Die Weltwoche / Eugen Sorg

08.12.2005

Der Lauf des Lebens

Gier und Not gelingt es kaum, das Bild zu trüben: zweiter und letzter Teil der grossen Fahrt auf dem Mekong ­ durch Kambodscha zum Delta in Vietnam.

Der kambodschanische Grenzposten befindet sich auf einer kleinen Insel mitten im Mekong, wenig unterhalb der gewaltigen, fisch- und flussgeisterreichen Khone-Fälle am südlichsten Zipfel von Laos. Die Sonne ist erst vor kurzem aufgegangen, der verschlafene Beamte trägt noch seine Pyjamahosen, als er den Einreisestempel in den Pass drückt. Reguläre Reisende sind selten an diesem Grenzübergang. Seit die Strasse nach Laos, die legendäre Route Coloniale 13 von Saigon nach Luang Prabang, verbessert wurde, haben die täglichen Passagierkähne ihren Betrieb eingestellt. Auf dem Weg in den Süden musste ich ein Boot mieten, ein kleines, schnelles und teures Polyesterboot.

Im kaum bewohnten Nordosten Kambodschas stehen die letzten unversehrten Urwälder des Landes. Bei Hochwasser am Ende der Regenzeit ist der in verschiedenen Mäandern und Nebenarmen fliessende Mekong längst über seine Ufer getreten und überflutet Teile des Dschungels. Während Stunden brettern wir durch den halbversunkenen Tropenpark. Es ist wie fliegen. Baumkronen schweben auf Augenhöhe vorbei, lianenbekränzte Wipfel, nur einmal kreuzt uns in der Ferne ein anderes Boot.

Als erste grössere menschliche Siedlung am Fluss taucht Stung Treng auf. Das schmutzige Städtchen erinnert an einen aufgegebenen Aussenposten der zivilisierten Welt. Die wenigen alten, einstmals stolzen Gebäude verrotten, darunter eine Art-Déco-Villa. Modernere mehrstöckige Häuser im Zentrum sehen bereits heruntergekommen aus. Auf dem Platz vor der verwahrlosten Bootsanlegestelle lungern junge Männer herum. Sie haben sorgfältig gelierte Frisuren, einen lässigen Gang, stilsicher einstudierte Posen der Verwegenheit. Die vormoderne Naivität von Laos ist verschwunden, eine Kultur der Gesetzlosigkeit und der schnellen Reflexe liegt in der Luft. Sogar die Bäuerinnen und ihre schönen Töchter, die auf dem Markt Gemüse und Fisch verkaufen, wirken geistesgegenwärtig, als wären sie jederzeit bereit, einem Dieb das Handwerk zu legen. Stung Treng gilt als wichtiges Zwischendepot für Drogen, die aus Dschungelfabriken in Burma und Laos den Mekong herunter transportiert werden: Heroin, Amphetamine, Partypillen für die Hauptstadt und die grosse Welt.

Das Diensthaus der Wasserpolizei, eine kleine Holzstube mit der Anschrift «Police Water Warden Section», steht direkt neben der Anlegestelle. Der einzige anwesende Polizist ist ein angenehmer Mittdreissiger namens Cheas. Er erzählt meinem Übersetzer, dass er und seine Kollegen verantwortlich seien für die Aufrechterhaltung der Gesetze auf dem Mekong zwischen den Khone-Fällen und dem südlich gelegenen Flussstädtchen Kratie. Das sind zweihundert Kilometer Flusslandschaft mit unzähligen Inseln, Seitenkanälen, verdeckten Buchten. Zu ihren Pflichten, zählt der Polizist auf, gehöre die Verhinderung der illegalen, mit Gift, Dynamit, Elektroschlägen betriebenen Fischerei; sie sollten Schiffskollisionen beurteilen, Leute aus dem Wasser retten, Schwimmwesten kontrollieren; und sie müssten den von Profis abgewickelten Drogenschmuggel bekämpfen. Eine Aufgabe für eine moderne kleine Armee.

Ohne Waffen im Krieg

Wie viele Leute sie seien, frage ich. Zehn, antwortet er. Und wie viele Boote sie hätten? Eines, sagt er, und zeigt auf ein solides Motorboot unten am Dock. Das Geschenk einer europäischen NGO (Nichtregierungsorganisation), deren Namen er vergessen hat. Es würde ein Schnellboot, wie es die Schmuggler verwenden, höchstens während ein paar Sekunden von hinten sehen. «Wie häufig fahren Sie Patrouille, Herr Cheas?» ­ «Wir gehen raus, wenn wir einen Tipp erhalten haben, dass illegale Aktivitäten stattfinden.» ­ «Wann war das zum letzten Mal der Fall?» Nach einer langen Diskussion mit dem Übersetzer folgt eine etwas diffuse Erklärung, von der ich nur den Schluss verstehe. «Die Polizei rückt aus, wenn der Tipp wirklich sicher ist. Wir müssen die Benzinkosten selber zahlen.» ­ «Wann wurde das letzte Mal ein Drogenschmuggler verhaftet?» Wieder entspinnt sich ein Diskurs, und ich bekomme mit, dass sie weder Kameras noch Ferngläser, noch Drogentestausrüstung haben und dass sie selbst nicht genug zum Leben verdienen. Und dass noch nie jemand verhaftet worden sei. Drogenschmuggler fangen, sage ich, sei wie einen Ohrring im Mekong suchen. Er lächelt mir freundlich zu.

Das Gespräch dauert eine Stunde. Die meisten Fragen muss ich mehrmals stellen, bis sich mir aus den verschlungenen Repliken ein Sinn erschliesst. Dies liegt mindestens zur Hälfte am Übersetzer, an Sroh. Er wurde mir vom Betreiber meines Hotels vermittelt. Der auf den ersten Blick unscheinbare, ein wenig unterwürfig wirkende 25-Jährige entpuppt sich als ein Getriebener. Muss er eine simple Ein-Satz-Frage übersetzen, zum Beispiel: «Wie viel verdienen Sie?», dann hebt er zu einem Monolog an. Ist die Antwort des Polizisten überraschenderweise einmal kurz, hindert dies Sroh keineswegs, eine zwanzigmal so lange Übersetzung zu liefern. Das heisst, es ist keine Übersetzung. Es ist eine wuchernde Interpretation, angereichert mit allem Wissen und allen Gedanken, auch den unausgesprochenen, die Sroh dazu in den Sinn kommen, schnell und atemlos vorgetragen, als ob einer um sein Leben redete.

Beim Spaziergang durch Stung Treng ­ Sroh spaziert nicht, er hetzt ­ kommt er immer wieder auf Angkor zu sprechen, die weltberühmten Tempelanlagen des Khmer-Reiches im Osten des Landes. Er will mich unbedingt als tour guide dorthin begleiten. Alle anderen Führer würden mich beklauen, insistiert er, aber er sei billig, er wisse alles über den Ort. Regelmässig wiederhole ich, dass ich auf dieser Reise keine Zeit hätte, Angkor zu besuchen. Aber er gibt nicht auf. Egal, worüber wir reden, sogar als er in Bruchstücken seine Geschichte erzählt ­ sein Blick bleibt abwesend, bis er wieder auf sein Angebot zu sprechen kommt. Es ist mehr als die übliche Hartnäckigkeit, es ist wie Besessenheit.

Vier Dollar für die Schule: zu teuer

Sroh stammt aus einem Dorf in der Nähe von Kratie. Der Vater war Zuckerpalmenkletterer, das heisst, er schnitt die Spitzen der Palmblätter, sammelte den austretenden süssen Saft in Strohkörbchen, kochte ihn zu Zucker und Palmwein und verkaufte diese auf dem Markt. Pro Baum bezahlte er einen Dollar «Miete». Damit sich die Arbeit lohnte, musste er fünfzig Bäume pro Tag beschneiden. Als er alt wurde und nicht mehr so schnell die Stämme hochklettern konnte, musste Sroh, der Nachzügler, einspringen. Dieser hatte auf den zehn Meter hohen Palmen immer Angst gehabt und war dafür vom Vater geschlagen worden. Das erste Mal lief er von zu Hause weg, als er trotz Gewitters klettern sollte. Der Vater fand ihn bei Freunden im Dorf und schlug noch härter. Einmal zerschlug er auf ihm zehn Stöcke, behauptet Sroh, und einmal band ihn der Vater an eine Palme, bevor er ihn züchtigte. Er hatte sich immer mit Händen und Armen vor den Hieben geschützt.

Die zweite Flucht ging bis auf den Markt in Kratie. Der Vater fand ihn auch dort. «Er hat mich böse geschlagen. Er ist ein böser Mensch.» Sroh wurde beherrscht von einer einzigen fixen Idee: einen Ort zu finden, wo ihn der Vater nicht mehr schlagen konnte. Mit zwölf bestieg er in Kratie ein Passagierboot nach Phnom Penh. Er schlief draussen, bettelte, suchte irgendeine Arbeit. Er fand keine und fuhr nach einem halben Jahr wieder den Mekong hinauf nach Kratie. Vielleicht hatte er auch Heimweh, aber davon sagt er nichts.

Die nächsten Jahre trug er den Touristen das Gepäck aufs Boot. «Can I help you?», dieser Satz reichte aus, aber er wollte bald mehr. Gern wäre er auf die englische Schule gegangen. Doch sie kostete vier Dollar im Monat, zu teuer. Er trieb einen älteren Kollegen auf, der ihn billiger unterrichtete. Eineinhalb Dollar monatlich für eine Stunde pro Tag. Einen weiteren Dollar gab er regelmässig seiner Familie ab. Der Vater liess ihn in Ruhe, obwohl Sroh nicht mehr nach Hause zurückkehrte. Er schlief auf dem Posten der Flusspolizei, der nachts leer stand. Nach vier Jahren wurde er lokaler Touristenführer. Ein Hotel engagierte ihn, weil er nun Englisch sprach.

Seit dem zwölften Lebensjahr ist er vollkommen auf sich allein gestellt. Zurück konnte er nicht, stehen bleiben auch nicht, sonst hätte ihn der Vater eingeholt, oder er wäre verhungert. «Warum wurdest du kein Dieb?» ­ «Ich hatte Angst, dass man mich schlagen würde, wie mich mein Vater geschlagen hat.» Er musste vorwärts, jeder Schritt war ein Schritt ins Nichts, aber er hatte keine Wahl. Tour guide in Angkor ist seine nächste Station, er wird sie erreichen und trotzdem nicht zur Ruhe kommen. Die körperliche Panik ist zum seelischen Motor, zum Lebensstil geworden. Den Vater hasst er, aber er empfindet auch Mitleid. Er ist jetzt über achtzig und krank. Sroh gibt ihm Geld, «sonst stirbt er». Manchmal macht Sroh zu Hause einen Besuch. Aber dort fühlt er sich unwohl und leer und muss bald wieder gehen.

Kopf ab und in Stücke schneiden

Die Dämmerung bricht herein, und der Mekong brennt orange und rot und violett, als wir Srohs bevorzugtes Restaurant unweit des Docks betreten. Ich habe ihn zum Essen eingeladen, morgen reise ich weiter. Das kleine Lokal ist voll und laut. Die Gäste sind fast ausschliesslich Männer ­ Hafenarbeiter, Bootsleute, Handwerker, volkstümliche Typen mit grossem Durst. Sroh wird von der Wirtin begrüsst, er ist öfter hier. Spezialität des Hauses sind Hundebraten und gegrillte Schlangen. Sroh mag Hund. Die Wirtin, eine freundliche Frau, die mit ihren drei Töchtern den Laden führt, verrät das Rezept.

«Zuerst den Hund töten, dann rasieren [Sroh übersetzt mit shave, rasieren, vielleicht meint er häuten], grillen und in Stücke schneiden. Anschliessend eine Stunde schmoren lassen mit Gemüse, Knoblauch, Gewürzen, Chili, Salz.» ­ «Welche sind die besten Hunde?» ­ «Die schwarzen.» ­ «Warum?» ­ «Sie halten die Geister fern. Geister haben Angst vor ihnen.» ­ «Und wie kocht man Schlangen?» ­ «Kopf ab, in Stücke schneiden, grillen. Mit Pfeffer und Zitrone servieren.»

Wir entscheiden uns für Hund. Während ich mich beim Warten mit Reisschnaps in Esslaune zu bringen versuche, entdecke ich an der Wand zwei gedorrte Affen. Fragend schaue ich Sroh an. Für medizinische Zwecke, sagt er nur, als wäre damit alles klar. Ich fülle das Glas nach. Und noch ein weiteres Mal, als die Wirtin die Menüs auftischt. Zu meinem Erstaunen ist der Hund nicht zäh, sondern schlabberig, fast wie weiches Fett, und von unspektakulärem Geschmack. Alle Hunde, die ich bisher in Stung Treng gesehen habe, sind von derselben Rasse. Schlank, mit spitzer Schnauze und aufmerksamen Augen. Sympathische Tiere. Plötzlich sehe ich den meinen deutlich vor mir. Er hat ein rehbraunes Fell, und während ich ihn verspeise, schaut er mich treuherzig an. Danke, nickt Sroh zufrieden, als ich ihm meinen noch fast vollen Teller zuschiebe.

Seit Stunden fliesst der Mekong durch Waldgebiete, geduldig und breit wie ein grosser See, dessen Ufer sich hinter Inseln und aus dem Wasser ragenden Baumwipfeln verlieren, als er unversehens in Turbulenzen gerät. Es sind die letzten Katarakte auf dem Weg des Flusses vom tibetischen Eisland ins Südchinesische Meer. Ungerührt manövriert uns der Bootsführer durch die Stromschnellen und Felsen. Bald nachdem die Fahrt wieder ruhig geworden ist, tauchen am linken Ufer die ersten Gebäude von Kratie auf.

Kratie liegt auf einer dammartigen Anhöhe, die sich kilometerlang zwischen Mekong und Schwemmland dahinzieht. Gleich ausserhalb des kleinen, aber modernen, lärmigen Zentrums tritt man wie durch einen Zeitvorhang, und alles wird mild und bedächtig, sogar das Licht scheint weicher. Die Holzhäuser sind auf hohen Stelzen über schwimmende Gemüsegärten gebaut, über Reisfelder, Seerosenbecken, Fischteiche. Gesäumt von Palmen, Tamarinden, Platanen, Bambus, sehen sie aus wie alte, verwunschene Badeanstalten. Frauen mit wilden, schönen Gesichtern und scheuem Lächeln balancieren Strohkörbe über den schmalen Steg ins Haus. Männer flicken auf Terrassen Fischereiwerkzeuge. Schmutzige, fröhliche Kinder zerren an einem stoischen Wasserbüffel herum.

Auf einem Hügel, der mitten aus der überfluteten Ebene emporwächst, steht eine Tempelanlage. Kleine Pfade führen an verwitterten Stupas, an Statuen und farbigen Gipsmodellen vorbei ­ Fisch mit Drachenkopf, Buddha als dralles Kind, barbrüstige, rotlippige Frau mit Fischunterleib und bis auf den Boden reichenden Haaren, Buddha als verführerisch schöner junger Mann. Viel Liebe ist auf die Details verwendet worden: auf die sekundären Geschlechtsmerkmale der Flussjungfrau, auf die mit Kohle nachgezogenen Mandelaugen Buddhas. Ähnliches lässt sich auch bei einer Darstellung der buddhistischen Hölle feststellen, einem grossen, im Stil indischer Kinoplakate gemalten Wandbild in einem Gebetsraum.

Baby Wasserbüffel

Ein Mann wird zersägt, in einem dampfenden Kochtopf schwimmen Menschenköpfe, einer vornüberknienden Frau wird ein Bambusrohr durch den Schlund gestossen, andere Frauen werden auf stachelige Bäume gespiesst. Der Maler legte keinerlei Wert auf moralische Unterscheidung der Figuren, um die Strafaktionen zu rechtfertigen. Etwa indem er die Gepeinigten mit Zeichen der Sünde, des Alkoholexzesses, der Frivolität, der Geilheit versehen hätte. Die Opfer und ihre Peiniger sehen genau gleich aus, jeder könnte die Rolle des anderen übernehmen. Sie sind alle nackt und jung, und sie haben attraktive, wenn auch leicht übertrainierte Körper.

Die pralle Abbildung des Vorgangs ist offensichtlich wichtiger als die sittliche Lektion, die sie zu leisten vorgibt. Die blutig leuchtenden Striemen auf den Rücken der Frauen, die kräftigen Oberschenkelmuskeln interessieren mehr als die Frage, warum hier jemand so zugerichtet wird. Der kindliche Hyperrealismus der anonymen Pagodenkünstler verrät eine Faszination für die elementaren Mächte des Lebens, für Eros und Gewalt. Die Welt wird nicht aus einem Prinzip heraus erklärt, sondern aufgefasst als grosse magische Erzählung, als farbiges, grausames, sinnenfrohes Geschehen. Die Dinge lösen Furcht, Lust und Staunen aus. Aber sie sind nicht Resultat eines göttlichen Plans, und man kann aus ihnen keine Lehren destillieren. Es ist ein heidnischer Blick, unmittelbar, direkt, wie in Märchen oder Kunst.

Seit den letzten Katarakten fliesst der Mekong auf Meereshöhe und pflügt sich in ausholenden Schleifen durch die Ebene. Nach Kratie sind die Ufer des Stroms fast durchgängig erschlossen. Immer wieder Pfahlsiedlungen, Langboote, Flosse mit winzigen Strohzelten, Krabbenfallen, Lastkähne, Fischernetze, Kinder in Baumhütten, Männer, die ihre Wasserbüffel waschen, behutsam, fast zärtlich, als wären es Säuglinge. Man trinkt aus dem Mekong, entleert sich in ihn, reinigt sich, kippt die Abfälle hinein, bewässert die Felder, holt aus ihm die Nahrung.

Der Übergang ist abrupt. Nach Hunderten von Kilometern Flussfahrt durch urtümliche und bäuerliche Landschaften erheben sich an den Ufern Apartmentblocks und Geschäftshäuser. Wir haben Phnom Penh erreicht, die Hauptstadt Kambodschas, unser kleines Boot schippert in die City und legt am Sisowath Quay an, einem breiten Boulevard mit Bars, Touristendocks, westlichen Restaurants. Die Renommierallee liegt nahe der grossen Flussvierung im Zentrum Phnom Penhs, genannt Chatomuk, «Vier Gesichter». Dort nimmt der Mekong den aus der Gegend der Tempelanlagen von Angkor herströmenden Tonle Sap auf, um sich gleich wieder in zwei mächtige Arme aufzuteilen, die sich bis zur Mündung nicht mehr vereinen werden. Der Tonle Sap ist der einzige Fluss der Erde, der einmal pro Jahr rückwärts fliesst. Während der Regen des Sommermonsuns fluten die anwachsenden Wassermassen des Mekong den Tonle Sap hoch, zu einem Binnensee, dessen Oberfläche sich in dieser Zeit auf die Grösse des Schweizer Mittellandes versechsfacht, und düngen das überflutete Land mit Löss und Mineralien. Sinkt der Wasserpegel in der heissen Trockenzeit, kehrt der Tonle Sap die Richtung wieder um, und in seinem Lauf nimmt er Millionen von Fischen mit. Die kambodschanische Kernmahlzeit ist Fisch mit Reis, nicht umgekehrt.

Am Müll festgemacht

Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass das chaotische, lebendige Phnom Penh vor nur einer Generation eine menschenleere Geisterstadt war. Die Roten Khmer des ehemaligen Lehrers Pol Pot hatten die gesamte Einwohnerschaft zur Arbeit auf die Reisfelder getrieben, sie sprengten die wichtigsten Gebäude wie Nationalbank, Nationalbibliothek, Pagoden und liessen den Rest der Hauptstadt zerfallen. Ein einziges Schulhaus blieb in Betrieb, das ehemalige Gymnasium Tuol Sleng, das schwarze Herz der kommunistischen Bauernutopie. Die buddhistischen Höllengemälde an systematischer Brutalität überbietend, diente es als Folter- und Tötungsmanufaktur, die keinen der 15 000 Eingelieferten am Leben liess. Als die Roten Khmer nach vier Jahren von der vietnamesischen Armee in den Dschungel verjagt wurden, hatten sie gegen zwei Millionen Menschen, ein Viertel des Volkes, durch Hinrichtungen, brutale Zwangsarbeit, Hungerrationen vernichtet.

Heute leben wieder eineinhalb bis zwei Millionen Menschen in der Hauptstadt. Niemand kennt die genauen Zahlen, sicher ist nur, dass es täglich mehr sind. Viele kommen auf einem der Flüsse, ganze Familien in Booten, Flussnomaden, aus den Südprovinzen und aus Vietnam den Mekong und den Bassac hoch, aus dem Nordwesten den Tonle Sap hinunter, und gehen an den Ufern mitten in der City vor Anker, wo sie meist ihre dörfliche Lebensweise weiterführen. Wie die Bewohner eines kleinen Wasserslums am Ende des Sisowath Quay. Auf den ersten Blick übersieht man die Wohnflösse. Ihre Dächer aus Karton und Plastikfetzen haben dieselbe schmutzige Farbe wie die Anlegestelle ­ eine Mülldeponie. Zwei Frauen unterhalten eine Stehküche mit gekochten Flussschnecken, eine andere breitet Gemüse aus, das sie in einem der schwimmenden Gärten geschnitten hat, ein Junge verkauft Zuckerrohrstücke, ein Mann arbeitet an einer winzigen, fahrbaren Sägerei, ein anderer schenkt Reisschnaps in einem Holzverschlag aus.

Achtzig Meter draussen im Fluss steht eine Stelzenhaussiedlung. Frau Ling Nai, 66-jährig, unterhält in der Hochwassersaison den Fährdienst. Für rund fünf Rappen transportiert sie in ihrem Schmalboot maximal zwei Passagiere von einem Ufer zum anderen. Im Moment läuft das Geschäft gut. Wenn einer aussteigt, wartet schon der Nächste, sie kann nur eine meiner Fragen aufs Mal beantworten. «Wie oft am Tag fahren Sie hin und her?» ­ «Von morgens bis abends.» Sie steht aufrecht am Bug und stösst das Gefährt mit einer Stange vorwärts. Das Wasser ist etwa einen Meter tief. In der Trockenzeit sinkt es ab, und dann pflanzt sie Gemüse an. Vor zwölf Jahren ist sie mit ihrem Mann, einem Fischer, aus dem Süden nach Phnom Penh gekommen. «Warum haben Sie Ihr Dorf verlassen?» ­ «Man hat keine Wahl. Der Mann konnte nicht mehr arbeiten. Er war alt.» Als sie wieder einmal auf die andere Seite übersetzt, erzählt uns eine der Schneckenköchinnen, dass zwei der drei Kinder von Frau Ling während des Pol-Pot-Regimes verhungert seien.

Es gibt keine Familie im Land, die aus dieser Zeit keine Opfer zu beklagen hätte. Mein Guide und Dolmetscher in Phnom Penh ist Phann Ana, ein 35-jähriger Reporter der Tageszeitung Cambodia Daily. Er war acht Jahre alt, als der Vater zusammen mit allen anderen Männern seines Dorfes von Pol Pots Soldaten exekutiert wurde. Ana ist schnell, aufmerksam, und ein Stadtrundgang mit ihm ist wie eine Architekturführung zum Thema «politische Korruption». «Siehst du dieses Gebäude?», sagt er beispielsweise und zeigt auf den riesigen Rohbau gleich hinter der Slumsiedlung. «Das neue Kasino. Malaysisch-chinesische Investoren, eine Geldwaschanlage für die Mafia und die Familie des Premierministers.» Etwas später: «Dort, diese Bauruine, es sollte eine Ausstellungshalle werden. Um sie zu finanzieren, hatte der frühere Gouverneur staatliches Land für sechs Millionen Dollar an die US-Botschaft verkauft. Als der neue Gouverneur kam, war das Geld verschwunden.» Oder: «Die weisse Villa am Ende der Strasse gehört einem Neffen des Premierministers. Aktiv im Drogengeschäft. Die Spezialeinheit übrigens, die zur Bekämpfung des Drogenhandels gegründet worden war, übernahm das Geschäft gleich selber.»

Ein paar Kilometer den Mekong abwärts befindet sich ein beliebtes Ausgehziel gutverdienender Kambodschaner. Schwimmende Restaurants, Bordelle, Karaokestuben liegen vertäut am Ufer nebeneinander. Eines dieser Lokale ist bekannt für einen speziellen Drink. Man schneidet einer lebenden Schlange den Schwanz ab und lässt das Blut in ein Glas Whisky träufeln. Die Konsumenten schwören darauf, dass es die Potenz steigere. Wir nehmen an der Bar Platz, und ich bestelle eines dieser Schlangenwasser, obwohl es nicht auf der Getränkekarte steht. Die Kellnerin sagt, sie müsse nachschauen, und verschwindet.

Es ist früher Abend, ausser einer kleinen Runde kambodschanischer Geschäftsleute sind wir die einzigen Kunden. Auf dem Nachbarsboot sitzen einige junge Frauen mit gelangweilten Gesichtern herum; der misstrauische Lokalbesitzer führt einen Rottweiler über die Terrasse, und als er sich kurz bückt, sieht man eine Pistole im Hosenbund; sein etwa zwölfjähriger Sohn, ein dicker, missmutiger Bub, dreht mit einem Speedboat lärmige Runden auf dem rötlichen Mekong. Nach fünf Minuten kehrt die Kellnerin zurück. «Kein Problem», sagt sie, «es sind noch Schlangen da.» ­ «Wie viel kostet der Drink?» ­ «25 Dollar.» ­ «Tut mir leid», schwindle ich sie an, «das ist zu teuer.» ­ «Kein Problem», antwortet sie.

NGOs regieren

Schon vor Jahren erliess die Regierung ein Gesetz, welches das kommerzielle Jagen, den Verkauf, den Transport und auch das Auftischen von wilden Tieren in Restaurants verbietet. Die Abholzung der Lebensräume hatte bereits viele Arten dezimiert, und die grosse, auch internationale Nachfrage nach Schildkrötensuppe, Tigerpenissen, Elefantenzähnen, Reptilienfleisch erhöhte die Gefahr des Aussterbens. Ana hatte erzählt, dass sich mit dem neuen Gesetz aber nichts geändert habe. Die Regierung selbst habe vor zwei Jahren heimlich einen Vertrag über die Lieferung von 5000 Affen an China unterzeichnet. «Die Chinesen essen alles.» Einzig die Menükarten in Phnom Penh seien angepasst worden, fuhr er fort, und ich schlug vor, dies nochmals zu überprüfen. «Siehst du», meint er jetzt beiläufig, «so geht das hier.»

Das Wildtierschutzgesetz ist wie andere Gesetze und wie der kambodschanische Staat als Ganzes ein Produkt westlicher Intervention. Sämtliche politischen Einrichtungen sowie deren Träger waren von den Roten Khmer ausgelöscht worden. Die Wahlen von 1993 hatte die Uno organisiert. Milliarden von Dollar, starke Truppenkontingente und Tausende von Beratern mussten für die aufwendigste Aktion in der Geschichte der Organisation aufgeboten werden. Seither hat sich eine Art Arbeitsteilung eingespielt. Die Regierung um Premierminister Hun Sen, strong man des Landes, ehemaliges Kader der Roten Khmer, Schachspieler und Machiavellist, ist beschäftigt mit dem Machterhalt und der Vermehrung der privaten Vermögen. Und die internationale Gemeinschaft und die Hilfsorganisationen kümmern sich um den Rest. Gegen tausend ausländische NGOs, schätzt Ana, haben in Phnom Penh ihre Büros. Sie bauen Schulen, Krankenhäuser, Brücken, betreiben Landwirtschaftsprojekte, unterstützen Menschenrechtsgruppen, kämpfen gegen Frauenhandel, retten seltene Tropenvögel, engagieren sich gegen das Einsperren von Bären, verteilen Moskitonetze, gründen neue NGOs.

«Du kannst sie alle kaufen»

«Ist es gut, dass die ausländischen Hilfsorganisationen erledigen, was die Aufgabe der Regierung wäre?», frage ich Ana, dessen englischsprachige Zeitung Cambodia Daily ebenfalls eine Art NGO ist. Sie wurde 1993 von einem Amerikaner als nichtprofitorientiertes Projekt zur «Förderung der freien Presse und der Ausbildung von Journalisten» gegründet. Der Chefredaktor und die Hälfte der Redaktion sind anglophone Weisse, die Leser mehrheitlich Ausländer, viele aus der NGO-Gemeinde, und mit einer Auflage von vier- bis fünftausend kann sie sich nicht selbst finanzieren und ist auf ausländische Sponsoren angewiesen. «Die Kambodschaner brauchen die NGOs», sagt Ana, «die Regierung tut nichts.» ­ «Machen sie eine gute Arbeit?» Er schweigt für einen Moment. «Alles in allem überwiegt das Positive.» Negativ sei, meint er dann etwas giftig, dass wahrscheinlich die Hälfte des Geldes in den Organisationen selbst bleibe. «Zum Beispiel für die teuren Löhne der eigenen Experten und Projektleiter, die das gute Leben in Phnom Penh, das billige Essen und die jungen Frauen geniessen.»

Er kommt auf debauchery zu sprechen, Ausschweifungen, wie er Unzucht mit Minderjährigen nennt ­ ein beliebtes Thema, wenn man so sagen darf, bei westlichen Helferaktivisten, die durchgesetzt haben, dass in vielen Touristenbars englischsprachige Warnbroschüren gegen Kindersex neben der Getränkekarte aufliegen. Einmal sei er als verdeckter Reporter unterwegs gewesen, erzählt Ana. Ausgerüstet mit seiner Kamera, habe er im Auftrag eines britischen Boulevardblatts vier Tage lang Gary Glitter observiert, der damals in Phnom Penh ein Haus besass. Die Vorliebe des Altrockers für sehr junge Mädchen sei schon damals bekannt gewesen. Aus einem entlarvenden Foto sei aber nichts geworden.

Wenn überhaupt, sagt Ana weiter, würden übrigens nur Ausländer erwischt. Die seien nicht vertraut mit den Verhältnissen. Reiche Kambodschaner liessen sich die Minderjährigen von ihnen bekannten Zuhältern ins Hotel oder ins Bordell bringen. «Die Männer hier sind verrückt nach jungfräulichen Mädchen.» Und wenn es Schwierigkeiten gebe, wüssten sie, wer der zuständige Beamte sei, den man schmieren müsse. Vor vier Jahren sei eine Sonderabteilung gegen Menschenschmuggel gegründet worden ­ wie immer auf Druck des Westens und der entsprechenden NGOs. Bald darauf hätten auch in diesem Fall die Polizeioffiziere die Seite gewechselt und seien zu Organisatoren des Sexhandels geworden, der Mädchen aus ländlichen Gegenden und aus Vietnam liefere. «Polizisten, Richter, Politiker, du kannst sie alle kaufen.»

Im oberen Teil des Sisowath Quay ankert ein grosses Passagierschiff am Ufer, ein schwimmendes Dancing, dessen Lichtergirlanden in der Nacht von weitem zu sehen sind. Auf der Landebrücke und entlang der Reling gehen Ana und ich durch ein Spalier von Frauen, die meisten jung und ziemlich hübsch, sie kichern und lächeln und streifen einen wie zufällig. Die Tische auf dem Aussendeck sind zu drei Vierteln mit Frauen besetzt, ebenso wie diejenigen im grossen Innensaal, wo eine Kapelle spielt. Die Männer sind ausnahmslos Asiaten, ich bin der einzige Weisse. Eine Serviererin platziert uns an einen der wenigen freien Tische, verschwindet und kehrt eine Minute später mit zwei Bierkrügen und zwei Frauen zurück.

Eine ist jung, Vietnamesin, die andere ist sehr jung und wirkt etwas zurückhaltend, bis wir merken, dass sie nicht spricht, weil sie stumm ist. Ana unterhält sich eine Weile mit der Vietnamesin, dann wendet er sich an ihre Kollegin. «Wie meldest du dich am Telefon?», fragt er, «und wie sagst du deinem Freund, dass du ihn liebst?» Es ist als Witz gedacht, die Frauen und Ana lachen, man ist hier offenbar unzimperlich. Etwas später, als Ana den beiden erklärt, dass wir keine weitergehenden Interessen haben, verlassen sie uns. Für zehn Dollar, meint er, würden die Mädchen aufs Hotelzimmer mitkommen. Die Vietnamesin sei 22, die Kollegin 18. Wenn er eine Jüngere wolle, habe die Vietnamesin gesagt, könne sie ihm behilflich sein. «Das Dancing», schliesst Ana, «gehört einem, der gute Beziehungen zur Regierung hat.»

Vor zehn Jahren hat Tran Van Manh geheiratet, ein schwimmendes Haus im Fluss gebaut und darin eine kleine Schnapsbrennerei eröffnet. Jetzt ist er dreifacher Vater, hat das Haus dreimal vergrössert, und seine Brennerei ist die grösste in Chau Doc, einer vietnamesischen Stadt im Mekong-Delta, nicht weit entfernt von der Grenze zu Kambodscha. Es ist sieben Uhr morgens, und die zwölfköpfige Belegschaft, Cousins, Brüder, der älteste Sohn von Manh, ist bereits seit zwei Stunden am Arbeiten. Ein Feuer heizt den Tonofen, in dem der Sud aus Wasser und gegorenem Reis köchelt; das Kühlsystem, eine von Manh ausgetüftelte, dampfende Bambusröhrenkonstruktion, über die ein kleiner Wasserfall geleitet wird, sieht aus wie eine Tinguely-Maschine. Manh nimmt einen Schluck vom frischgebrannten Schnaps. Seine geröteten Augen blinzeln zufrieden. Das Wässerchen schmeckt so, wie er es gern hat. Stark, rein, scharf.

Seit die vietnamesische Regierung Anfang der neunziger Jahre den Wirtschaftskommunismus aufgegeben hat, ist ein Stromstoss durchs Land gegangen. Leute wie Manh, ehrgeizig, arbeitswillig, mit einer Idee, gründeten Geschäfte, kleine Unternehmen. Chau Doc, vor zwanzig Jahren ein gemächliches Reisbauernnest, vibriert vor Betriebsamkeit. Der Markt überquillt von Waren und Menschen, einige Buden haben 24 Stunden offen. An der Flussböschung wuchern die Häuser in die Höhe, sechs, sieben Stockwerke, nach oben schmaler werdend wie ein Schiffsaufbau, die Balkone als Reling, manchmal Wellblechverschachtelungen mit kleinen Fenstern, überraschende Containergebilde wie Designarchitektur von Frank Gehry. Aber die Stadt ist längst über die Ufer getreten, der bräunliche Fluss strömt zwischen Hunderten Hausbooten und Stelzenhäusern hindurch. Das Land ist begrenzt durch die Reisfelder, auf dem Fluss muss man niemandem Miete bezahlen. Viele haben unter dem Stubenboden Fischzuchten aufgetan, Manh verkauft ihnen seinen Reisabfall. Andere leben auf Hühner- oder Gänsefarmen, betreiben Werkstätten, zirkulieren mit Booten durch die Wassersiedlungen, verkaufen Mahlzeiten, Stoffe, Reparaturdienste, Benzin.

Gezähmter Drachen

Der letzte Abschnitt der Reise führt durch eine dichtbesiedelte und industriell genutzte Landschaft. Ziegelbrennereien gleiten vorbei, schwimmende Lagerhäuser, Fabriken, Strommasten und Antennentürme. Im Fluss ankern gewaltige Kräne und baggern Sand in Lastschiffe. Eine Weile tuckert unser Boot eine Strasse entlang. Lastwagen überholen uns, Motorräder, Autos. Die Zeit überholt uns. Mit einem einfachen Holzboot die Mekong-Mündung hinunterreisen ist wie mit einem Ochsenkarren über die Autobahn holpern. Die Ankunft in Vinh Long bestätigt das Ende der Gemütlichkeit. Das letzte Städtchen vor dem Südchinesischen Meer, wo das Wasser des Mekongs bereits leicht nach Salz schmeckt, ist eine einzige uncharmante Betriebsamkeit. Nur noch der vietnamesische Name «Neun Drachen» für die neun Arme, in die sich der Mekong im Delta verästelt, erinnert an die Erfahrung von Schönheit und mythischer Lebenskraft, die der Strom einst vermittelte. Jetzt scheint er gebändigt worden zu sein.

Zwei Tage später, auf der Heimreise, überfliege ich das Delta. Der Blick aus der Bootperspektive war irreführend und kleinlich. Dort unten breitet sich eine atemraubende Welt aus. Bis an den Horizont erstreckt sich die Ebene, die halb versunkenen, halb grün leuchtenden Reisfelder. Die Siedlungen sind nur Punkte und die den Kanälen und Flussarmen entlang gebauten Strassen nur Äderchen in einem riesigen, reichen, einzigartigen Wasserland.

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