Die Weltwoche

20.05.2020

Eine Frage der Moral

Bleistift der Freiheit

Von Eugen Sorg

Es ist absurd: Was als Remedur zur Eindämmung der Pandemie gedacht ist, erweist sich allerorten als grösseres Übel denn die Krankheit selbst.

Es ist ein atemberaubender, ein historischer Vorgang. Die allermeisten Regierungen der Welt rufen den Notstand aus, schliessen Schulen, Universitäten und einen grossen Teil der Wirtschaftsbetriebe und weisen die Bevölkerung an, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Der Grund für diese beispiellosen Massnahmen ist nicht etwa eine Invasion feindlicher Aliens auf der Erde, sondern ein neues, wahrscheinlich von chinesischen Flughunden oder Fledermäusen abstammendes grippeähnliches Virus.

Obwohl bald erkennbar wird, dass das infektiöse Minipartikel in der Regel nur für eine klarbegrenzte Risikogruppe tödlich werden kann – für alte, mehrfach vorerkrankte Menschen, häufig in Spitälern, Alters- und Pflegeheimen, wo man sie gezielt schützen könnte –, fügen sich die Leute auf allen Kontinenten, ohne zu murren, in das Diktat einer generationenübergreifenden Quarantäne. Obrigkeitsglaube, durch Medien befeuerte Panik und archaische Ängste vor einem unsichtbaren Erreger sind stärker als Vernunft und Freiheitsinstinkt.

Das Coronavirus wird besiegt werden. Entweder weil es einfach wieder spurlos verschwindet, wie zu Beginn dieses Millenniums sein aggressiver, ebenfalls chinesischer Verwandter Sars; oder wie vor rund hundert Jahren der Supererreger der tödlichen Spanischen Grippe; oder weil die weltweit fieberhaft arbeitenden Forscher ein Medikament oder einen Impfstoff finden.

Vermutlich weniger schnell wird sich die Wirtschaft erholen. Millionen werden arbeitslos, Betriebe gehen in Konkurs, die globale Wirtschaftsleistung schrumpft, die Staatskassen leeren sich, Wohlstand wird vernichtet. Besonders leiden werden die Länder des Südens. Das World Food Programme der Uno prognostiziert eine Zahl von 260 Millionen Hungernden bis Ende Jahr – doppelt so viele wie im Vorjahr. Indien zum Beispiel verordnet seinen 1,3 Milliarden Einwohnern eine Ausgangssperre und die Schliessung von Abermillionen Läden und Gewerben. Chaos bricht aus, Unzählige sind direkt in ihrer Existenz bedroht. Zum Zeitpunkt des Lockdowns verzeichnet das Land rund 700 Corona-Tote. Aber 450 000 sterben jedes Jahr an Tuberkulose und 10 000 an Malaria. Es ist absurd: Was als Remedur zur Eindämmung der Pandemie gedacht ist, erweist sich allerorten als grösseres Übel denn die Krankheit selbst.

Dass Politiker, Seuchenexperten und Medien einen Hang zu düsteren Prognosen an den Tag legen, hat verschiedene Gründe. Die Beschwörung einer zivilisatorischen Katastrophe kann Ausdruck von Besorgnis sein, verschafft den Staatsvertretern jedoch auch Macht, den Virologen eine prophetische Aura und den kriselnden Medien ein erlösungsbedürftiges Publikum. Dabei stehen die Untergangsorakler immer auf der sicheren Seite. Sterben weniger Menschen als vorausgesagt, wird dies als Erfolg der Abwehrmassnahmen, das heisst des Lockdowns, reklamiert. Sterben mehr als prognostiziert, kann man erklären, dass es ohne Lockdown noch viel mehr Tote gegeben hätte.

Die offensichtliche Kopflosigkeit, mit der in den letzten Monaten der Notstand ausgerufen und der Wirtschaft der Stecker gezogen wurde, kann nicht nur mit Machtfreude, Eitelkeit und Opportunismus der Eliten erklärt werden. Mitgespielt hat auch ein Unwissen über ökonomische Zusammenhänge. Die heute im Westen aktive Politikergeneration ist in einem kapitalismuskritischen Zeitgeist sozialisiert worden. Das Märchen, dass Afrika so arm sei, weil wir so reich sind, wird bis weit in bürgerliche Kreise hinein geglaubt. Das Attribut «wirtschaftsfreundlich» gilt in Journalistenkreisen als Schimpfwort, unternehmerisches Streben nach Profit als anrüchig und die Umverteilung von Vermögen als moralisches Projekt. Und der Lockdown wird als Gelegenheit gesehen, dieses mittels staatlicher Eingriffe voranzutreiben.

Warum der Kapitalismus, die freie Marktwirtschaft, jedoch das erfolgreichste Wirtschaftsmodell ist und – ausgehend von einigen Ländern des Westens – zu einem noch nie gesehenen globalen Wohlstandsschub geführt hat, versuchte der amerikanische Ökonom Leonard E. Read vor über sechzig Jahren in seinem Essay «I, Pencil» («Ich, der Bleistift») zu erklären. Der kurze, prägnant und anschaulich geschriebene Text gehört zu den bekanntesten Texten der Wirtschaftsliteratur. Read zeichnet nach, wie viel Spezialwissen, Technologie, Logistik hinter der Produktion eines einfachen Bleistifts steckt. Bestimmte Bäume müssen gefällt werden, dazu braucht es Sägen aus gehärtetem Stahl, Lastwagen, Seile, Eisenbahnverbindungen, Sägewerke, wo die Stämme mit Präzisionswerkzeugen in Stäbchen geschnitten, getrocknet, gefärbt werden. Später mit in Sri Lanka gefördertem und in die USA verschifftem Grafit versehen, der allerdings noch mit verschiedensten Stoffen verarbeitet werden muss, bevor er sich als Schreibmine eignet. Man benötigt Ton vom Mississippi, Rapsöl aus Indonesien, Bimsstein aus Italien, Messing aus Zink- und Kupferminen.

Hunderttausende Menschen sind auf irgendeine Weise an der Herstellung des simplen Stifts beteiligt. Kein einzelner Mensch hätte das Wissen, dieses erstaunliche Werk alleine zu schaffen, schreibt Read. Noch erstaunlicher sei es, dass hinter all den unzähligen Aktionen kein Planer oder führender Kopf stehe. Die hochkomplexe Schöpfung sei das Resultat der kreativen Kraft der Menschen, die, wenn sie frei und ungehindert ausprobieren können, geeignete Antworten auf die Notwendigkeiten und Bedürfnisse des Lebens finden. Bessere Antworten, als Chefbürokraten, staatliche Experten und Wirtschaftsgelehrte je geben können. Reads Aufsatz sollte Pflichtlektüre für alle angehenden und aktiven Politiker sein.

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