten, an die Stelle der Politiker die Buchhalter, Statistiker und Experten. Die Niederungen der Meinungskultur sind überwunden, Ikarien lebt im Stande der Wahrheit. Die optimale Bekleidung beispielsweise wird von einem «Rat von Gelehrten und Sachkundigen» ermittelt und in einem Kleidergesetz festgeschrieben, welches von den Volksversammlungen gutgeheissen wird (meistens einstimmig). Der Souplesse ikarischer Wissenschaftler ist es zu verdanken, dass ein elastisches Gewebe entwickelt worden ist – eine segensreiche und praktische Erfindung. Drei verschiedene Grössen der Einheitsmützen reichen aus, um auf alle Kopfformen der fünfzig Millionen Einwohner zu passen (dasselbe gilt für die Einheitskleider und -schuhe) – die Arbeit der Entwerfer und Fabriken wird enorm vereinfacht.

Die neue Republik kennt keine Hirtenlebenromantik wie die älteren Utopien, keine Naturidylle, keine Tischlerbuden-Gemütlichkeit im Geiste Rousseaus. Ikariens Goldenes Zeitalter ist unsentimental, leistungsorientiert und gehorcht dem Gleichtakt der Maschine. Die Industrie setzt ganz auf hoch technisierte und arbeitsteilige Massenfertigung. Diszipliniert wie eine Paradearmee, rücken im ganzen Land die Arbeiterkolonnen frühmorgens in die Agrarbetriebe und Grossfabriken ein. Auf einen Glockenschlag setzen sich Punkt sechs die Getriebe in Bewegung. Die standardisierten Handgriffe werden mit der Feierlichkeit eines Gottesdienstes vollzogen, ab 14 Uhr ist Freizeit, das heisst Weiterbildung und normierte Geselligkeit, und exakt um 22 Uhr geht die ganze Nation schlafen.

Ein dichtes Verkehrsnetz spannt sich übers Land. Um möglichst wenig Zeit zu verlieren, wurden alle Strassen, Wege und Pfade geradlinig gebaut und sämtliche Äcker in saubere rechteckige Form gebracht. Zwecks besserer Schiffbarkeit wurden auch die Flüsse begradigt. Die ikarische Abneigung gegen alles Naturwüchsige und Eigensinnige vollbrachte zudem die bemerkenswerte Leistung, dass die gesamte Nationalvegetation gleichsam in Reih und Glied gebracht wurde. Die einst riesigen und wild wuchernden Wälder hatte man alle «ausrotten lassen» und nur «kleine Gehölze geduldet», die, beschnitten und diszipliniert als «Baumschulen», als Brennholzdepot dienen. Überhaupt gibt es keinen Zoll ungenutzten Boden mehr, «nirgends eine Dornhecke, eine Distelstaude, selbst kein Gehänge, keine Mauer». Und die Ikarier erzählen mit Stolz, wie sie die Tierwelt von den schädlichen Arten (Wölfe, Wildschweine, viele Vogelspezies, Insekten etc.) fast vollständig «gesäubert» haben, während die nützlichen jedoch sich grosser Beliebtheit als «lebendige Werkzeuge» erfreuen.

Was nicht auf einer Liste verzeichnet, von Experten klassifiziert und per Gesetz legitimiert ist, hat einen ähnlichen Status wie der nackte Wilde vor dem Missionar. Es ist unerlöst, vegetiert in einer Art Vorexistenz und darf eliminiert werden, wenn es sich der Gnade des ordnenden Heils widersetzt. Egal, ob nebensächlich oder zentral, kein Bereich des Lebens entgeht dem Ingrimm der reglementierenden Vernunft: Religion (ein unverbindlicher Deismus); Ausflugsverpflegung (wird von staatlichen Köchen zubereitet); Nationalfeiertag (gigantomanisches Massenspektakel nordkoreanischen Zuschnitts); Haartracht («geschmackvoll»); Sprache (stark vereinfacht und reduziert, so dass gesamtes Vokabular und Grammatik in «einem Bande Platz» finden); Elternliebe (ausgezeichnet durch «regelrechte Taktmässigkeit, unverbrüchliche Gleichmässigkeit, ohne Affenliebe oder Zärteln»); Musik (keine Orchester, sondern Musikmaschinen) usw.

Zwischen Staat und Bürger herrscht fast vollkommene Harmonie. Analog der äusseren Natur wurde die innere begradigt. Man sieht in Ikarien «keine sauren Mienen», man hört «nie ein Murren», Kriminalität ist «schlicht nicht mehr möglich». Lediglich das «Verbrechen des Sich-Verspätens, die Ungenauigkeit im Austeilen, im Verlangen» kommen noch ab und zu vor, als Überbleibsel einer verschwundenen, chaotischen Zeit. Ansonsten aber sind Bummelanten oder sonstige bedrohliche Subjekte gleich den unnützen Tierarten verschwunden. Der Bürger will das, was er ohnehin muss, und seine Träume entsprechen dem Verteilungsschlüssel der amtlichen Logistiker. Zukunft ist zusammengeschnurrt auf einen materiellen Wachstumskoeffizienten, auf eine Zahl und eine ansteigende Gerade. Es gibt in Ikarien kein Ausserhalb, es existiert kein Anderes.

Von Marx und Engels belächelt

In Cabets Projektland sind Aufklärung und ihr aufdringlicher Bruder Kommunismus eine eigentümliche und innige Liaison eingegangen. Glück ist konstruierbar wie eine Dampfturbine, das Leiden eine Frage der Organisation. Richtige Beeinflussung macht vernünftige Menschen, das Böse ist nur das so genannt Böse, es ist die Grimasse des Vorurteils, der falschen Erziehung und der falschen Umstände. Auf jedes Problem weiss die Wissenschaft eine Antwort, das Irrationale ist ein Wissensdefizit, ausmerzbar, ein Irrtum, die Welt ist beherrschbar. Wie ein Zerrspiegel wirft Ikarien die geheimen Verheissungen der Moderne zurück, grotesk aufgebläht, als Alptraum kenntlich gemacht, lange bevor dieser in den rationalisierten Todesfabriken des kommunistischen Gulag und des nazistischen Auschwitz Wirklichkeit wurde.

Der massenhafte Zulauf, den Cabets Ideen fanden, war erstaunlich. Noch verblüffender aber war, dass auch unter seinen politischen Konkurrenten niemand Anstoss an seinen rechtwinklig-phobischen Beglückungsfantasien nahm. Marx und Engels kannten den Franzosen persönlich. Sie belächelten die theoretische Unreife der utopischen Systeme á la Cabet, welche mit der Entwicklung des Klassenkampfes und der kommunistischen Parteien verschwinden würden, aber sie würdigten durchaus die historische Funktion, die sie als Propagandainstrumente für die Politisierung des Proletariats gehabt hatten. («Bei Cabet war ich. Der alte Knabe war recht kordial, ich ging auf all seinen Kram ein, erzählte ihm von Gott und dem Teufel pp. Ich werde öfters hingehen.» Engels an Marx, 19. August 1846).

Andere, so der erwähnte Karl Grün, spotteten über das rechthaberische Gebaren des obersten Ikarier. «Sein Äusseres hat wirklich etwas vom Diktator, aber von jenen gerührten, menschenfreundlichen, weichbuttrigen Diktatoren. Nur um seinen Mund spielt der Souverän, der Kommunistensouverän.» Aber auch er störte sich nicht an dessen Vision. Und als der grosse Ikar seine Auswanderungspläne bekannt gab, wurde dies in Paris, London, Zürich, Leipzig von vielen Zeitgenossen kritisiert. Weil, wie die Kommunistische Zeitschrift (London, September 1847) bedauerte, damit «rechtschaffene Männer und Kämpfer für die bessere Zukunft» das Feld räumen und Europa den «Spitzbuben» überlassen würde. Der eigentümlichen, offensichtlich zeitbedingten Blindheit für den komischen Totalitarismus entging noch etwas anderes. Niemand stellte sich die Frage, warum Cabet eigentlich plötzlich auswandern wollte. Ikarien war immer für Frankreich gedacht gewesen. Der im Mai 1847 mit Pathos vorgetragene Aufruf «Allons en Icarie!» kam unvermutet, ohne Vorankündigung. Cabet malte das Neuland in den schönsten Farben aus, redete von 10 000 bis 20 000 reisefertigen Pionieren, die bald Hunderttausende, wenn nicht Millionen zählen würden. In Wirklichkeit gab es nicht die Spur eines Planes, kein Grundstück, kein Geld.

Papa Cabet selber begründete den Siedlungsentscheid mit der «Verfolgung durch die Regierung, welche den Kommunismus in Frankreich zu vernichten droht». Eine unglaubwürdige Erklärung. Cabet liebte hitzige Debatten, Verschwörungen, juristischen Streit. Jeder Prozess gegen ihn hatte seine Popularität erhöht und ihm neue Anhänger zugeführt. Wahrscheinlicher ist, dass er spürte, wie sein Einfluss schwand. In Frankreich rumorte es, die Arbeiter drängten auf politische Aktion, militantere Gruppen setzten sich durch, andere Führer fanden Gehör. Cabet, der beharrlich darauf setzte, die Reichen mittels Vernunftzuspruch dazu zu bringen, auf ihren Reichtum zu verzichten und in die Uniform der Ikarier zu steigen, sah seine Stellung als Bonhomme, als Menschenfreund, gefährdet.

Die Ankündigung hatte die Ungeduld seiner Gefolgschaft geweckt. Nach einem Spendenaufruf in seinem Populaire reagierten die Leser mit überwältigenden Liebesbeweisen. Hüte wurden auf die Redaktion an der Rue Jean-Jacques-Rousseau gebracht, Fischereigeräte, eine Wanduhr, eine Pauke, Servietten, einer brachte hundert Paar Schuhe, ein anderer zweitausend Tintenfässer. Cabet kam unter Zugzwang. Am 3. Januar 1848 schloss er in London in aller Eile einen Vertrag mit einem texanischen Landverkäufer. Eine Million Acres in ikarischem Besitz, jubelte Cabet zwei Wochen später im Populaire, die Menschheit ist gerettet, die Zukunft kann beginnen, Abfahrt der «Avantgarde» in Le Havre am 3. Februar. Drei Wochen darauf brach in Frankreich die Revolution aus und verwirklichte (zumindest vorübergehend) eine ganze Anzahl der politischen Forderungen Cabets.

Die 69 Filzhutpioniere schaukelten zu diesem Zeitpunkt noch immer auf dem Meer. Dann, angekommen in New Orleans, dem Mississippi entlang in den Norden und bei St. Louis westwärts, wurden sie zusehends von schlimmen Ahnungen befallen. Der Trip war unendlich beschwerlich, ein paar starben, und als sie das ersehnte Ziel erreichten, brachen etliche in Tränen aus. Nicht aus Freude. Sie waren in einer Wildnis gelandet. Der nächste schiffbare Fluss lag 250 Meilen entfernt, anstelle saftiger Weiden nur Steine, Dornengestrüpp, Klapperschlangen. Und Cabet hatte das Kleingedruckte im Vertrag unterschlagen. Dort stand, dass die Million Acres (eine Fläche in der Grösse des Kantons Wallis) nur in ikarisches Eigentum übergehen würde, wenn bis zum 1. Juli des laufenden Jahres 10 000 Siedler sich niedergelassen hätten. Und wenn auf jeder der hundert schachbrettförmigen Parzellen ein bewohnbares Gebäude errichtet worden sei. Es darf als ein Akt äusserster Verzweiflung interpretiert werden, dass die Pioniere trotzdem mit dem Bau von Hütten begannen.

Drei Monate später waren sie wieder in New Orleans, geschunden, ratlos, zwei weitere Genossen waren verschieden. Papa Cabet, der gewusst haben musste, dass das Unternehmen in einer Katastrophe enden würde, reiste persönlich an, um zu erklären, aufzumuntern, ein neues Projekt anzureissen. Er fand eine vor kurzem verlassene Mormonensiedlung in Nauvoo, Illinois, einfach, aber gut erhalten mit Stallungen, Gemeinschaftsräumen und fruchtbaren Böden. Hier konnte es endlich losgehen, hier konnte der praktische Beweis erbracht, die Welt von der Überlegenheit der eigenen Doktrin überzeugt werden. Die nächsten Jahre waren ein einziger heroischer Kampf. Nicht um die Ausbreitung des ikarischen Modells, sondern um das nackte Überleben. Die tüchtigen Handwerker schufteten wie Feldsklaven und lebten karg wie Strafgefangene. Axt und Säge statt industrieller Grossproduktion, Ochsenkarren statt Agrarmaschine, Holzhütte statt Volkspalast, kein Schnaps – dafür hochgradiger Frauenmangel. «Mich würden Sie dort nie hinkriegen», erzählte eine amerikanische Nachbarin einem Reporter, «alle auf einem Haufen und zu essen nichts als Brotsuppe.»

27 Paragrafen gegen Tabak

Cabet war fürs Erste nach Frankreich zurückgereist, um Gönner zu mobilisieren, neue Zeitungsprojekte zu lancieren und um einen Prozess zu führen. Die Mitglieder der ersten Kolonistenstaffel hatten ihn wegen Betrugs angeklagt: Ikarien sei ein falsches Versprechen gewesen. Er wurde freigesprochen und lebte ab 1852 fest in Nauvoo. Er schrieb ausgeklügelte Verfassungen mit Dutzenden von Unterartikeln und Paragrafen für seine nie mehr als 400 Leute umfassende Musterkolonie. Er plante Aussaat, Ernte, Produktion, Freizeit, Ernährung, alles, wobei er von nichts eine Ahnung hatte, noch weniger als die Handwerker, die immerhin eine Feile von einem Stechbeutel unterscheiden konnten. Trotz der glänzenden Erfolgsmeldungen, die er regelmässig nach Europa übermittelte, war sein Kollektiv keinen einzigen Tag von den Zuwendungen aus Frankreich unabhängig.

Am leidenschaftlichsten aber kämpfte er für die Aufrechterhaltung der ikarischen Moralordnung. Er war längst schwerhörig und halb blind, aber keine noch so geringe Verfehlung seiner eigenen Leute entging ihm. Den wenigen Frauen verbot er Schmuck, Schminke und sonstige Koketterie, er ging hart gegen geheimen Alkoholgenuss und noch härter gegen den Tabakkonsum vor, dem er einen eigenen Verfassungsartikel mit 27 Paragrafen widmete. Kolonieflüchtlinge warfen ihm ein ausgeklügeltes Bespitzelungs- und Unterdrückungssystem vor. Für Cabet hingegen waren Kritiker vom «Feind gekauft» und Abtrünnige prinzipiell «jesuitische Verräter». Nach zermürbenden und absurden Richtungsstreitigkeiten fand sich 1856 eine Abstimmungsmehrheit, die Cabet wegen «diktatorischen Verhaltens» aus der Gemeinschaft ausschloss. Der mittlerweile 68-Jährige zog ab, begleitet von einigen Unerschütterlichen, zutiefst gedemütigt, verjagt aus seinem eigenen Lebenswerk. Drei Tage später starb er in St. Louis an Verbitterung, an Unbelehrbarkeit, am Alter. Ein total und grotesk und nutzlos Gescheiterter. Ein moderner Ikarus.

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