Die Weltwoche

11.06.2020

Eine Frage der Moral

Versuchungen der Macht

Von Eugen Sorg

Vielleicht ist heute die grösste Gefährdung der Freiheit – neben der Angst – deren Selbstverständlichkeit. Dies zeigt die Corona-Episode.

Die Corona-Krise ist am Ausklingen, die grosse Katastrophe ist nicht eingetreten. Die Zahl der Neuansteckungen ist überschaubar und minim, die Intensiv-stationen mit den Beatmungsgeräten stehen leer, die Soldaten sind zurück in der Kaserne. Medizinisch ist die Pandemie unter Kontrolle. Und doch zögert der Bundesrat, das drakonische Seuchenregime wieder ganz aufzuheben. Aus verantwortungsvoller Umsicht? Aus Gründen der Gesichtswahrung, um den Shutdown nicht als überrissene und ruinöse Massnahme aussehen zu lassen? Oder eher aus Unlust, die immense Macht wieder abzugeben, die ihm die Erklärung des Notstandes gemäss nationalem Epidemiengesetz verschafft hat?

Einiges spricht für Letzteres. Macht gehört neben Anerkennung und Sex zu den verführerischsten Suchtmitteln. Und noch nie in der Geschichte der Eidgenossenschaft verfügte eine traditionell biedere Landesregierung plötzlich über vergleichbare, gleichsam monarchische Befugnisse. Sie dekretierte die Schliessung sämtlicher Schulen, Restaurants, Theater und aller übrigen Betriebe wie Buchhandlungen, Kleidergeschäfte, Coiffeursalons, die für die «Grundversorgung nicht notwendig» seien. Sie schrieb auf den Meter genau vor, wie viel Abstand die Menschen beim Gang durch die gespenstisch leeren Städte voneinander halten mussten, und verbot Ansammlungen von mehr als fünf Leuten.

Mit einem napoleonischen Akt paralysierte die Regierung das staatspolitische Herz der Schweiz: Föderalismus, Volksrechte, das einzigartige, in Jahrhunderten ausgeklügelte System der Machtbrechung und geordneten Anarchie.

Die Gefahr ist zwar gering, dass der autoritäre Virenstaat die Epidemie lange überleben wird. Die Verfassung schreibt vor, dass die Notverordnungen spätestens nach sechs Monaten, also diesen Frühherbst, den Volksvertretern unterbreitet und gesetzlich bewilligt werden müssen. Ungemütlich wirkt jedoch, mit welcher Leichtigkeit die grosse Entmündigung eingeführt wurde, mit welch offensichtlichem Gefallen sie von einzelnen Regierungsexponenten durchexerziert und mit welch stiller Verstocktheit an ihr festgehalten wird. Öfter raunten die Krisenregenten in den letzten Wochen bedeutungsschwer von einer «neuen Normalität» in der Post-Corona-Zeit. Es klingt wie eine Drohung.

Wenig beruhigend wirkt auch die Reaktion der Bevölkerung. Weitgehend widerstandslos wurde die Aufhebung grundlegender demokratischer Rechte hingenommen und die staatlich verordnete gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Hungerdiät akzeptiert. Normalerweise braucht es für eine derartige Unterwerfung einen Militärputsch. In diesem Fall genügte die Angst, von einem anfänglich unbekannten Virus angesteckt zu werden, eine archaische Angst, die, von regierungstreuen Medien mit immer neuen Schreckensmeldungen gefüttert, sich schnell zur Massenpanik auswuchs, bis die Leute schliesslich bereit waren, gehorsam einer starken Führung zu folgen. Die Freiheit hat viele Feinde, und Angst, dies eine alte Erfahrung, ist einer der mächtigsten.

Vor bald 500 Jahren verfasste Etienne de La Boétie eine Abhandlung mit dem Titel «Über die freiwillige Knechtschaft des Menschen». Die kleine, knapp fünfzigseitige Schrift des damals erst achtzehnjährigen Autors ist einer der erstaunlichsten und kühnsten Beiträge zur Emanzipation des Individuums aus obskurantistischen und erniedrigenden Verhältnissen. Geschult an der Literatur der Antike und der naturrechtlichen Philosophie seiner Zeit, gesegnet mit einer instinktiven Menschenkenntnis und mit einer mitreissenden Sprache, stellt sich der frühreife Boétie der Frage, wieso der Mensch überall und geduldig sich schinden, ausrauben, unterdrücken, entehren lässt, obwohl er ein «naturgegebenes Recht auf Freiheit» habe.

Als Antwort führt er verschiedene Gründe an: Gewalt, moralische Verderbnis, Täuschung, List und Gewohnheit. Das Kernproblem hingegen sieht er in einer stillen Komplizenschaft zwischen Macht und Unterdrückten. Direkt an Letztere gewandt, schreibt er: «Ihr aber leihet die Augen, die euch beobachten, die Ohren, die euch belauschen, die Hände, die euch schlagen, die Füsse, die euch und eure Städte in den Sand treten.» Um dieses Unglück zu beenden, brauche es nur den Entscheid dazu. «Seid entschlossen, [dem Tyrannen] nicht mehr zu dienen, und ihr seid frei! Ihr braucht ihn weder zu stossen noch zu stürzen, ihr braucht ihn nur nicht mehr zu halten und zu stützen, und er fällt in sich zusammen wie jener Koloss, der sich unter der Last des eigenen Gewichts begräbt, wenn man ihm sein tönernes Bein weghaut.»

In Boéties Essay leuchten die Leidenschaft der Jugend und der Geist der Renaissance. Das Individuum wird sich seiner Grösse, Gestaltungskraft und Autonomie bewusst. Es ist nicht Opfer seiner Verhältnisse, sondern Schöpfer derselben, und es ist grundsätzlich frei, diese zu ändern. Die Freiheit, dieses «herrlichste aller Güter», ohne das «alles verdirbt» und «alle Übel sich einstellen», ist allerdings kein Geschenk, sondern eine Aufgabe, ein historisches Projekt, das immer zu scheitern droht. Boéties Erkenntnisse gelten unvermindert. Die harte Tyrannei der absolutistischen Könige ist zwar durch die sanfte Tyrannei der demokratischen Mehrheiten abgelöst worden, aber die Versuchungen der Macht sind geblieben. Dies zeigt die Corona-Episode. Und vielleicht ist heute die grösste Gefährdung der Freiheit – neben der Angst – deren politische Selbstverständlichkeit. Was ohne Einsatz und Anstrengung zu haben ist, verliert seinen Wert und wird erst dann vermisst, wenn man es verloren hat.

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