Die Weltwoche / Eugen Sorg

04.05.2006

Die letzte Wanderung

Sie nennen sich Nukak, «Menschen», und sie zogen während Tausender von Jahren durch den Regenwald Amazoniens ­ leise, spurlos, unentdeckt. Nun sind sie bei den Weissen angekommen. Und eine Welt geht unter.

Plötzlich waren sie da. Nackt, die Gesichter bemalt, bewaffnet mit Blasrohren, auf den rasierten Köpfen kleine Affen. Anfang März waren sie in San José del Guaviare aufgetaucht, einem Nest am Rande des südkolumbianischen Dschungels, ein atemraubender Umzug, waren an den irritierten Passanten und Ladenbesitzern und Autofahrern vorbeimarschiert, um sich schliesslich niederzulassen unter den Bäumen des Pärkchens im Zentrum der Stadt. 76 Männer, Frauen und Kinder, Angehörige der Nukak, des letzten Nomadenvolkes im Regenwald Kolumbiens und eines der letzten nomadisierenden Völker überhaupt. Was war geschehen, das die scheuen Eingeborenen veranlasst hatte, die ewige Dämmerung, das Kathedralenlicht des tropischen Walds, wo sie seit Urzeiten gelebt hatten, wahrscheinlich für immer zu verlassen und sich in die fremde, lärmige, grelle Welt der Weissen zu begeben?

Zwei der Waldmenschen sprachen Spanisch und erzählten den herbeigerufenen Behördenvertretern von «gefesselten und traurigen Leuten», von «Waffen» und von «schlechten Menschen», die gedroht hätten, die Nukak zu töten. «Sie sagten uns, wir sollten uns hier nie mehr blicken lassen.» Die Nukak waren offensichtlich auf ein Gefangenenlager der Farc-Guerillas gestossen. Eine der Geldquellen der reichen stalinistischen Partisanenarmee bilden ­ neben dem Kokain- und dem Erpressungsbusiness ­ die Entführungen. In tief im Dschungel versteckten Camps halten die Farc Hunderte von Verschleppten fest, Politiker, Touristen, Unternehmer, einfache Leute, zum Teil viele Jahre, und schachern um Lösegeld. Die Indianer waren unerwünschte Zeugen, die dem kolumbianischen Militär diesen und andere Stützpunkte der Guerillas hätten verraten können. Nach mehrwöchiger Flucht erreichten sie San José del Guaviare.

Die Ortsansässigen brachten ihnen Hosen und Leibchen und verteilten Spielsachen an die Kinder, und der Bürgermeister berief das «Amtliche Komitee zur umfassenden Betreuung von Gruppen in der Situation des Vertriebenseins» ein, dem Delegierte von 15 verschiedenen Organisationen angehörten, von der Gesundheitsbehörde über das Militär, die Polizei bis zur Kirche. Das Komitee beschloss, die Indianer in einer Waldlichtung ein Stück ausserhalb des Städtchens unterzubringen ­ provisorisch, bis man eine Lösung gefunden hätte. Diesmal wollte man es gut machen, besonders gut.

Man meldete die Ankunft der Urmenschen in die Hauptstadt Bogotá, worauf ein Gesandter des Präsidenten Uribe eigens nach San José einflog. Die Uno verlange, teilte der Mann mit und genoss den Schreck, den das Wort Uno den Provinzlern ins Gesicht zauberte, die Uno verlange, dass die Kultur dieser Leute erhalten bleibe. «Und was soll dies heissen?», fragte sich das Komitee, nachdem der Gesandte wieder abgereist war. Trotz tiefschürfender Diskussionen wurde man sich in keinem Punkt mehr einig. «Die Nukak brauchen eine Toilette», regte der Vertreter des Gesundheitsamts an. «Nein», sagte der Anthropologe, «sie sind es gewohnt, ihr Geschäft im Wald zu erledigen.» Die Sekretärin des Bürgermeisters brachte vor, sie habe auf Discovery Channel einen Film über Orang-Utans gesehen. Denen habe man ein Reservat gegeben, mit einer Futterstelle für den Fall, dass sie nicht genug Essen fänden. «Halt», intervenierte der Kirchendelegierte, «Nukak sind keine Orang-Utans.» ­ «Ach», seufzte die Sekretärin, «alles ist so schwierig.» Dabei wollten die Nukak gar nicht bleiben, so, wie sie sind. Dauernd verlangten sie nach Kleidern und Mützen, es sei, als ob man plötzlich für 100 Kinder sorgen müsste. Und die Geschichte von der Verjagung durch die Guerillas, setzte sie hinzu, sei auch sehr fragwürdig. Andere Eingeborene, habe sie gehört, rieten den Nukak, sie zu erfinden, um in den Genuss von Vertriebenenhilfe zu kommen. Während der Finanzdelegierte zu diesen Worten nickte, legte der Anthropologe energischen Protest ein.

Im Himmel gibt es eine Strasse

Die letzten Kilometer der viertelstündigen Fahrt zum Camp der Nukak manövrieren wir unsere Mopeds über einen kleinen Pfad. Wir sind unterwegs mit Belisario, einem der spanischsprechenden Stammesangehörigen, und mit Doktor Javier Maldonado, einem ernsten Jungmediziner, der sich mit Idealismus und dem Geld eines niederländischen Hilfswerks um die Nukak kümmert. Einige Kinder rennen uns lachend entgegen, angelockt durch den Lärm der Motos, und zwei, drei Männer schlendern zur Begrüssung herbei ­ unser Besuch erregt kaum Aufsehen.

Das Camp, in dem sie seit vier Wochen leben, wirkt wie die ländliche Vorstufe eines Slums. Pfosten wurden in die Erde gerammt und mit schmutzigen Plastikplanen oder Blättern überdacht. Es sind Behausungen, in denen Männer in Hängematten dahindösen und stillende Frauen herumsitzen. Der Boden zwischen den Unterständen ist übersät mit Knochen, Abfällen, Plastikfetzen. Hunde kratzen sich wie verrückt im Pelz, Fliegenschwärme umkreisen Kothügel, und ein verdreckter kleiner Junge wühlt mit einer Zahnbürste in der Erde. Am Vortag waren von einer Komiteeabordnung Mundhygienesets verteilt worden. Jemand hatte bemerkt, dass viele Nukak verfaulende Zähne haben. Häufig hört man auch rasselndes Husten, Spucken und Röcheln, und vielen Kindern läuft die Nase.

Alle haben inzwischen Kleider an, ungewaschene T-Shirts, Sporthosen. Sie schämten sich vor den Weissen ihrer Nacktheit, behauptet der Doktor. Die Haare, sonst mit einem Piranhaknochen immer sorgfältig kurz geschabt, sind nachgewachsen und bei den meisten Männern mit Baseballcaps bedeckt. Nur noch einzelne junge Frauen verzieren ihr Gesicht mit roten Mustern, wie es seit je der Brauch war. Die Halsketten aus Affen- oder Jaguarzähnen sind durch billige Glasperlen ersetzt worden, der Ohrschmuck aus Affenknöchelchen und Tropenvogelfedern ist verschwunden. Und die Männer nennen sich jetzt Pedro, Julio oder Pablo. Wenige Wochen genügten, und die Nukak hatten die äusseren Zeichen ihrer Identität getilgt.

«Wo kommt ihr her?», will einer der Männer wissen, der sich als Juan vorstellt. «Aus Europa.» Er diskutiert eine Weile mit seinen Kollegen. «Von der anderen Seite des Meeres», füge ich hinzu. Wieder verhandeln sie, bis mir Belisario übersetzt, dass sie weder Europa noch das Meer kennen. «Sie kommen von sehr weit weg», wendet er sich an seine Leute, «so weit weg wie Bogotá.» Ah ja, nicken mir alle verständnisvoll zu. «Wir sind mit dem Flugzeug gekommen», setze ich nach und deute in den Himmel, «durch die Luft.» Erneut folgt eine längere Debatte, wobei Juan mit dem Arm ausholende Wellenbewegungen macht, als wollte er unsere Reiseroute veranschaulichen. «Wir wissen, wie du gekommen bist», sagt er schliesslich strahlend, als ob er eben eine für alle befriedigende Lösung gefunden habe, «im Himmel gibt es eine Strasse, und über die bist du mit einem Wagen hergefahren.» Wieder nicken mir die anderen aufmunternd zu.

Erstaunlicherweise verliert sich der erste Eindruck schäbiger Trostlosigkeit sofort, sobald ich mit den Nukak zu reden beginne. Es sind wache Menschen, die auch die feinsten Regungen des Gegenübers wahrnehmen und direkt darauf reagieren. Ich zeige den Anflug eines Lächelns, und schon lächelt ein freundliches Gesicht zurück. Für einen winzigen Moment hänge ich einem Gedanken nach und realisiere das erst, als mich der andere fragend anschaut. Nichts scheint ihnen zu entgehen, ihre Neugierde ist wohlwollend, nie aufdringlich. Vieles muss ihnen an einem Fremden wie mir komisch vorkommen. Aus Höflichkeit lassen sie mich das nicht spüren und lachen erst, wenn sie glauben, ich könne es nicht mehr hören. Sie erinnern mich an fröhliche, tibetische Dschungelmönche, die nur in letzter Zeit etwas Pech gehabt haben. Der Doktor meint, es seien magische Leute.

Juan hiess bis vor kurzem K’roi, was er erst nach dreimaligem Nachfragen sagt. Er ist feingliedrig, aber kräftig, ungefähr Mitte zwanzig, weiss jedoch nicht genau, wie alt er ist. Im Wald, erläutert Belisario, kannten sie keine Jahre. «Wie habt ihr im Dschungel gelebt?», frage ich. «Wir haben nach Essen gesucht.» ­ «Wie?» ­ «An einem Tag haben wir Fische gefangen, am anderen Tag Früchte und Beeren gesammelt, am nächsten Würmer ausgegraben und mit dem Blasrohr Affen gejagt. Wir sind nie an einem Ort geblieben. Wir haben auch Bäume gefällt, um an den Honig heranzukommen, zu Grossvaters Zeiten mit Steinäxten, heute mit Macheten und Metalläxten.» ­ «Von wem habt ihr diese bekommen?» ­ «Von den Weissen. Viele von uns haben auch angefangen, für die Weissen zu arbeiten. Auf den Coca-Feldern oder Holz hauen oder graben.» ­ «Warum?» ­ «Es gab immer weniger Orte zum Jagen. Wir mussten unser Essen kaufen.» ­ «Welche Gefahren gibt es im Wald?» ­ «Schlangen, Jaguare. Grüne Nukak. Diese sind die Gefährlichsten.» Juan lacht. So nennen sie die tarnanzügetragende Guerilla. «Was haben sie getan?» ­ «Sie wollten uns töten.» ­ «Hast du das selber erlebt?» ­ «Nein, aber Belisario.» Belisario nickt. Sie behaupteten, er helfe den Paramilitärs. «Wo ist es besser: hier oder im Wald?» ­ «In der Stadt. Wir wollen aus den Bergen raus.» Mit den Bergen meinen die Nukak den Wald. «Warum?» ­ «Die Weissen helfen uns und bringen uns Essen. Und wir müssen nicht mehr laufen.» ­ «Ihr wollt nicht zurück in den Wald?» ­ «Nein, nie mehr», schaltet sich Juans Frau mit einer hohen, wie ein helles Lachen klingenden Stimme ein. «Wir wollen an einem einzigen Ort leben. Laufen gibt brennende Füsse.»

Sie sitzt am Boden vor einem Feuer und grillt einen Affen. Stück für Stück dreht und schiebt sie ihn über die Flammen, zuerst den Kopf, dann den Rumpf und den Hinterteil. Die Lippen verbrutzeln, die gebleckten Zähne werden sichtbar, die Augen starren blind und glasig, die Haut platzt in runden Blasen auf, und plötzlich tritt der Penis hervor, weiss glühend, eine letzte Hitzeerektion. Das Tier sieht aus wie lebendig im Schreck erstarrt, aber die Frau schabt ungerührt die verkohlten Haare ab, bis es ganz kahl ist. Dann wird sie es zerlegen und die Teile im Wasser kochen, ausser dem Kopf, der mit anderen Affenköpfen zusammen geräuchert wird.

Affenfleisch gilt den Nukak als Delikatesse, und die Jagd auf Affen ist die grosse Leidenschaft der Männer, auch noch jetzt, wo sie von der Regierung versorgt werden. Sie locken die Tiere mit Balzlauten an und schiessen sie mit Giftpfeilen aus dem Blasrohr ab. Die im Pelz von getroffenen Müttern sich festklammernden Babys werden von den Nukak aufgenommen. Sie sind die Spielgefährten der Kinder, sie dürfen an den Brüsten von stillenden Frauen trinken. «Und wenn sie gross sind», frage ich Belisario, «isst man sie ebenfalls?» ­ «Claro.»

Von Juan will ich wissen, wie ein Nukak eine Frau verführt. Wenn diesem ein Mädchen gefalle, antwortet er unkompliziert, gebe er ihr Essen, sie ziehe zu ihm und sie schliefen zusammen. «Und wenn er sie sehr liebt», wirft seine Frau ein, «gibt er ihr viel Essen.» ­ «Affenfleisch?» ­ «Affenfleisch und Fisch», sagt Juan. «Was macht die Frau, wenn sie einen Mann will?» ­ «Sie gibt ihm ebenfalls Essen. Fisch und Krebse.» ­ «Kann ein Mann auch zwei Frauen haben?» ­ «Ja. Manchmal verliebt er sich in eine andere. Das kann Streit geben. Und er muss ein guter Jäger sein, damit er alle ernähren kann.» ­ «Was macht der Mann, wenn ihn die Frau verlässt?» ­ «Mein Bruder war einen Monat mit einer Frau zusammen, als sie ihn verliess und zu einem anderen Mann ging. Er wollte ihr Gesicht nicht mehr sehen und nahm Gift. Er liebte sie zu sehr.» ­ «Es gibt wenige Nukak, die Auswahl an Partnern ist klein. Wie war es bei dir?» ­ «Als ich ein Mann wurde, waren zwei Frauen frei. Die eine hatte mir schon als Kind gefallen, und ich hatte gewartet, bis sie die erste Blutung hatte. Die andere ging mit einem anderen.» ­ «Wie alt seid ihr gewesen?» ­ «Er war fünfzehn», antwortet Belisario für ihn, «das Mädchen zwölf.» ­ «Wo machen die Nukak Sex?» ­ «In der Hängematte, nachts. Wer sich daran stört, dass die anderen lachen, geht in den Wald.»

Melancholie aus dem Jaguarknochen

«Wann hast du zum ersten Mal einen Weissen gesehen?», frage ich Dario. Er zeigt mit der Hand die Grösse eines etwa Zehnjährigen an. Dario ist ein nachdenklicher, melancholischer Typ, im Alter von Juan. Sein ursprünglicher Name ist Kenawio, was Gesichtsbemalung bedeutet. Er schielt leicht, und manchmal spielt er ein paar Töne auf seiner Flöte, einem Jaguarknochen mit bunten Federn. Als ich einmal fragte, ob die Nukak Lieder hätten, sang er in einer Art Muezzin-Falsett ein paar traurig klingende, subtil phrasierte Zeilen. Diese würden sie beim Laufen singen, meinte er, und die Worte seien Erinnerungen an andere Gruppen, die sie schon lange nicht mehr gesehen hätten. «Was dachtest du, als du den Weissen sahst?» ­ «Ich hatte Angst», fährt er fort. «Mein Grossvater hatte mir viel über die Weissen erzählt. Sie würden Nukak jagen, ihnen das Land stehlen und Nukak-Kinder essen.» ­ «Wo kamen die Weissen her?» ­ «Vom Meer.» ­ «Und die Nukak?» ­ «Durch ein gewaltiges Loch. Es gab einen Riesen, Mauroumat, er war auch ein Nukak, aber viel grösser und mit langen Fingernägeln, der grub ein Loch in die Erde. Man fragte ihn, was er da mache. Aber er schwieg und grub immer weiter, viele Monde, und immer tiefer, bis er auf einen Pfad stiess. Dort waren Leute, und die sprangen durch das Loch hoch. Die Nukak waren die Ersten, die oben waren. Die Weissen kamen erst später.» ­ «Es gibt nur noch wenige Nukak.» ­ «Wir waren viel mehr. Aber dann starben die Leute. Sie konnten nicht mehr atmen und nicht mehr essen. Wir wussten nicht, was Grippe ist, und es gab keine Medikamente, wie sie die Weissen haben. Wir sind die letzten Nukak in der Welt.»

Unheimliche Todesfälle

Von der Existenz der Nukak wusste niemand, bis 1988 in Calamar, einer anderen Siedlung im Departement Guaviare, eine ähnliche Truppe auftauchte wie jetzt in San José. Nur waren es damals ausschliesslich Frauen und Kinder, 50 nackte, verängstigte und erschöpfte Eingeborene. Man rief Anthropologen herbei, Linguisten, andere Indianer, aber niemand verstand die Sprache der Frauen. Gewiss war nur, sie mussten Waldnomaden sein, Maku, «Sklaven», wie sie von den sesshaften Flussindianern verächtlich genannt wurden. Sie gehörten einem bisher unentdeckten Volk an. Es war eine Sensation.

Da man nicht weiterwusste, setzte man sie ins Flugzeug, transferierte sie ins abgelegene Departement Vaupés und lud sie mitten im Dschungel aus. Man wusste, dass dort ebenfalls Maku lebten, und hoffte, dass sich die Frauen mit irgendeiner der Gruppen verständigen könnten. Einige Zeit später tauchten sie erneut auf, diesmal im Städtchen Mitu. Inzwischen hatten sich aber Missionare einer nordamerikanischen Sekte gemeldet. Sie könnten helfen, sagten sie, sie wüssten, wer diese Indianer seien. Es stellte sich heraus, dass die Evangelisten seit Jahren eine Missionsstation in einem Gebiet von Indigenen betrieben, die sich Nukak, «Menschen», nannten und denen die Frauen angehörten. Die Prediger hatten auch deren Sprache gelernt, und sie bekamen von den Frauen zu hören, dass sie auf der Suche nach ihren verschollenen Männern waren, geleitet von einem Traum, den die älteste unter ihnen gehabt hatte. Nun wurden sie in ihr Herkunftsgebiet zurückgeflogen, wo sie bald wieder im Halbschatten des Waldes verschwanden. Ob sie ihre Männer gefunden haben und was mit diesen passiert war, blieb ein Rätsel. Diejenigen, die es am ehesten erfahren hätten, die Missionare, wurden einige Jahre später von der Regierung ausgewiesen.

Die Instinkte der Wissenschaftler waren geweckt. In den neunziger Jahren erschienen verschiedene Feldstudien und ein Dokumentarfilm über die «letzten grünen Nomaden». Sie berichteten von einem der ältesten Völker Amerikas, das in kleinen, nichthierarchischen Gruppen von drei oder vier Familien durch die riesigen Wälder schweifte und in perfekter Harmonie mit dem Ökosystem lebte. Die Nukak kannten weder Zahl noch Schrift, dafür jeden Baum und jedes Getier. Sie hatten nur so viel Besitz, wie sie auf ihrer ewigen Wanderung tragen konnten ­ Blasrohr, Hängematte, Rückenbeutel ­, und wenn sie am Abend ruhten, sprachen sie über die Erlebnisse des Tages, zogen sich auf wegen Ungeschicklichkeiten und erzählten sich Geschichten von Waldgeistern und der Erschaffung der Welt durch den grossen Nukak-Gott.

Die Nachrichten der Ethnologen rührten an Sehnsüchte nach paradiesischer Ursprünglichkeit. Die Unesco setzte die Nukak auf die Liste der besonders schutzbedürftigen Humangruppen. Und die kolumbianische Regierung erklärte deren traditionellen Lebensraum zwischen den Flüssen Guaviare und Inírida, ein Gebiet, so gross wie ein Viertel der Schweiz, zum Nationalpark, zum exklusiven Territorium des damals etwa 1200-köpfigen Kleinstvolkes. Dessen Untergang hatte jedoch längst begonnen.

Bald nach den ersten Kontakten mit der Aussenwelt mehrten sich die Todesfälle unter den Nukak. Kleinkinder und Erwachsene über 40 starben mit unheimlicher Häufigkeit an Erkältungen oder Grippe oder Tuberkulose. Ihr Immunsystem war machtlos gegen die Viren der Weissen. Die Begegnungen mit diesen nahmen mit der Ausbreitung der illegalen Coca-Pflanzungen zu. Immer mehr Siedler holzten Urwald nieder, und die Nukak gerieten zwischen die Fronten der Farc-Guerillas, die das Coca-Geschäft kontrollierten, und der Paramilitärs und regulären Truppen, die die Narco-Guerillas bekämpften. Der Druck wuchs, etliche gaben das Nomadisieren auf, verdingten sich als Coca-Pflücker oder liessen sich in der Nähe von Siedlungen nieder. Sie machten Bekanntschaft mit Alkohol und Syphilis, und man sah erstmals Nu- kak-Mütter, deren Kinder helle Augen hatten. Die Gruppe, die diesen März San José erreicht hat, macht etwa ein Fünftel des gesamten heutigen Volks aus. Man schätzt, dass es noch 400 Nukak gibt. Die meisten haben den Wald verlassen.

Wer soll dann noch weinen?

Als ich an einem Abend mit dem Doktor in San José in einem Restaurant sitze, steht plötzlich Monicaro neben uns. «Ich habe Hunger», sagt er auf Spanisch und mustert das Fleischstück des Doktors. Dieser schiebt ihm den Teller zu. Monicaro gehört zur Gruppe von Belisario, ist aber auf eigene Faust schon vor einigen Jahren in die Stadt aufgebrochen. In den vier Tagen unseres Aufenthalts begegne ich ihm immer wieder: im Bürgermeisteramt, auf der Strasse, im Ladenquartier. Er ist ein unruhiger, rastloser Geist, ständig auf der Suche nach Informationen, Essen, Reisemöglichkeiten. Ein Jäger und Sammler ohne Urwald.

«Warum tragen die Nukak jetzt Kleider?», frage ich, «euer Gott Mauroumat hatte auch keine Kleider.» ­ «Mauroumat hat die Menschen und die Tiere gemacht», antwortet er, «aber niemand hat ihm gezeigt, wie man Kleider macht.» Und er fragt zurück: «Wer ist euer Gott?» ­ «Ich habe ihn noch nie gesehen.» ­ «Mauroumat hat die Kraft, Leute wieder lebendig zu machen. Er ist ähnlich wie euer Gott. Vielleicht ist er der gleiche.» ­ «Woher weisst du das?» ­ «Von den Missionaren.»

«Wie machen die Nukak Kinder?» Monicaro setzt zu einer etwas umständlichen Erklärung an, die zusammengefasst besagt, dass man, wolle man Kinder kriegen, Hühnereier in einem Topf mit heissem Wasser kochen müsse. Der Doktor schaut noch ernster als sonst und blättert in einem ethnografischen Buch über die Nukak, das er für mich mitgebracht hat. Dort steht nichts von Monicaros Version. «Ich glaube nicht, was du sagst», meint schliesslich der Doktor leicht ungehalten, «ich werde Belisario fragen.» ­ «Belisario hat keine Ahnung», entgegnet Monicaro locker, «er ist bei den Weissen aufgewachsen. Heute müssen wir zwar Sex machen, um Kinder zu bekommen. Aber früher war dies anders. Unsere Grosseltern haben die Kinder noch mit Hühnereiern gemacht.» ­ «Was ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier?» Monicaro denkt einen Moment über die Frage nach, ist sich aber nicht schlüssig. «Die Nukak essen Tiere», fahre ich fort, «aber keine Nukak.» ­ «Grosse Tiere wie Hirsch und Jaguar essen wir nicht. Sie waren früher Nukak.» ­ «Wieso esst ihr Affen? Sie sehen ähnlich aus wie wir Menschen.» ­ «Bestimmte grosse Affen essen wir auch nicht. Es könnte ein Nemem sein.» ­ «Was ist das?» ­ «Er ist böse, er ist der eigene Schatten. Wenn jemand stirbt, trinkt Nemem das Blut des Sterbenden. Er kommt nur nachts, manchmal nimmt er die Form eines grossen Affen an und schleicht sich um unser Lager herum. Darum essen wir keine grossen Affen. Es könnte ein Nemem sein.» ­ «Warum essen Nukak keine Nukak?» ­ «Dann wirst du dünn und stirbst. Die anderen haben Menschen gegessen. Wir nicht.» Er schaut mich an. «Haben die Weissen wirklich keine Nukak gegessen?» ­ «Nein.» ­ «Aber was ist mit unseren Vorfahren passiert? Die Alten haben gesehen, wie die Weissen Nukak-Kinder gegessen haben. Mein Vater hat es mir erzählt.»

«Wenn die Nukak aussterben, was dann?» ­ «Wenn jemand stirbt, weinen wir Tag und Nacht.» ­ «Wenn alle verschwinden, wer soll dann noch weinen?» Er antwortet schnell und hyperpragmatisch. «Wir können nicht mehr in den Bergen bleiben. Es gibt zu viele Probleme dort. Wir müssen die Weissen nach Häusern fragen, nach Schulen.» ­ «Wenn eure Kinder nur noch Spanisch sprechen und spanische Namen tragen, sind sie dann noch Nukak?» Wieder kommt die Antwort sofort und unsentimental. Die kühle Prosa der Realität. «Wir werden lernen und dann die gleiche Arbeit wie die Weissen machen. Wir wollen nicht mehr laufen.»

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