Basler Zeitung

27.10.2017

Eine Frage der Moral

«Ich hatte Angst, dass er mich tötet»

Von Eugen Sorg

Letzte Woche reichte die 39-jährige Französin Henda Ayari gegen den islamistischen Schriftsteller Tariq Ramadan eine Klage ein wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung und Einschüchterung. Die Nachricht ging um die Welt. Ramadan, gebürtiger Genfer, war vor einigen Jahren von der Zeitschrift Time zu einer der weltweit einflussreichsten Geistesgrössen gewählt worden. Der charismatische Redner und Vielschreiber gehört sozusagen zum muslimischen Hochadel. Sein Grossvater Hassan al-Banna gründete 1928 die Muslimbruderschaft, die Urmatrix des politischen Islamismus. Deren Ideologie ist ein totalitäres Amalgam aus koranischer Utopie und Nazi-Ideologie (al-Banna verehrte Hitler).

Lange eine winzige Organisation, wuchs die Bruderschaft zu einer mächtigen politischen und ideellen Kraft in der muslimischen Welt heran. Alle terroristischen und todessehnsüchtigen Dschihadisten-Verbände wie al-Qaida, Hamas, Algerische Heilsfront, Boko Haram, IS wurden durch sie inspiriert. Der Genfer Ramadan distanzierte sich nie konkret von seinem fanatischen Grossvater, sondern schwärmte vielmehr von dessen «tiefem Glauben», der «Innigkeit seiner Beziehung zu Gott», den «einfachen und brillanten Lehren». Als grösste intellektuelle Leistung des Enkels muss wohl gewertet werden, dass es ihm gelungen ist, einem Teil der westlichen Meinungseliten erfolgreich vorzugaukeln, er vertrete einen «moderaten, europäischen Islam».

Wie Ramadan und sein mutmassliches Vergewaltigungsopfer Henda Ayari sich kennenlernten, erzählt diese in ihrem 2016 erschienenen Buch «J’ai choisi d’être libre». Darin beschreibt Ayari ihre unschöne Kindheit in einem konservativen muslimischen Elternhaus, ihr Abdriften als 20-Jährige in eine salafistische Sekte, ihre Ehe mit einem frommen tunesischen Prügelpatriarchen, «ich war eine lebende Tote», ihre langsame Befreiung von Prügelmann, Schleier und religiöser Stumpfsinnigkeit. Und in dieser Zeit der verwirrlichen Ablösung, schreibt sie im Buch, habe sie im Frühjahr 2012 auf Facebook einen bedeutenden «muslimischen Intellektuellen» kennengelernt.

Er ein gefeierter und verehrter Theologe, sie verunsichert, depressiv und nach Orientierung suchend, entwickelt sich zwischen den beiden eine Art Vertrauensbeziehung, zumindest aus ihrer Sicht, und sie scheint sich in ihn zu verlieben. Als er wegen einer Konferenz nach Paris reist, lädt er sie in sein Hotel ein. Henda willigt sofort ein, obwohl sie etwas irritiert ist, als er sagt, sie solle möglichst diskret auf sein Zimmer kommen.

Dann laufen die Dinge aus dem Ruder. Gleich nach der Begrüssung, so ihre Erzählung, umarmt er sie, küsst sie, flüstert ihr schmeichelnde Dinge ins Ohr. Sie ist überrumpelt, einen Moment lang geniesst sie es, dann beginnt sie abzuwehren, er wird grob und vulgär, sie schreit, er solle aufhören, er beleidigt und bedroht sie und verpasst ihr Ohrfeigen. Dann greift er an. «Ich sah in seinen wahnsinnigen Augen, dass er nicht länger Herr seiner selbst war. Ich hatte Angst, dass er mich tötet.»

Als sie später das Hotelzimmer wieder verlässt, gedemütigt, verspottet, erniedrigt, bemerkt sie, dass ihr der Vergewaltiger Geldscheine in die Tasche gesteckt hat. «Als wäre ich eine Prostituierte.»

In Ayaris Buch heisst der Peiniger Zoubeyr. Dass sich dahinter Tariq Ramadan verbirgt, hat sie, ermutigt durch den Weinstein-Skandal, erst vor einer Woche auf Facebookenthüllt. Vorher hat sie Angst gehabt. Als sie Ramadan nach dem Vorfall gesagt habe, sie wolle eine Anzeige machen, habe dieser ihr düster gedroht. Man würde sich ihrer Kinder annehmen, und er habe «sehr mächtige Leute», die ihn unterstützen.

Es besteht kein gewichtiger Grund, Ayaris Geschichte nicht zu glauben. Trotzdem wird sie vor Gericht kaum Aussicht auf Genugtuung haben. Die angebliche Vergewaltigung spielte sich vor fünf Jahren in einem Hotelzimmer ab. Ramadan bestreitet jede Schuld. Aussage steht gegen Aussage. Es gibt keine anderen Zeugen. Hedan Ayari weiss das. Darum hofft sie, dass andere Frauen und Opfer sich melden, um den «perversen Guru» zu entlarven. Denn der Mann, der so gerne als «moralischer und religiöser Führer» die Menschen belehrt, habe eine «beeindruckende Zahl von Geliebten» gehabt.

Der Islam fordert die Todesstrafe für Abtrünnige. Auf den sozialen Medien zirkulieren bereits Todesdrohungen gegen Ayari. Ramadan gilt seinen Anhängern als unantastbare Autorität. Ayari hat ihm gegenüber jeglichen Respekt vermissen lassen. Sie ist eine Abtrünnige.

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