Die Weltwoche / Eugen Sorg

01.12.2005

Die Mutter aller Wasser

Auf seinem Weg von Osttibet ins Südchinesische Meer schenkt der Mekong sechzig Millionen Menschen sowie Tausenden Tier- und Pflanzenarten Leben ­ und dem Reisenden Tage voller Momente. Eine Fahrt auf dem Fluss der Flüsse. Teil eins: durch Laos.

Es ist früher Morgen, als das Boot vom Ufer ablegt und sich stromabwärts wendet. Hier, bei Luang Prabang, der alten Königsstadt im Norden von Laos, fliesst das Wasser ruhig und schwer, eine rötlich-braune Masse. Das zierliche Langboot mit dem Aussenbordmotor gerät nur ins Schaukeln, wenn sich einer der Insassen ungeschickt bewegt. So wie ich. Die anderen ­ der schweigsame Kapitän, seine blutjunge Frau, ihr 3-jähriges Kind und Lun, mein Übersetzer ­ balancieren scheinbar schwerelos und sicher wie Seiltänzer über das schmale Deck, ohne den fragilen Kahn in Schieflage zu bringen. Wir sind unterwegs nach dem Städtchen Paklai, eine Tagesfahrt südlich, meine erste Etappe auf der langen Wasserreise zur Mündung des Stromes.

Der Mekong entspringt auf der Höhe von 5200 Metern im osttibetischen Hochland, stürzt über Hunderte von Kilometern durch unzugängliche Schluchten (sie wurden letztes Jahr zum ersten Mal von einem Menschen durchquert: einem wahnsinnigen australischen Kajakpiloten namens Mick O’Shea), verlässt China in der südlichen Provinz Yunnan, bildet die gemeinsame Grenze von Burma und Laos, strömt durch das Opiumgebiet des Goldenen Dreiecks, erreicht Luang Prabang, bildet die Grenze von Thailand und Laos, durchschneidet Kambodscha, erreicht Vietnam und flutet nach insgesamt 4500 Kilometern ins Südchinesische Meer.

«Leicht sexualisiert»

In China wird der Mekong (aus dem Thailändischen: Mae Nam Khong, «Mutter der Wasser») auch «Fluss der Felsen» oder «Wilder Fluss» genannt, in Kambodscha «Grosser Fluss» und in Vietnam «Neun-Drachen-Fluss». In seinen Wassern schwimmen 1300 verschiedene Spezies Fische, und mehr als die Hälfte der weltweit vorkommenden Pflanzenarten sind im Mekongbecken beheimatet. Für 60 Millionen Menschen aus hundert verschiedenen ethnischen Gruppen ist das Flusssystem Lebensgrundlage, gewaltige Königreiche sind hier errichtet worden und wieder untergegangen. Wahrscheinlich sind nur wenige Gegenden dieser Welt so reich an kultureller und natürlicher Vielfalt, an Pracht und an Tragödien wie das untere Einzugsgebiet der «Mutter der Wasser».

Langsam gleiten wir an Luang Prabang vorbei. Das an einen Hang geschmiegte Städtchen erscheint im weichen Morgenlicht wie ein Traum, wie eine lange vergessene Erinnerung. Frauen steigen aus winzigen Booten und tragen Körbe hinauf zum Markt, anmutig, ohne Hast, Tempeltänzerinnen des Alltags. Zwischen dem Grün der Palmen, Tamarinden, Büsche leuchten Pagoden auf, Giebel und Türmchen, rot, golden, weiss, wie Schatztruhen aus märchenhaften Epochen. Und auf der anderen Seite des Flusses wölbt sich die Silhouette einer Hügelkette. Die Legende erzählt, es handle sich um ein jugendliches Liebespaar , gestorben an gebrochenen Herzen und wieder vereint im Tod.

Vor rund 140 Jahren gelangten die ersten westlichen Forschungsreisenden auf der Suche nach dem Lauf und dem Ursprung des Mekong nach Luang Prabang. Die Männer, alles Franzosen, waren nach den Dschungelstrapazen, Blutegelattacken, auszehrenden Fieberschüben überwältigt von der Lieblichkeit des Ortes und seiner Menschen. Auf die Entdecker folgten bald die Militärs und die Beamten, welche das «Juwel Asiens» und mit ihm ganz Laos dem französischen Kolonialreich einverleibten. Doch statt den Reichtum des Mutterlands zu mehren und ihre zivilisatorische Überlegenheit zu demonstrieren ­ die Gattinnen der Beamten setzten durch, dass die laotischen Frauen nicht mehr barbusig in der Öffentlichkeit spazieren durften ­, erlagen viele Vertreter der Grande Nation dem Zauber der Tropen. Junge einheimische Mätressen, Opium und heitere Toleranz versenkten sie in einen Zustand süssen Dauerdämmerns. «Laosisierte Franzosen», diagnostizierte der englische Schriftsteller Norman Lewis nach einem Besuch Luang Prabangs im Jahr 1950, kurze Zeit bevor Frankreich seine Kolonien in Indochina endgültig verlor, «sind wie die Resultate erfolgreicher Lobotomie ­ unbeschwert und leicht sexualisiert.»

Nach einiger Zeit ruhigen Dahinströmens bricht plötzlich die spiegelglatte Oberfläche des Mekongs auf, beginnt zu brodeln, und der Fluss scheint schneller zu werden. Vor uns tun sich Stromschnellen auf. Das Boot fängt an zu tanzen, Wasser spritzt über das Deck. Die Frau des Kapitäns richtet sich auf, wirft eine Handvoll Reis über Bord, um die Wassergeister zu besänftigen, murmelt beschwörende Formeln, und ihr Mann setzt zu einer Slalomfahrt an. Er umschifft Felsen, die aus den Fluten ragen und an denen sich das aufgewühlte Wasser bricht, er weicht den grossen Wirbeln aus, saugenden Trichtern von bis zu zehn Metern Durchmesser, die schwimmende Baumstämme in ihren Schlund herunterziehen, wie Korken kreisen lassen und nicht mehr loslassen, zieht Kurven um harmlos aussehende Flusspartien. Es ist Ende der Regensaison, der Wasserstand ist zehn, fünfzehn Meter höher als in der Trockenzeit, unter der Oberfläche lauern Klippen. Der Kapitän hat die richtige Fahrrinne im Kopf gespeichert. Trotzdem schrammt das Boot zwei, drei Mal mit einem hässlichen Knirschen einen der unsichtbaren Felsen. Jedes Mal greift die Frau nach dem Kind und gibt einen Wehlaut von sich, als ob sie selbst getroffen worden wäre.

Zehn Minuten vielleicht dauert die turbulente Passage, dann wird die Fahrt wieder ruhiger. Vereinzelte Strudel sind noch zu sehen, kleine Wirbel, ganze Wirbelkolonnen, die durchs Wasser spazieren, sich auf das Boot zubewegen, im letzten Moment die Richtung ändern, kapriziös, übermütig. Als ob da unten wirklich irgendwelche Wasserkobolde lebten, die gerne Unfug trieben und uns verspotteten wegen der Angst, die sie uns eingejagt hatten.

Von Wolkenwesen

Übersetzer Lun hat vom Ausflug über die Katarakte nichts mitbekommen. Der kleine, zäh wirkende 20-Jährige mit dem Bauerngesicht ist gleich nach der Abfahrt in einen Schlummer gefallen, aus dem er während der ganzen Reise nur noch selten aufwacht. Wenn ich seine Übersetzungskünste benötige, tippe ich ihm auf die Schulter und rufe seinen Namen, worauf er die Augen öffnet, einen Moment verständnislos schaut, dann grinst und meint, er habe soeben einen power nap gemacht, ein Kraftnickerchen, um kurz darauf wieder einzuschlafen.

Währenddessen tuckern wir durch eine berückend schöne Szenerie. Auf beiden Seiten des Mekong erheben sich grüne kegelförmige Hügel und violette runde Bergformationen, von grafischer Klarheit wie japanische Landschaftsminiaturen. Die Ufer sind gesäumt mit Urwald, mit verwucherter, verfilzter, masslos explodierender Vegetation. Einzelne Bäume ragen heraus, gewaltige Exemplare, vollständig überwachsen mit Schlingpflanzen, wie Fabelgestal- ten, Riesen, archaische Wächter. Bambuswälder, hoch wie Tempeltürme, neigen sich dem Fluss entgegen, feuerrote Blumengirlanden leuchten aus dem dunkelgrünen Dickicht. Und eine Weile begleitet uns ein Schwarm weisser Vögel. Es sind Hunderte, sie fliegen parallel zu unserem Boot, knapp über dem Wasser, ein einziger Körper, ein Wolkenwesen, ein Drache. Plötzlich biegen sie wie auf Kommando ab und verschwinden hinter den Hügeln.

Gelegentlich taucht eine Hütte auf oder eine kleine Siedlung. Männer flicken Reusen, Kinder tollen mit Hunden herum, Frauen waschen sich im Fluss. Bei irgendeinem der Dörfer bitte ich den Kapitän, anzulegen, und wecke Lun. Auf der Uferböschung empfangen uns einige Bewohner, zurückhaltende, aber höfliche Menschen. Man lädt uns zum Sitzen ein und offeriert uns ein Gläschen Reisschnaps.

Laut Statistiken gehört Laos zu den ärmsten und unterentwickeltsten Ländern der Welt. Rückgrat der Wirtschaft ist der Agrarsektor. Über 80 Prozent der Bevölkerung sind Bauern oder Fischer. Aber deren volkswirtschaftliche Leistung ist minimal, sie produzieren weitgehend für den Eigenbedarf. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen wird auf 300 Dollar geschätzt. Es könnte gut sein, dass die Leute dieses Dorfes, das weder Elektrizität noch Strasse hat, noch weniger verdienen. Doch auch wenn sie kein Geld haben ­ arm sind sie nicht. Ein alter Mann begleitet uns auf einen Rundgang. Es ist wie ein Besuch im Garten Eden.

Bananen, Erdnüsse, Sesam, Mais, Pflaumen, Reis, Chili, was immer gepflanzt wird, gedeiht. Entenfamilien watscheln frei herum, Gänse schnattern, pralle Ferkel liegen im Schatten. Der Fluss liefert Fische, der fruchtbare Uferschlamm saftiges Gemüse, der Wald das Holz für Hütten und Kanus. Alles, was es zum Leben braucht, ist da und ohne Mühsal zu beschaffen. Es gibt keinen wirtschaftlichen Existenzkampf, keine Notwendigkeit, die Zukunft zu planen, keinen Zwang, sich für Einkommen und Obdach zu verbiegen. Die Natur ist immer noch grosszügig mit den Leuten hier. Der einzige Feind ist der Mensch selbst. Banditen, Invasoren, Volksbeglücker, Nachbarn. Die Dämonen im eigenen Kopf.

Vertrauen ist schlecht

«Ja», meint der Alte, «wir haben ein gutes Leben.» ­ «Wie war es früher?», frage ich und denke dabei an Nahrung oder Gesundheit. Er denkt offensichtlich an etwas anderes. «Unter den Franzosen war es unsicher», sagt er nach kurzem Zögern. «Es gab keine Polizei. Räuber haben Dörfer überfallen, laotische Räuber.» ­ «Und heute?» ­ «Heute ist Friede. Es gibt eine Polizei. Wenn etwas passiert, geht man zu ihr.» ­ «Wann ist das letzte Mal etwas passiert?» Er lächelt mich an und tut so, als habe er diese Frage nicht mehr gehört. Anscheinend möchte er das Gespräch beenden.

Ich wende mich an Lun. «Habe ich etwas Falsches gesagt?» ­ «Nein. Diese Leute sind einfach so.» Lun ist ebenfalls in einem Dorf aufgewachsen. Er müsste genauer wissen, was in dem Alten vorgegangen ist. «Warum hat er nicht mehr weitergeredet?» Er druckst ein wenig herum. Dann erzählt er mir eine Geschichte, die ihm seine Grossmutter oft erzählt habe. «Ein Bauer ging jeden Tag frühmorgens auf sein Reisfeld. Einmal, es war besonders kühl, lag auf dem Weg eine grosse Kobra. Sie war steif vor Kälte und konnte sich nicht mehr bewegen. ‹Wo ist deine Familie?›, fragte der Bauer, wickelte die Schlange in ein Tuch, machte ein Feuer und legte sie daneben. Sie wärmte sich auf, begann sich zu regen und glitt davon. ‹Bleib hier›, rief der Bauer und versuchte sie zu fassen. Die Kobra drehte sich um und biss ihm in die Hand. Das Gift tötete ihn bald danach.»

«Was wollte die Grossmutter damit sagen?» ­ «Vertraue keinem. Du siehst von jemandem nur das Äussere, aber nie in ihn hinein.» ­ «Du glaubst, der Alte denkt auch so?» ­ «Alle denken so.» ­ «Warum redet er von den Franzosen, die seit 50 Jahren nicht mehr im Land sind? Warum nicht von den Amerikanern, die zwei Millionen Tonnen Bomben auf Laos abgeworfen haben?» ­ «Woher soll er wissen, dass du kein Amerikaner bist?» ­ «Und warum sagt er, die Polizei schütze vor Banditenüberfällen? Jedes Kind weiss, dass die Polizei korrupt ist.» Jetzt tut auch Lun so, als habe er die Frage nicht gehört. Trotzdem antwortet er nach einer Weile. «Woher soll er wissen, dass du nicht mit der Polizei zusammenarbeitest?»

Als wir wieder losfahren, nehmen wir zwei halbwüchsige Mädchen an Bord. Sie wollten, sagt Lun, eine Freundin besuchen, die auf einer Insel flussabwärts lebe. In der Tasche haben sie Biskuits und Nudelsuppe und Hautcreme für die Freundin dabei. Die etwa drei Kilometer lange Insel entpuppt sich als Freiluft-Erziehungsanstalt für Jugendliche beider Geschlechter aus der ganzen Provinz. Sie arbeiten dort während eines halben Jahres auf dem Feld, hacken Holz, bauen Hütten. Die meisten Burschen wurden wegen Diebstählen und Drogen eingeliefert. Von den Mädchen waren viele aus ihren idyllischen Dörfern davongelaufen, im nahen Thailand bei der Prostitution erwischt und über die Grenze zurückgeschoben worden. «Warum ist sie auf der Insel?», frage ich die beiden Mitfahrerinnen. Sie schauen sich an und kichern schüchtern. «Die Eltern haben sie dorthin geschickt, weil sie nicht mehr gehorcht hat und nur noch mit Freunden herumgezogen ist.»

Nach weiteren Stromschnellen, einem kurzen, aber immensen Regenguss und einem ausgedehnten power nap Luns erreichen wir am frühen Abend das Städtchen Paklai. Es ist ein halbmodernes Nest, schmucklos und deprimierend, dessen Seele eine steile Betonrampe am Hafen ist. Dort werden jeden Tag Tonnen schwerer Tropenhölzer auf die bauchigen Frachtkähne verladen. In Laos waren vor 35 Jahren noch 60 Prozent des Landes bewaldet. Seither wurde mehr als die Hälfte von den Kettensägenbataillons weggefräst. Auf der Strecke von Luang Prabang waren immer wieder breite, in den Urwald getriebene Schneisen zu sehen. Die Nachfrage nach dem kostbaren Rundholz ist gestiegen, seitdem Nachbarländer wie Kambodscha und vor allem Thailand ihre eigenen Waldbestände weitgehend vernichtet haben. Lizenzen zum Kahlschlag werden von der kommunistischen Machtclique vergeben, die Laos seit 30 Jahren wie eine kriminelle Konzernleitung regiert.

Whisky für die Mädchen

Am übernächsten Tag besteigen wir einen der Holzfällerkähne. Der Kapitän hat eingewilligt, uns mitzunehmen. Er fährt bis Savannakhet, zweitgrösste Stadt im Südosten des Landes, rund 700 Kilometer entfernt. Der mit 300 Tonnen Edelholz befrachtete Kahn liegt tief im Wasser und ist langsam und schwerfällig. Vier weitere starten am selben Morgen. Man reist meist im Konvoi, um sich gegebenenfalls auszuhelfen. Der Fluss hat viele tückische Untiefen.

Wir sind etwa 20 Leute an Bord, Crewmitglieder, Verwandte, Freunde. Der Kapitän und zwei seiner Männer sitzen im Steuerhaus, die anderen haben sich auf dem kleinen, offenen Oberdeck niedergelassen. Lun kennt zwei der Mitfahrer, man unterhält sich über gemeinsame Bekannte, vergleicht Bierpreise, trinkt etwas Reisschnaps, plaudert über dieses und jenes und landet unweigerlich beim Thema Frauen.

«Bilde ich mir das bloss ein», frage ich irgendwann die anderen, «oder gibt es in Laos tatsächlich mehr Frauen als Männer?» ­ «Das stimmt», lächeln alle drei. Lun fragt zurück: «Und weisst du warum?» ­ «Nein, keine Ahnung.» ­ «Wenn ein Mädchen geboren wird», klärt er mich auf, «dann war die Frau stärker. Wenn es ein Bub ist, war der Mann stärker.» ­ «Sexuell?» ­ «Ja, sexuell. Das Problem in Laos ist, dass die Männer zu viel Lau Lao trinken, zu viel Lao Whisky. Und wenn sie zu viel getrunken haben, sind sie hier unten schwach.» Er deutet auf seinen Schritt. Alle lachen. «Ist das deine private Theorie?» ­ «Jedermann weiss das. Der Doktor im Spital hat es auch gesagt.»

«Es stimmt», sagt einer der Bekannten, «ich selber habe eine 50-Prozent-These.» Solange er in der ersten Hälfte der Betrunkenheit sei, fährt er fort, sei es mit der Frau schön und es gebe einen Buben. Er grinst und macht mit den Händen eine Fickbewegung. Sobald er aber die Grenze zur zweiten Hälfte überschreite, funktioniere dies nicht mehr. «Und woher willst du wissen, wann du in der zweiten Hälfte bist?», fragt Lun. «Ich habe sechs Kinder», strahlt der andere zufrieden, «fünf davon sind Jungen.»

Am Abend ankert der Kahn ein paar Kilometer vor Vientiane, der gemächlichen, provinziellen und etwas langweiligen Hauptstadt des Landes. Einzige Attraktion sind die jungen Frauen, die sich mit aufgespannten Sonnenschirmen und unnachahmlich graziler Haltung auf ihren Motorrädern durch den Verkehr bewegen. Ich verabschiede mich von Lun, der nach Luang Prabang zurückmuss, und übernachte wie die anderen auf dem Deck. Der Boden ist hart, Moskitos schwirren und Mitpassagiere schnarchen. Bei Tagesanbruch fahren wir weiter.

Der Mekong fliesst seit einiger Zeit ostwärts. Berge und Hügel sind verschwunden, auf beiden Seiten des Kahns erstreckt sich eine monotone, ereignislose Ebene. Der Fluss wird bis zu drei, vier Kilometer breit; unaufhaltsam, einschläfernd kriecht er durch die flache Landschaft. Und es ist sehr heiss. Zu heiss zum Denken, zu heiss zum Lesen, zu heiss zum Träumen. Ich versinke in einen meditativen Zustand zwischen Idiotie, Hitzekoma und Resignation. Am zweiten Abend ist der Reisschnaps leer. Schon lange spricht niemand mehr. Am Mittag des vierten Tages kommen wir in Savannakhet an. Ich bin schmutzig, zerstochen, bedürfnislos. Eine Art Buddhist im Endstadium.

Captain Bronson

Die nächste Strecke reise ich mit dem Bus, air-conditioned, weiche, verstellbare Sitze, gekühltes Bier, und steige erst in Pakse wieder aus, einer geschäftigen Handelsstadt am Mekong 250 Kilometer weiter südlich. Von einer der winzigen Marktküchen aus schaue ich dem Treiben auf dem Platz zu. Die Vielfalt an Köpfen und Typen ist wie ein Lebendmuseum der Völkerwanderungen, eine Hymne an den wunderbaren Bastard Mensch. Man sieht kleine, drahtige Bergdschungelmenschen mit braunen Gesichtern, weisshäutige Chinesen mit Hasenzähnen, kühne Indianerphysiognomien, denen man auch in Peru begegnen könnte, flache Tibetergesichter, melancholische Inder, gelbgesichtige Opiumraucher, feingliedrige Balinesen.

Ein Mann fällt mir besonders auf. Er sitzt zwei Stühle neben mir und gleicht aufs Haar dem Schauspieler Charles Bronson. Als ich mich bei der Küchenbetreiberin nach einem Boot nach Champassak erkundige, zeigt sie auf Bronson. Er ist ein Mekongbauer, der auf dem Markt in Pakse war und nun in sein Dorf zurückfährt. Es liegt nicht weit vor meinem Ziel, und gegen Bezahlung der Benzinkosten will er mich in seinem Boot hinbringen. Zu uns gesellt sich noch ein ungewohnt akademisch wirkender Mann mit runder Brille und fein gestutztem Bärtchen. Er stellt sich vor als Mister Anouthai und erklärt in gutem Englisch, dass er ebenfalls nach Champassak fahren müsse. Es ist die letzte grössere Siedlung vor dem Gebiet der Viertausend Inseln bei den Khone-Fällen an der kambodschanischen Grenze.

Hinter Pakse ist der Mekong etwa so breit wie der Zürichsee, und er fliesst wieder durch hügelige, bewaldete Landschaften. Als wir nach ein paar Stunden Kapitän Bronsons Dorf erreichen, lädt er uns zu einem Besuch ein. Er wohnt wie die anderen in einem einfachen, geräumigen Pfahlhaus. Seine Frau serviert uns Klebreis, Gemüse, Papayasauce und irgendwelche rohen Blätter, Kräuter, Zweiglein, die sie soeben von Sträuchern gepflückt hat. Es schmeckt sehr gut.

Die älteste Tochter hält das Neugeborene im Arm, ihr Mann sitzt daneben. Sie war fünfzehn, er 18, als sie sich verliebten. Bald war das erste Kind unterwegs, er verliess sein Dorf auf der anderen Seite des Hügels und zog bei ihrer Familie ein. Nun haben sie drei Kinder, er ist 23, ein wortkarger, hagerer, aber entspannt wirkender Mann. Manchmal geht er im Wald Hartholz schlagen. Nicht um Geschäfte zu machen, sagt er, sondern um zu bezahlen, was anfällt. Medikamente, Opfergaben, Kleiderstoffe. »›

Mister Anouthai, der für mich übersetzt, missbilligt, was der junge Vater sagt. «Er ist faul», meint er, als wir durch das Dorf spazieren, «wie die anderen hier.» Es ist ein rustikaler Tropennachmittag, eintönig, friedlich, nicht anders als vor tausend Jahren. Einer schnitzt an einem Bambusstecken, ein anderer flicht Körbe, vier Kollegen schauen ihm zu, ein paar dösen auf der Veranda. Alle grüssen freundlich zurück. «Laoten», kommentiert Mister Anouthai hart, «lächeln immer und wissen nicht, warum. Sie denken nicht.» Er scheint nicht viel von seinen Landsleuten zu halten.

Ein Gollum

Am Ufer wird ein ernst dreinschauender, jüngerer Mann verabschiedet. Ein Schlangenbissheiler, wie man uns nachher erklärt. Selbst immun gegen Gift, könne er mit magischen Worten und Kräutern Kobrabisse kurieren. «Welche Gefahren ausser Giftschlangen», frage ich, «gibt es hier sonst noch?» ­ «Flussgeister», sagen alle, «hier leben viele Flussgeister.» ­ «Wo?» ­ «Im Wasser, unter Felsen, in Höhlen.» ­ «Zum Beispiel?» Einer deutet auf eine Insel stromabwärts. «Dort leben welche.» ­ «Habt ihr sie gesehen?» Sie zeigen auf einen alten Mann, der etwas abseits im Wasser steht. «Er hat vor fünfzehn Jahren dort gefischt. Sein Netz verhedderte sich in einem Felsen, und als er ins Wasser stieg, um es loszuzerren, wurde er von einer grossen Hand am Knöchel gepackt, von einer riesigen Hand mit Fingern so gross wie Bananen. Das war ein Zeichen. Niemand ging mehr hin.»

Der Alte ist gross und zahnlos und sieht aus wie ein asiatischer Gollum. «Wie hat der Geist ausgesehen?», frage ich ihn. «Geister sind unsichtbar.» ­ «Haben Sie Angst gekriegt, als er sich Ihren Fuss griff?» Er schaut mich freundlich an, als ob er ein Kind beruhigen müsste. «Der Geist wollte nur spielen.»

Er sei dieser Sache übrigens einmal nachgegangen, sagt Mister Anouthai, als wir nach kurzer Weiterfahrt in Champassak ankommen. Sie habe einen wahren Kern. Im trüben, warmen Wasser der Inselbuchten lebten Zitteraale, und einer davon müsse den alten Mann gestreift haben. «Aber diese Dörfler sind eben abergläubisch.» Ich bin mir ziemlich sicher, dass Zitteraale nur in Südamerika vorkommen. Doch vielleicht habe ich auch nur den Namen des Fisches falsch verstanden. Auf jeden Fall frage ich nicht nach. Mehr interessiert mich Mister Anouthai selbst. Er ist anders als alle Leute hier. Mit seiner Besserwisserei wirkt er deplatziert, komisch, irgendwie zerrissen. Wir verabreden uns für den folgenden Tag.

Mister Anouthai ist in Champassak aufgewachsen, 47 Jahre, Sohn eines Reisbauern. Als einziges der sieben Geschwister schliesst er das Gymnasium ab und besucht die Universität in Vientiane. Es ist eine politisch gnadenlose Zeit. Die 1975 an die Macht gekommenen Kommunisten verfrachten Tausende Laoten in Lager, wo sie umerzogen werden sollen. 300000 Menschen, ein Zehntel der Bevölkerung, flüchten ins Ausland, mit ihnen die meisten Intellektuellen. Für einen aufgeweckten, ehrgeizigen Bauernsohn wie Anouthai keine schlechte Situation. Wer loyal ist, kann die frei gewordenen Posten besetzen und sozial aufsteigen.

Nach dem Abschluss des Studiums unterrichtet er Mathematik, später Englisch. Er heiratet eine Lehrerin, Aufsteigerin wie er, eine aus dem Bergvolk der Hmong. Das Paar zieht in den Norden, bekommt fünf Kinder, lebt in einem hübschen Haus, bis er eines Tages sagt, er wolle nicht mehr für die Regierung arbeiten. Die Gründe für diesen Entscheid bleiben unklar, gewiss ist nur, dass ab jenem Zeitpunkt die Dinge gegen ihn zu laufen beginnen.

Mit gelegentlichen Privatstunden verdient er nur noch wenig, seine Frau macht ihm Vorwürfe, die Streitereien eskalieren, es kommt zur Scheidung, und er kehrt nach 25 Jahren zurück nach Champassak. Die Geschwister sind weg, alle ausgewandert in die USA, die Mutter wurde nachgeholt, das Haus der Familie verkauft. Er, der Einzige, der studiert hat, kann froh sein, bei einem jüngeren Verwandten unterzukommen, in einem stickigen Zimmerchen neben der Fähre.

Er rasiert den Kopf und versucht sich als Mönch. Ein respektables, einfaches Leben, denkt er. «Nur betteln und nichts tun, und die Reisschale ist gefüllt.» Nach einem Jahr zieht er die Safranrobe wieder aus. Er ist deprimiert und gelangweilt. «Das Studium der buddhistischen Schriften hat mir ein Gefühl für die Leere des Lebens gegeben», formuliert er zwei Jahre später etwas geschwollen. Die meiste Zeit sitzt er zu Hause herum und grübelt. «Ich finde keine Stelle mehr, ich bin zu alt», bemitleidet er sich, um sich gleich wieder aufzurichten. «Ich habe Mathematik, Englisch und Marxismus-Leninismus studiert, wieso sollte ich mit diesem reichen Wissen keine Arbeit finden?»

Seine Lage ist verzwickt und nicht ohne Tragik. Er ist wieder dort gelandet, wo er einst loszog, aber er kann nicht mehr dazugehören. Er hat seine soziale Unschuld verloren. Für einige Zeit hatte er es in die kleine staatliche Elite der Gebildeten geschafft, jetzt fühlt er sich gedemütigt und deklassiert. Durch Rechthaberei und Verachtung für seine früheren Leute versucht er die Illusion des gesellschaftlichen Unterschieds aufrechtzuerhalten. Aber diese Attitüden verstärken nur seine Isolation. Er sucht nicht wirklich eine Arbeit, er sucht die verloren gegangene Bedeutung. Mister Anouthai ist gestrandet, eine heimatlose Naipaulsche Figur.

Am südlichsten Zipfel von Laos weitet sich der Mekong zu einer grossen amphibischen Landschaft. Die Laoten nennen sie Si Phan Don, Viertausend Inseln. Wasser und Land bilden eine eigene Welt. Der Strom verzweigt sich in unzählige Nebenflüsse, Seitenarme und Kanäle und mäandert durch Hunderte von Inseln. Rund 70000 Menschen leben in diesem Binnenarchipel. An den Ufern der grösseren Inseln stehen Pfahlsiedlungen, tropische Baracken-Venedigs; auf den kleinen versammeln sich Vogelschwärme, flattern Schmetterlinge. In Booten schmal wie Pfeile werden Kinder zur Schule gefahren und Mönche zum Gebet in den Tempel. Es ist, als ob hier der Mekong noch mal den Atem anhielte, bevor er mit der Wucht eines einstürzenden Gebirges über die Khone-Fälle donnert.

Wie die meisten Einheimischen glaubt auch Monsieur Ké, dass Si Phan Don von einem Riesen geschaffen wurde, einem freundlichen Riesen, der den Leuten das Fischen erleichtern wollte. Das Gewässer ist hier besonders fischreich, 200 verschiedene Arten sollen vorkommen. Die sich über fünfzehn Kilometer hinziehenden Fälle wirken wie ein grosser Damm. Ich sitze mit Monsieur Ké auf der Terrasse einer Herberge über dem Fluss. Monsieur Ké ist vor 72 Jahren auf einer der Inseln zur Welt gekommen. Mit vierzehn tritt er in die französische Armee ein, dient ihr als Koch, bis die Franzosen das Land verlassen, kocht für die Amerikaner und kehrt erst nach Si Phan Don zurück, als auch die Amerikaner das Land wieder verlassen und die Kommunisten an die Macht kommen. In seinem Dorf hat sich seit seinem Weggang nichts verändert.

Er pflanzt Reis, fischt, heiratet, lässt sich nach einigen Jahren scheiden, zieht eine Insel weiter, dann noch eine und lässt sich nieder auf Don Khon, einer der südlichsten Inseln des Wasserlandes. Monsieur Ké hat weder Velo noch Boot, noch Kuh. Er lebt allein mit einem Hund in einer selbstgebauten Hütte. Diese, ein strohbedeckter, von Pflanzen überwucherter Raum, wächst mitten aus einem Reisfeld hervor, eine vegetabile Skulptur, ein Floss im Getreidemeer. In der Nähe mampft ein Wasserbüffel, Palmen neigen sich zur Sonne, und der Reis ist von einem leuchtenden Grün, einem intensiven, goldenen Grün, das unwillkürlich froh macht.

Die Bermudafälle

«Monsieur Ké, was ist wichtig im Leben?» ­ «Ich bin glücklich, wie es ist. Ausser, dass ich gerne etwas mehr Geld hätte.» Er lacht. «Warum haben Sie nicht nochmals geheiratet?» ­ «Ich habe die Freiheit gerne.» Er lacht. «Fühlen Sie sich nie einsam?» ­ «Am Morgen stehe ich auf, besuche Freunde, gehe in den Tempel, fische beim Wasserfall, gehe ins Reisfeld. Ich langweile mich nie. Jeder kennt hier jeden. Wenn man um die Mittagessenszeit spazieren geht, wird man eingeladen.» ­ «Was würde Sie glücklicher machen?» Er denkt nach, wird verlegen. «Ich bin mir nicht sicher, aber ein Gewinn in der Lotterie wäre gut.» ­ «Was würden Sie mit dem Geld tun?» Er denkt lange nach, lacht. «Ich weiss es nicht. Ich habe alles, was ich brauche.»

«Haben Sie Angst vor dem Tod?» Wieder schweigt er eine Weile. «Man wird geboren, man stirbt, das ist normal. Ich gebe den Mönchen Geld und hoffe, dass das nächste Leben etwas besser ist.» ­ «Was denken Sie über Ihr bisheriges Leben?» ­ «Mein Leben ist gerade, nicht abenteuerlich. Ich lebe von Tag zu Tag. Ich bin kein Goldsucher wie die Leute im Norden, ich dachte nie daran, reich sein zu wollen.» ­ «Haben Sie jemals böse Menschen getroffen?» ­ «Nie. Nur gehört davon.» ­ «Zum Beispiel?» ­ «In den alten Zeiten gab es Räuberbanden. Sie zogen von Dorf zu Dorf, stahlen, nahmen Frauen mit. Bis die Franzosen kamen. Mit ihnen kam die moderne Zeit.» ­ «Gibt es böse Geister?» ­ «Die meisten sind gut. Der Grossvater der Geister lebt unten bei den Fällen. Er schaut, dass wir genug Fische haben und dass keine Unfälle passieren.»

Der Besitzer des Restaurants mischt sich ein. Er ist in Savannakhet aufgewachsen und vor ein paar Jahren nach Si Phan Don gezogen. «Jedes Jahr werden vier bis fünf Menschen über die Fälle geschwemmt», sagt er, «Laoten und Touristen. Es gibt tückische Unterströmungen, Wirbel und versteckte Höhlen. Für die Leute hier sind es Opfergaben. Letztes Jahr kam einer aus dem Norden, um Freunde zu besuchen. Plötzlich stand er auf vom Tisch, ging zu den Fällen und sprang über die Klippen. Der Geist hatte nach einem Opfer gerufen, sagten alle.» ­ «Was glauben Sie?»

Er schaut einem Knäuel vorbeischwimmender Wasserhyazinthen nach. «Manchmal treiben Leichen den Fluss herunter. Sie bleiben in den Felsen der Fälle stecken. Man sagt, die Geister hielten sie fest. Tote Wesen essen tote Wesen.» ­ «Und was denken Sie?» ­ «Wer gescheit ist, bleibt den Fällen fern.» Er mustert kurz Monsieur Ké. «Ich war auf der Universität und bin nicht abergläubisch. Ich sehe es fifty-fifty, 50 Prozent Wissenschaft, 50 Prozent Geister. Wenn ich in der Nähe der Fälle bin, spüre ich, wie ich Kopfweh kriege und mir schwindlig wird.» ­ «Wie erklären Sie sich das?» ­ «Vielleicht sind es Magnetfelder. Vielleicht sind es Geister, die in den Gruften leben. Kein Pilot wagt es, über die Fälle zu fliegen. Er würde hinuntergesaugt wie über dem Bermudadreieck.»

Die Katarakte und Stürze der Khone-Fälle sind nicht speziell tief, zwischen zehn und zwanzig Meter. Aber die Wassermassen sind gewaltiger als die der Niagara-Fälle. Der Fluss tost über den Plattenbruch, prallt an Kliffe, wütet gegen Felsen, durchpflügt brüllend kleine Inseln, umschäumt Baumwipfel, rast durch steinerne Turbinen, donnert über Bänke und Klippen, entlädt sich in kochenden Kesseln. Erst nach einigen hundert Metern kommt er zur Ruhe, sammelt sich, fliesst einer Hügelflanke entlang kurz ostwärts, um wieder nach Süden zu drehen, hinein nach Kambodscha, in das Land, das die Schönheit und die Grausamkeit neu erfunden hatte.

Nächste Woche in Teil zwei: durch Kambodscha zum Mekong-Delta in Vietnam.

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