Basler Zeitung

29.09.2017

Eine Frage der Moral

Par ordre de Mutti

Von Eugen Sorg

Im Frühjahr 2016 unternimmt der amerikanische Schriftsteller Tuvia Tenenbom eine Reise kreuz und quer durch Deutschland. Ein halbes Jahr zuvor hat Kanzlerin Angela Merkel in einem eigenmächtigen, historisch beispiellosen Entscheid, sozusagen par ordre de Mutti, die Landesgrenzen aufgehoben. Weit über eine Million Flüchtlinge oder angebliche Flüchtlinge, in der Mehrzahl junge Männer aus Syrien und der übrigen islamischen Welt, strömen nach Deutschland, unregistriert, unkontrolliert. Tenenbom will wissen, wer da wirklich gekommen ist und wie sich die Situation seither entwickelt hat und besucht eine Reihe von Flüchtlingscamps. Er ist ein dicker, lustiger Mann, der gerne mit Leuten spricht und gut zuhört. Und er kann arabisch. Schnell fassen seine Gesprächspartner Vertrauen. Die Geschichten, die sie erzählen, sind traurig, lustig, absurd und haarsträubend.

Ein junger Syrer gesteht ihm, dass er in Wirklichkeit Christ sei, dies aber niemand erfahren dürfe, da er sonst von seinen muslimischen Lagergenossen verprügelt würde. Oder ein Libanese erzählt, dass er mit syrischen Dokumenten, die er von einem Syrer bekommen habe, hierher gereist sei. Weil Landsleute ihm gesagt hätten, Deutschland sei das Beste und weil er ein blondes deutsches Mädchen heiraten und eine Familie gründen wollte. Um die Reise zu finanzieren, habe er sein Restaurant verkauft. Er sei hier in Nachtklubs gegangen, aber die deutschen Mädchen mögen keine Araber und wollten nicht heiraten. Und das Leben im Lager sei schlecht. Jeden Tag gebe es Schlägereien zwischen Syrern und Marokkanern, Afghanen und Iranern. Er vermisse den Libanon, und seine Eltern hätten ihn aufgefordert, zurückzukommen. Aber er habe kein Geld mehr.

Eine 29-jährige Frau aus Syrien hat sich alleine nach Deutschland durchgeschlagen, nachdem ihr Haus vom IS beschlagnahmt worden war. Sie ist verzweifelt und akut selbstmordgefährdet. Sie bräuchte dringend eine psychiatrische Behandlung. Von der Sozialarbeiterin wird ihr gesagt, dass sie mit einer Wartezeit von einem Jahr rechnen müsse. «Es gibt über eine Million Flüchtlinge», sagt diese, «da kann man einfach nichts machen.»

Moralisch geläutert

Andere Flüchtlinge berichten von Messerstechereien in den Camps oder zeigen Tenenbom die stinkenden und verdreckten Gemeinschaftstoiletten, wo teilweise das Klopapier oder gar eine Türe fehlt. Und alle beklagen sich über die Unterbringung in überfüllten, stickigen Zentren, wo Menschen zusammen gepfercht wurden, die sich in ihrer Heimat an die Gurgel gehen, wo keine Privatsphäre möglich ist und wo es nichts zu tun gibt, als herumzusitzen und zu warten. «Hilf mir, hier rauszukommen», wird Tenenbom von einem Palästinenser angefleht, der ein kleines Zimmer in einem für Flüchtlinge umfunktionierten Hundehotel mit einem anderen Mann teilt. Er hat sich das deutsche Paradies anders vorgestellt und will zurück nach Syrien, wo seine Frau und seine beiden Kinder leben.

Merkels einsamer Entscheid wurde von einem grossen Teil der Bevölkerung und von allen Medien bedingungslos unterstützt. Als wären es Popstars empfing man die verdutzten Flüchtlinge mit Teddybären und stehenden Ovationen. Diese Liebe und grenzenlose Barmherzigkeit stand allerdings im Gegensatz zur pitoyablen Situation in den Lagern, die man den Neuankömmlingen zumutet. Man hatte offensichtlich absolut keinen Plan, was mit ihnen anzufangen, und man verlor das Interesse an ihrem Schicksal, waren sie erst einmal im Land.

Was ist los mit den Deutschen, fragt Tenenbom, brauchten sie die Flüchtlinge etwa mehr als diese sie? Er führt Interviews mit Dutzenden von Deutschen, mit Studenten, linken und rechten Politikern, zufälligen Passanten, Kirchenleuten und Flüchtlingshelfern. Allen stellt er die Frage, warum die Deutschen ihrer Meinung nach ungleich mehr Flüchtlinge aufgenommen haben als alle anderen europäischen Länder, und alle geben dieselbe Antwort: Wegen der «Geschichte», wegen «Adolf Hitler».

Wie ein Schatten liegt der Judenmord noch immer auf der deutschen Seele, und die kopflos exaltierte Willkommenspolitik, so Tenenboms Fazit seines packenden Reiseberichts «Allein unter Flüchtlingen», erlaubte es, der ganzen Welt zu zeigen, dass man sich moralisch geläutert hat, dass die Deutschen heute gute, wenn nicht gar die besseren Menschen sind. Es ging nicht um die Asylsuchenden, sondern um das Abtragen von eigener Schuld, um den pathetischen, illusionären und politisch folgenschweren Versuch der Selbstheilung einer Nation.

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