Basler Zeitung

11.04.2014

Der Völkermord von Ruanda ist eine rätselhafte Monstrosität geblieben

Kakerlakenjagd

Von Eugen Sorg

Auf der ganzen Welt wird in diesen Tagen an den Völkermord von Ruanda erinnert. Vor 20 Jahren hatte sich der Mehrheitsstamm der Hutu aufgemacht, das Minderheitsvolk der Tutsi auszurotten. Hundert Tage hatte das Töten gedauert, das vor allem mit Macheten und Knüppeln ausgeführt wurde und rund eine Million Opfer forderte. Einer der «dunkelsten Momente in der Geschichte der Menschheit», beschied UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon vor wenigen Tagen anlässlich einer Gedenkfeier in der ruandischen Hauptstadt Kigali, und Politiker, Würdenträger, Kommentatoren aus allen Ländern verkündeten einstimmig, dass sich «Ruanda nie mehr wiederholen darf».

Die Beschwörungen und Trauerminuten waren ernst gemeint, aber sie wirkten trotzdem ritualartig und hohl. Nach Ruanda hatten sich ­vergleichbare Massaker ereignet, in Darfur etwa, und zum selben Zeitpunkt, als Ban Ki-Moon am Reden war, wurden in Kongo, in der Zentralafrikanischen Republik, in Syrien Völkergruppen gejagt und erschlagen, ohne dass die internationale Gemeinschaft eingeschritten wäre. Und der ganze zeremonielle Ernst konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Genozid von Ruanda eine intellektuell und moralisch offene Wunde, eine rätselhafte Monstrosität geblieben ist.

Bisher waren es Staaten gewesen, die Völkermorde begangen hatten. In Ruanda war es, unterstützt, aber nicht gezwungen von Regierung und radikalen Hutu-Milizen, die Bevölkerung selbst.

«Schuldanteil der Schweiz»

Um sechs Uhr morgens, früher als sonst, stand man auf, nahm ein kräftiges Frühstück zu sich, ging zum Versammlungsplatz und machte sich auf die Jagd nach den «Kakerlaken», wie sie die Tutsi nannten. Hutu und Tutsi hatten dieselbe Sprache, dieselbe Religion, dieselben Bräuche. Ruanda galt als die Schweiz Afrikas, ein kleines Land, fleissige Leute, ansehnlicher Wohlstand, seit Kurzem ein Mehrparteienstaat. Die Verwandlung von braven Ackerbauern, Ladenbesitzern, Schulinspektoren, Pfarrern in Massenmörder geschah schnell, reibungslos. Man zerhackte das Nachbarspaar, liess den Sohn an dessen Kindern üben, erschlug die eigene Tutsi-Ehefrau, verfolgte die Flüchtenden bis in die hintersten Sümpfe und Berghöhlen. Um 16 Uhr signalisierte der Pfiff einer Trillerpfeife den Feierabend und auf dem Heimweg plünderten sie die Häuser der Getöteten, um sich danach Dreck und Blut abzuwaschen und zu essen und zu trinken, um für den neuen Tag wieder bereit zu sein.

Kaum drangen die Nachrichten aus dem afrikanischen Schlachthaus an die Weltöffentlichkeit, begannen westliche Afrikakenner, Entwicklungsexperten, Politanalysten, von denen keiner die Ereignisse vorausgesehen oder mit einem Akteur geredet hatte, Ferndiagnosen zu liefern. Die meisten beschuldigten wie üblich, wenn sich Schwarze umbrachten, die Weissen, in dem Fall die frühere Kolonialmacht Belgien, die während kurzen vier Jahrzehnten das Land verwaltet hatte. Sie erst habe den Rassismus eingeführt, indem sie die Tutsi bevorzugt und so einen giftigen Unter­legenheitskomplex bei den Hutu erzeugt habe.

Andere erklärten die Überbevölkerung zur Ursache, während der Schweizer Autor Lukas ­Bärfuss in seinem Roman «Hundert Tage» sich an einer dritten Variante versucht. In der preisgekrönten Erzählung räsoniert der Protagonist, ehemaliger Schweizer Hilfswerkler in Ruanda, über die Schuld seiner Heimat am Gemetzel. Helvetische Kardinaltugenden wie Ordnung, Zuverlässigkeit, Fleiss, «unser Stolz», hätten sie 30 Jahre lang nach Afrika getragen und gelehrige Schüler gefunden. Dabei aber übersehen, dass «jeder Völkermord nur in einem geregelten Staatswesen möglich ist».

Das Feuilleton las das Buch als analytischen Text, als Kritik an westlicher Herrenmentalität – «akribisch recherchiert, politisch positioniert», eine gelungene Antwort auf die Frage nach dem «Schuldanteil der Schweiz am Völkermord», schrieb die «Frankfurter Rundschau». Der «Tages-Anzeiger» behauptete mit halsbrecherischer Verstiegenheit, Ruandas Genozid sei «in Wahrheit ein schrecklicher Triumph Schweizer Ordnung und Rechtschaffenheit». Kein Experte machte die Täter verantwortlich, forschte konkret nach deren Motiven. Als ob Schwarzafrikaner schuldunfähige Halbwilde seien, kindliche Buschkreaturen, von denen man keine Vernunft und Selbstreflexion erwarten darf. Die geschwätzige Hilflosigkeit der Deutungen zeugt von einer Wahrnehmungssperre im westlichen Weltbild. Die Entmündigung der «génocidaires», die kulturellen Selbstbezichtigungen, die Ausflüchte in geruchsfreie Abstraktionen sind Reaktionen eines Denkens, das den Begriff des Bösen auf den Index des rückständlerischen Aberglaubens gesetzt hat. Folge innerer Überzeugung, die jeder Konfrontation mit Verworfenheit ausweicht, indem sie diese a priori zum Irrtum, zur Spätfolge eines früheren Unrechts, zum therapierbaren Fehlverhalten verharmlost.

Eine Ausnahme bildet die Studie «Zeit der Macheten» des Journalisten Jean Hatzfeld. Der Franzose interviewte über Wochen eine Gruppe von zehn Tätern, eine Freundesclique aus einer Gemeinde südlich von Kigali. Früher hatten sie sich in denselben Kneipen getroffen, dann waren sie gemeinsam auf Menschenjagd gegangen, nun waren sie im Lager für mutmassliche Kriegsverbrecher eingesperrt. Hatzfeld wollte alles wissen: Warum habt ihr getötet, wie, wo, wie war das erste Mal, wie reagierten die Opfer, bereut ihr?

Lust am Morden und Plündern

Das Resultat der Gespräche ist ein einzig­artiges Menschheitsdokument, eine homerische Fahrt durch das Reich der menschlichen Abgründe. Der Journalist wollte in den Kopf des Monsters schauen und traf auf zehn Freunde in guter Verfassung, die keine Gewissensbisse hatten und höchstens ihre momentane Lage als Gefangene bedauerten. Es waren weder sadistische ­Psychopathen noch empathisch Gestörte, und die meisten hegten nicht einmal eine spezielle Abneigung gegen Tutsis. Es waren normale ­Mitmenschen mit einer differenzierten Sprache, intelligent und fähig, ihre Gedanken anschaulich und überlegt zu äussern. Es gab nur eine ­Erklärung für ihre Taten: Sie mordeten und ­plünderten, weil sich die Gelegenheit dazu ergab, weil es ihnen Lust und Vergnügen verschaffte und weil sie glaubten, ungestraft davonzukommen.

Hatzfelds Studie hält keine Tröstung parat. Aber sie macht klüger, bestätigt, was Primo Levi über Auschwitz gesagt hat: «Es ist passiert, darum kann es wieder passieren.» eugen.sorg@baz.ch

Die Verwandlung von braven Hutu – Ackerbauern, Pfarrern, Ladenbesitzern – in Massenmörder geschah schnell, reibungslos.

Nach oben scrollen