Basler Zeitung

07.12.2012

Gespräche in Tunesien

Im Land der Abenteuermigranten

Von Eugen Sorg

Wer schon einmal Flüchtlinge getroffen, mit ihnen geredet und in ihre Augen geschaut hat, vergisst die Begegnung nicht mehr. Es sind Menschen, die aus der Hölle des Krieges kommen, die knapp dem Tode entronnen sind, die erlebt haben, wie ihre Häuser niedergebrannt, ihre Nachbarn, Angehörigen oder sie selber von Milizionären beschossen, geschlagen, vergewaltigt wurden. Sie haben unter Furcht und Zittern die rettende Grenze erreicht und sind froh, dass sie auf der anderen Seite nicht getötet werden. Sie sind dankbar für die elementarsten Dinge, eine schützende Plache gegen die Nässe oder den Staub, etwas Mehl, Öl, Salz, sauberes Wasser, einen Gruss ohne Drohung.

Einen völlig anderen Auftritt hatten die Tausenden von Nordafrikanern, mehrheitlich Tunesier, die seit Anfang letzten Jahres nach Europa und in die Schweiz gekommen waren, um hier einen Asyl­antrag als Flüchtlinge einzureichen. Viele der jüngeren Männer fielen auf durch aggressives, asoziales, unverschämtes Verhalten. Sie brachen am helllichten Tag Autos auf, sie rollten Einkaufswägelchen voll mit Fleisch und Wodkaflaschen an der Kasse vorbei und schlugen routiniert und kaltblütig jeden nieder, der sie aufhalten wollte. Sie betätigten sich als Taschen- und Trickdiebe, stiegen in Wohnungen ein, und manche junge Frau gab auf dem Polizeiposten weinend zu Protokoll, sie sei von einem oder zwei Nordafrikanern vergewal­tigt worden.

Die Tunesier trieben zusammen mit den Marokkanern und Algeriern die Kriminalitätsrate der Asylbewerber markant in die Höhe. Die Polizei hatte einen frustrierenden Job: Sie verhaftete einen delinquierenden Asylbewerber, musste ihn nach der Befragung wieder laufen lassen, um ihn kurze Zeit später wegen einer weiteren Straftat wieder zu verhaften. Die Behörden einzelner Kantone reagierten mit verschärften Massnahmen: Handyverbot für Asylbewerber, um die Absprache von Diebestouren zu unterbinden; geschlossene Türen bei der Asylunterkunft ab 22 Uhr statt wie vorher um Mitternacht; Rayonverbote bezüglich Bahnhöfe und Einkaufszentren. Es ist nicht anzunehmen, dass diese Verordnungskosmetik auch nur einen einzigen Asyltunesier beeindruckt und eine einzige Straftat verhindert hat. Die seltenen Male, als Journalisten die Asylbewerber nach den Motiven ihres Handelns fragten, erhielten sie eine unverblümte Antwort: «Wir holen uns, was uns zusteht.»

Sogar glaubensstarke Drittwelt- und Sozial­romantiker kamen etwas ins Grübeln ob der amoralischen Dreistigkeit der den Schutzschirm des mit teuren Steuergeldern finanzierten Asylrechts ausnützenden Gäste.

Der Unmut wurde noch verstärkt durch den Umstand, dass in deren Heimat gar kein Krieg herrschte. Im Gegenteil, der sogenannte Arabische Frühling hatte gerade in Tunesien die Diktatur beseitigt. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte waren die Menschen dort frei und hatten die Möglichkeit, den Verlauf ihres Schicksals selber zu bestimmen. Die tunesischen Asylbewerber waren keine Flüchtlinge. Aber was waren sie sonst? Warum waren sie nach Europa gekommen? Um Arbeit zu suchen? Oder waren sie Abenteuer-Migranten, wie sie der Basler Chefbeamte Thomas Kessler leicht beschönigend getauft hatte?

Bei einem kürzlichen Aufenthalt in Tunesien konnte ich mich mit verschiedenen Einheimischen unterhalten.

Khaled, Taxifahrer mit Ökonomiestudium, eine elegante Erscheinung um die 30, meinte, dass die allgemeine Situation im Lande viel besser geworden sei. Seit man Diktator Ben Ali davon­gejagt habe, müsse man keine Angst mehr haben, was man sage, man sei frei. Er erzählte von der Revolution, von seinem abgeschlossenen Ökonomiestudium, von seinen Plänen, und als ich ihn nach einer Weile fragte, ob er von den Problemen gehört habe, die einige seiner Landsleute in der Schweiz und in Europa verursacht hätten, wechselte er unvermittelt das Thema und begann über Leila Trabelsi zu schimpfen, die wegen ihrer Raffgier im Volk verhasste Frau des gestürzten Ben Ali. Sie sei eine Prostituierte und eine Diebin, weshalb sie jetzt in Saudi-Arabien lebe, denn die Prinzen liebten Huren, und jedesmal, wenn ich wieder nach den anderen Landsleuten fragen wollte, intensivierte er seine Tirade gegen die «räudige Hündin und geldgeile Nutte».

Ich gab es auf.

Auch meine weiteren Gesprächspartner hatten offensichtlich keine Lust, über ihre ungeliebten Compatriotes zu reden. Abdul beispielsweise, 45-jähriger Betreiber eines kleinen Lebensmittelgeschäftes, der als junger Mann in Winterthur die Hotelfachschule absolviert hatte, fabulierte plötzlich von den ultrareligiösen Salafisten, als ich ihn nach den Asylbewerbern fragte. Es seien alles Salafisten, die in die Schweiz reisen würden. Sie hätten dort ihr Geld versteckt.

War es Abdul und den anderen unangenehm, über die Asylauswanderer zu sprechen? Oder hatten sie von diesen Geschichten noch nie etwas gehört?

Der Erste, der nicht sofort das Thema wechselte, war Mahmud, einer der Manager des kleinen Hotels in Tunis, wo ich abgestiegen war, und mit dem ich oft plauderte, wenn er in der Lobby war. Doch, meinte er, die meisten Leute wüssten um die Probleme. Aber sie schämten sich für ihre Landsmänner, die den Ruf und die Ehre des Landes beschmutzen würden. Ob die jungen Tunesier in die Schweiz gereist seien, um Arbeit zu suchen? Nein, meinte Mahmud sofort, die wollten nicht arbeiten, die wollten das schnelle Geld. Die meisten gehörten zum Gesindel, man erkenne sie sofort: Die rohen Umgangsformen, die grobe Sprache. Sie schlafen, wenn die anderen zur Arbeit gehen, und sie stehen auf, wenn die anderen von der Arbeit kommen.

Nicht wenige sassen im Gefängnis und wurden von Ben Ali freigelassen, als er gestürzt wurde. Oder sie arbeiteten für ihn als Spitzel und Schläger. Er wundere sich, warum die Europäer solche Leute überhaupt ins Land hineinliessen. Hier in Tunesien, lachte Mahmud, freue man sich jedenfalls, dass man sie losgeworden sei.

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