Basler Zeitung

26.09.2012

Wie die Familie Tinner aus dem Rheintal in das Räderwerk der Weltpolitik geriet

Im Maschinenraum der Geschichte

Von Eugen Sorg

Gestern hat das Bundesstrafgericht in Bellinzona das Urteil im Fall ­Tinner verkündet. Es ist das Resultat eines Deals, der auf Initiative der ­Tinners nach monatelangem Feilschen zwischen der Bundesanwaltschaft und den Angeklagten vereinbart wurde. Der 76-jährige Vater Friedrich Tinner und seine zwei Söhne Urs (46) und Marco (43) bekannten sich, vermutlich «contre cœur», schuldig, zwischen 1998 und 2003 gegen das Kriegsmaterialgesetz verstossen zu haben. Eine lange und leidvolle Zeit nimmt damit für sie ein Ende. Der Bundesanwaltschaft wiederum, vor allem Staatsanwalt Peter Lehmann, der die Untersuchung geführt hatte, erlaubte der Deal, das Gesicht zu wahren. Tatsächlich hätte es gar nie zu einer Anklage kommen dürfen, nachdem der Bundesrat aufgrund eines beispiellosen Geheimbeschlusses im Februar 2008 alle Akten zum Fall Tinner hatte vernichten lassen.

Hinter dem Deal verbirgt sich aber eine Erzählung, die viel grösser ist als die juristischen Schachzüge und die darin verwickelten Figuren und deren gesamten Details und Abgründe wahrscheinlich nie ans Licht kommen werden. Es ist die Geschichte eines kleinen Fami­lienunternehmens aus dem Rheintal, das sich in den Maschinenraum der Weltgeschichte verirrte und in der dort herrschenden Hitze beinahe verbrannte.

2003 war globalpolitisch ein wenig erfreuliches Jahr für Amerika und den Westen. Die Invasion im Irak hatte zwar zu einem raschen Sturz des Diktators Saddam Hussein geführt, doch die Alliierten sahen sich bald mit einer Welle von Terroranschlägen konfrontiert, die das Land in einen Bürgerkrieg zu reissen drohten. In Afghanistan wiederum begannen sich die nach dem 11. September 2001 entmachteten Taliban neu zu formieren und das Land am Hindukusch abermals mit Gewalt zu überziehen. Osama bin Laden war entkommen und er rief per Ton- und Videobotschaften die Muslime zur Zerstörung der westlichen Welt auf. Begleitet wurde die Entwicklung von einer zunehmenden Angst vor globaler atomarer Aufrüstung. Es war bekannt geworden, dass Iran seit 20 Jahren ein Atomprogramm vorangetrieben hatte, das der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) verheimlicht worden war. In derselben Zeit gab das totalitäre Nordkorea die Existenz eines klandes­tinen Atomwaffenprojekts zu und trat aus dem Atomwaffensperrvertrag aus.

In dieser bedrückten Stimmung überraschte US-Präsident George W. Bush kurz vor Weihnachten 2003 mit einer spektakulären Nachricht. Er habe ein «Ereignis von grosser Bedeutung» anzukündigen, sagte er, als er am 19. Dezember vor die Presse trat. Der libysche Diktator Oberst Gaddhafi werde seine Programme zur Produktion von Massenvernichtungswaffen offenlegen und stoppen. Das war ein frappanter Abrüstungserfolg, erreicht ohne blutigen Krieg wie im Irak und ohne jahrelange vergeblichen diplomatischen Seiltänze wie in den Fällen Nordkorea oder Iran. Warum hatte mit Gaddhafi einer der unberechenbarsten und gefährlichsten Diktatoren plötzlich die Waffen gestreckt?

Kurz zuvor hatten amerikanische und britische Geheimdienstler einen unter deutscher Flagge fahrenden Frachter mit Kurs auf Libyen abgefangen. An Bord fanden sie fünf Container, an­geschrieben mit «Landwirtschaftliche Geräte», aber gefüllt mit Präzisions­teilen, die zur Urananreicherung für Atomwaffen gebraucht werden. Nicht bloss Gaddhafis Atomrüstungsprogramm war damit entlarvt. Auch die Mittelmänner und Produzenten der Güter wurden identifiziert. Einer der Mittelsmänner war B. S. A. Tahir, ein Geschäftsmann aus Sri Lanka, dessen Computer- und Maschinenteilefirma zuerst in Dubai und später in Malaysia Präzisionsteile für Urananreicherung herstellte. Und immer deutlicher wurde erkennbar, dass hinter den Lieferanten Gaddhafis ein weltumspannender Atomschmuggelring wirkte, in dessen Zentrum der Pakistaner Dr. Abdul Qadir Khan stand, der «Vater der ­islamischen Atombombe», für einige der «gefährlichste Mann der Welt».

Was damals noch niemand wusste: Entscheidend für den Geheimdiensterfolg war ein Spion, der mitten in Khans Netzwerk platziert war. Im Agentengeschäft ist die Wahrung der Anonymität von Spionen essenziell, auch über die Zeit der Aktivität hinaus. Wenige Wochen nach dem Schlag gegen ­Gaddhafi war der federführende Agent enttarnt. Sein Name war am 13. Februar 2004 in der «New York Times», zu lesen. «Die CIA hatte die Fabrik (von B. S. A. Tahir) infiltriert, wo einer der Techniker des Nuklearnetzwerks über die Produktion der Präzi­sionsteile wachte – unter den Arbeitern bloss unter dem Namen Tinner bekannt.»

«Tinner» war Urs Tinner, talentierter Mechaniker aus dem sankt-gallischen Haag, der älteste Sohn von Friedrich. «Tinner gab uns die endgültige Möglichkeit, zu wissen, was das Netzwerk tat», wird ein ehemaliger Mitarbeiter der CIA zitiert, der für die Kooperation mit dem Rheintaler verantwortlich war. Khan benutzte Dubai als Drehscheibe für die Lieferung von Nukleargütern an Staaten mit illegalen Atomprogrammen. Dank Tinner habe die CIA detaillierte Berichte über diesen Waren­verkehr erhalten. «Wir wussten, was die Libyer erhielten. Wir wussten auch, was nach Iran ging.»

Nach einer Mechanikerlehre in einem Betrieb in der Region hatte der junge Urs Tinner in die Firma seines Vaters gewechselt. Das auf Vakuumtechnologie spezialisierte Kleinunternehmen erwarb sich einen ausgezeichneten Ruf und gewann Kunden aus aller Welt. Der Vater, ein Ingenieur und begabter Er­finder, entwickelte neue Hochdruckventil-Typen, Urs ein grenzgenialer Tüftler, montierte und testete die Prototypen, Marco war der Elektroniker und Finanz­spezialist. Die Familie belieferte unter vielen anderen die Europäische Weltraumbehörde ESA, das Max-Planck-Institut, das Cern bei Genf und eben auch den charmanten, weltläufigen pakistanischen Ingenieur Dr. Khan, den Vater Tinner aus den Siebzigerjahren kannte, als jener noch Angestellter der Urenco in Holland war. Die Tinners meldeten ihre Exporte jedes Jahr dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und erhielten regelmässig eine Bewilligung.

1999 zog Urs Tinner nach Dubai, wo er in der Firma von Tahir eine Stelle als Ausbildner für Schweisser und Mechaniker antrat. Er hatte eine unschöne Scheidung hinter sich und einen ­Haufen Schulden und suchte einen Neuanfang. In Dubai lernte er auch Dr. Khan näher kennen, der schon länger wieder Europa verlassen hatte und für Tahir arbeitete. Als Tahir plötzlich eine neue Firma in Malaysia gründete, folgte Urs ihm nach, wobei der Kontakt zu Khan nicht abbrach. Wie die Ver­bindung mit der CIA zustande kam, darüber gibt es verschiedene Darstellungen. Amerikanische Autoren wie Catherine Collins oder Ron Suskind schreiben, dass die CIA die Tinners aktiv angeworben habe, während Urs Tinner darauf besteht, nach Rück­sprache mit der Familie freiwillig und von sich aus die Verbindung zum Geheimdienst gesucht zu haben, nachdem er realisiert habe, dass Khan illegale Atomgeschäfte betrieb. Einig sind sich aber alle darin, dass die CIA und die Tinners über geraume Zeit eng zusammengearbeitet haben, dass die Informationen des Rheintalers für den Geheimdienst und letztlich für den Gang der Weltpolitik relevant und deren Beschaffung für Tinner lebens­gefährlich waren.

Kurz nach Auffliegen des Atomnetzwerks im Oktober 2003 verliess Urs Tinner Tahirs Firma und kehrte nach Europa zurück. Seine Arbeit war getan. Während Bush und Blair den sensationellen Erfolg feierten – den einzigen in einer langen Zeit –, begann für die Tinners die dunkelste Phase ihres Lebens. Auf einer Reise nach Deutschland im Oktober 2004 wurde Urs Tinner ver­haftet. Acht Monate wurde er von den deutschen Behörden zum Khan-Netzwerk verhört und anschliessend an die Schweizer Behörden überstellt. Im Oktober 2005 nahm die Bundesanwaltschaft auch Friedrich und Marco fest. Vor ihnen lag ein jahrelanger Weg durch verschiedene Gefängnisse, meistens in Einzelhaft, eine einsame Zeit, die nur durch gelegentliche beschwerliche und teilweise demütigende Transporte nach Bern oder Zürich zwecks Befragungen unterbrochen wurde.

Im Februar 2008 sassen die Tinner-­Brüder bereits seit 40 Monaten in Untersuchungshaft, ohne dass eine Anklage erhoben worden wäre. Da wurde bekannt, dass der Bundesrat beschlossen habe, sämtliche Tinner-­Unterlagen zu vernichten. «Es galt unter allen Umständen zu vermeiden, dass diese Informationen in die Hände einer terroristischen Organisation oder eines unberechtigten Staates gelangten», begründete der damalige Bundespräsident Pascal Couchepin den Entscheid. Unter den Akten hätten sich verschlüsselte Pläne zum Bau von Atomsprengköpfen befunden. Eine Rolle hatte bestimmt auch der Druck aus den USA gespielt, die verhindern wollten, dass Details und Namen aus ihren Geheimdienstoperationen im Zuge eines Gerichtsverfahrens an die Öffentlichkeit gedrungen wären.

Gewiss war aber an einen fairen Prozess gegen die Familie nicht mehr zu denken. Alle belastenden oder entlastenden Beweise waren zerstört. Gleichwohl dauerte es nochmals beinahe ein Jahr, bis Urs und Marco schliesslich aus der Haft entlassen wurden. Und trotzdem wurde im Nachhinein noch eine Anklageschrift zusammengezimmert. Eine unverständliche Aktion, auch angesichts der Leistungen der Tinners. «Die Gespräche mit den Tinners brachten viel Licht in die Operationen des Khan-Netzwerkes und dessen Geschäfte mit den Libyern. Der Beitrag der Tinners war ausschlaggebend dafür, das Urananreicherungsprogramm von Oberst Gaddhafi zu stoppen.» Dies sagt Oli Heinonen, ehemaliger Chefinspektor der IAEA. Die IAEA und ihr Chef Mohamed El-Baradei erhielten 2005 den Friedensnobelpreis, vor allem für ihre Erfolge bei der ­Zerschlagung des Atomnetzwerkes von Dr. Khan und des libyschen Atomwaffenprogramms.

Ende Oktober 2012 erscheint «Wie ich Gaddafis Bombe verhinderte», Eugen Sorg und Urs Tinner, Verlag Nagel & Kimche.

Während Bush den Erfolg feierte, begann für Tinners die dunkelste Phase ihres Lebens.

Es hätte nie zur Anklage kommen dürfen, nachdem alle Akten vernichtet wurden.

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