Basler Zeitung

24.11.2017

Eine Frage der Moral

Ein Land jubelt einem Mörder zu

Von Eugen Sorg

Geschichte ist weniger ein steter Lernprozess hin zu mehr Vernunft und Freiheit, wie es die optimistischen Aufklärer glaubten, sondern eher eine Abfolge von unvorhergesehenen Fiaskos und Massenpsychosen. Die jüngste Variante kollektiver Verrücktheit erleben wir gerade im Zusammenhang mit Harvey Weinstein. Nachdem betroffene Schauspielerinnen den Hollywood-Mogul als übergriffigen und unersättlichen Sexgrüsel geoutet hatten, entwickelte sich eine elektronische Hexenjagd auf weitere Prominente aus Politik und Kultur. Ob eine 30 Jahre zurückliegende Berührung des Knies, ein schlechter Herrenwitz oder eine Vergewaltigung, alles wurde von den angeblichen oder tatsächlichen Opfern als traumatische sexuelle Gewalt dargestellt. Die als Sexunholde beschuldigten Männer hatten keine Chance auf ein faires Verfahren. Die Anklage bedeutete in diesem virtuellen Inquisitionsgericht gleichzeitig das moralische Todesurteil.

Die Weinstein-Hysterie wird bald wieder verklingen und in Vergessenheit geraten, und sollte in zwanzig Jahren jemand darauf zurückblicken, wird er die schrille Erregtheit von damals kaum mehr nachvollziehen können. Aber er wird eine Ahnung davon bekommen, wie schnell sich gesellschaftliche Einstellungen ändern, ohne dass man es selber bemerkt. Und es wird ihm ähnlich ergehen wie einem, der sich heute zum Beispiel mit dem Fall Jack Unterweger befasst, jenem Mann, der in den Achtzigerjahren von der österreichischen Kulturelite hofiert und bejubelt wurde, obwohl er ein Frauenmörder war.

Der 24-jährige Unterweger hatte 1974 eine 18-jährige Zufallsbekannte gefangen genommen, mit einer Stahlrute blutig misshandelt und durch den Wald gehetzt, vergewaltigt, gefesselt, geknebelt und schliesslich mit ihrem Büstenhalter erdrosselt. Ein ritueller Mord eines sadistischen Monsters. Er wurde gefasst und zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt. Unterweger war bereits als Jugendlicher wegen Einbrüchen und Diebstahl auffällig geworden, später wegen Gewalt an Frauen und Zuhälterei. Schon einmal hatte man ihn wegen Mordverdacht festgenommen. Eine junge Frau war in den Salzachsee geworfen worden, gefesselt und lebendig. Unterwegers damalige Freundin gab ihm ein Alibi und er musste laufen gelassen werden. Das Alibi war falsch, wie sich später herausstellte.

Im Gefängnis begann er zu schreiben. Er verfasste den Gedichtband «Tobendes Ich», es folgte die Autobiografie «Fegefeuer», verschiedene Erzählungen, er gab die Literaturzeitschrift «Wort-Brücke» heraus. Die Kulturszene wurde auf ihn aufmerksam und begann, ihn zu lieben. Hochdekorierte Intellektuelle und Künstler, darunter die späteren Nobelpreisträger Elfriede Jelinek und Günther Grass, setzten sich für die vorzeitige Entlassung des angeblich geläuterten Killers ein. Der Staatssender ORF brachte im Kinderprogramm seine «Traummännlein»-Geschichten. Ein Reporter des Senders fasste den euphorischen Kult um den verurteilten Mörder zusammen. Er schwärmte von Unterweger als «Wunder eines Menschen», der sich im Gefängnis «zum Guten verändert» hat und eigentlich das «Opfer einer Kindheit unter gänzlich asozialen Umständen» war, der «zeitlebens nur die Mutter suchte». Unterweger, begabt, manipulativ und skrupellos, hatte die utopischen Sehnsüchte seiner naiven Unterstützer gezielt bedient und diese mühelos getäuscht.

1990 kam er frei. Er war der Star der Society. Sein dandyhafter Auftritt, der auf den linken Oberarm tätowierte Frauenkopf, von dem man flüsterte, er zeige sein erstes Mordopfer, seine Auferstehung aus der Hölle, all das zog seine schicken Gastgeber, insbesondere die Frauen, unwiderstehlich an. Nach 673 Tagen in Freiheit wurde Unterweger wieder verhaftet. Eine Serie von elf Prostituiertenmorden in Österreich, Prag und Los Angeles wurde ihm angelastet, neun davon konnten ihm nachgewiesen werden. Alle waren mit ihrem auf charakteristische Weise geknoteten Büstenhalter stranguliert worden, immer hatte sich Unterweger, viel auf Lesereisen, in der Nähe befunden, und man hatte verräterische DNA-Spuren gefunden. In der zweijährigen Untersuchungshaft erhielt er täglich um die vierzig Briefe von Frauen, oft mit Nacktfotos. Nachdem ihn das Gericht für schuldig erklärt hatte, erhängte er sich in seiner Zelle.

Von seinen Förderern hat sich kaum einer für die katastrophale Fehleinschätzung entschuldigt. Die Formen der kollektiven Tollheit ändern sich, die Menschen aber bleiben sich gleich.

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