Die Weltwoche

09.07.2020

Eine Frage der Moral

«Faschistische Mehrheitsschweine»

Von Eugen Sorg

Zahlen widerlegen das Glaubensaxiom eines strukturellen, systemischen, tief verwurzelten weissen Rassismus und bedrohen die Vorteile, die ein Status als Opfer mit sich bringt.

Tony Timpa, 32, rief von einem Parkplatz in Dallas, Texas, die Polizei um Hilfe an. Es war August 2016, und er war aufgewühlt und agitiert. Anstatt seiner Psychopharmaka hatte er Drogen zu sich genommen und hatte nun Angst, er könnte sich etwas antun. Als die Cops eintrafen, war der unbewaffnete Tony von den Sicherheitsleuten eines nahen Geschäfts bereits mit Handschellen ausser Gefecht gesetzt worden. Trotzdem zwangen ihn die Beamten, sich Gesicht voran ins Gras zu legen, wobei einer von ihnen sein Knie in Tonys Rücken drückte. Die Aufnahmen einer Körperkamera zeigen entspannte Cops, die Witze reissen, während der verwirrte, um sein Leben flehende Tony immer schwächer wird, bis er nach unerträglich langen dreizehn Minuten aufhört zu atmen und stirbt.

Nicht viele Leute haben das Video von Tony Timpas schrecklichem Tod gesehen. Sein Fall blieb ein lokales Ereignis, sein Name ging vergessen. Dies im Gegensatz zu jenem von George Floyd, der vor einigen Wochen in Minneapolis unter den gleichen Umständen ums Leben gekommen ist. Die achteinhalb Minuten dauernde Aufnahme des unter einem Polizistenknie elend erstickenden 46-Jährigen ging um die Welt und löste wütende Proteste aus. Die Vereinten Nationen kritisierten die USA, der Papst betete für die Seele des Verstorbenen, in Deutschland und anderswo wurden Strassen nach ihm benannt. Floyd, ein Berufskrimineller, wurde zum Märtyrer gesalbt. Man muss kein Hellseher sein, um die komplett unterschiedlichen Reaktionen auf zwei identische Vorfälle zu verstehen. Timpa war weiss, Floyd war schwarz.

Nur Letzterer passte in die von der radikalen Schwarzenbewegung «Black Lives Matter» und den linksliberalen Eliten beschworenen Erzählung: Amerika gründe auf Sklaverei und sei bis heute ein zutiefst rassistisches Land geblieben. Weisse Vorherrschaft, weisse Privilegien aufrechtzuerhalten sei das wahre Ziel der herrschenden Politik, das nationale Zentralmotiv, das das Leben der Amerikaner bis in den Alltag, bis in die Gedanken hinein bestimme. Aus dieser Perspektive war die Tötung des Afroamerikaners Floyd durch einen sadistischen Cop nicht ein schlimmes Einzelereignis, sondern eine Emanation der korrupten Seele Amerikas, ein Akt der Lynchjustiz in der geheimen, aber ungebrochenen Tradition des weissen Sklavenhalterstaates. «Das Problem mit der Polizei ist nicht», schrieb der schwarze Kultautor Ta-Nehisi Coates, «dass das alles faschistische Schweine sind, sondern dass unser Land von Mehrheitsschweinen regiert wird.»

Der schwere Vorwurf einer durch stille Duldung der weissen Gesellschaft gedeckten rassistischen Polizeigewalt gegen wehrlose Schwarze hat einen Mangel: Er stimmt nicht mit der Realität überein. Zahlen und Studien erzählen eine andere Geschichte. Gemäss einer Datenbank der Washington Post wurden 2019 in Amerika mit seinen 330 Millionen Einwohnern 56 unbewaffnete Amerikaner von der Polizei erschossen. 9 davon waren Schwarze, 19 waren Weisse, die übrigen 28 gehörten sonstigen Minderheiten an. 2018 wiederum wurden 7407 Schwarze Opfer eines Mordes. Über 90 Prozent der Täter waren ebenfalls Schwarze. Angenommen, die Zahlen für 2019 bleiben in etwa gleich, bedeutet dies, dass Schwarze für andere Schwarze statistisch eine tausendmal grössere Gefahr darstellen als schiesswütige Cops. Bestätigt wird dies durch umfassende neuere Studien zur Polizeigewalt, darunter diejenige des afroamerikanischen Harvard-Ökonomen Roland G. Fryer: Rassistische Vorurteile, so die Befunde, spielen keine entscheidende Rolle bei tödlichen Schüssen aus Polizeiwaffen.

Ausserdem sanken die Kriminalitätsraten laut dem Pew Research Center seit den neunziger Jahren kontinuierlich. Die Gewalt- und Eigentumsverbrechen halbierten sich, mit ihnen verringerte sich die überproportional hohe Zahl schwarzer Gesetzesbrecher und Gefängnisinsassen. Verantwortlich für diesen Erfolg, der die schwarzen Communitys sicherer gemacht hat, ist die intelligente und oft brandgefährliche Arbeit der verteufelten städtischen Polizei.

Solche Nachrichten aus der Welt der kalten Fakten rufen bei den Schwarzaktivisten und deren weissen Gesinnungsgenossen Wut, Geschrei und Drohungen hervor. Sie widerlegen das Glaubensaxiom eines strukturellen, systemischen, tief verwurzelten weissen Rassismus und bedrohen die Vorteile, die ein Status als Opfer mit sich bringt. Die Leugnung der Realität stand schon am Ursprung von «Black Lives Matter». 2014 wurde in Ferguson, Missouri, der achtzehnjährige Michael Brown von einem weissen Polizisten erschossen. Angeblich nur, weil er schwarz war. Das ganze Land wurde von Ausschreitungen und Plünderungen erschüttert. Brown wurde die Gründungsikone von «Black Lives Matter». Posters und Wandmalereien zeigten ihn mit erhobenen Händen und der Bitte: Nicht schiessen!

Eine 86-seitige Untersuchung des Justizdepartements von Präsident Obama wies nach, dass Brown weder die Hände erhoben noch um sein Leben gefleht hatte. Vielmehr hatte Brown, ein Koloss von Mann, einen Raubüberfall verübt, darauf den Streifenpolizisten, der ihn kontrollieren wollte, geschlagen und versucht, diesem die Pistole zu entreissen, war geflüchtet, wieder umgekehrt und auf den Cop zugestürmt, der ihn vergeblich aufforderte, stehen zu bleiben. Die Kugeln, die Brown töteten, wurden zur Selbstverteidigung abgefeuert. Der Polizist blieb zu Recht im Dienst.

«Antirassismus ist der Kommunismus des 21. Jahrhunderts», meinte der französische Philosoph Alain Finkielkraut. Er könnte recht haben.

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