Basler Zeitung

04.09.2014

Die heiligen Mörder

Die Enthauptungen der amerikanischen Journalisten zeigen die grausame menschliche Seite der Jihadisten

Von Eugen Sorg

Damaskus. Wie das Reh in die sich nähernden Autoscheinwerfer starrte das westliche Medienpublikum auf die letzten Bilder aus dem Leben des amerikanischen Journalisten James Foley: mit ungläubigem Entsetzen und einem Anflug von Panik. Foley, ein kräftiger Mann mit geschorenem Kopf und oranger Gefangenenkutte, die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden, kniet auf dem Boden. Neben ihm steht ein schwarz gekleideter, maskierter Mann, Angehöriger der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS), der auf Englisch eine kurze Anklagerede hält und der sich gleich über Foley beugen, ihm mit einer Hand Mund und Nase zuhalten und mit der anderen mit einem Messer den Kopf vom Rumpf säbeln wird. Über den beiden wölbt sich ein milchig gleissender Himmel, der jede Pore von Foleys Gesicht und seinem freigelegten Hals ausleuchtet, hinter ihnen verliert sich eine endlose, menschenleere Wüste im Horizont.

Die absolute Einsamkeit des Reporters in Erwartung seines fürchterlichen Todes und die kalte Erbarmungslosigkeit seines Henkers sind schwer zu ertragen. Die in den Aufnahmen gekonnt inszenierte Ästhetik des Schreckens weisen auf einen professionellen Szenografen hin. Von der IS ins Internet gestellt, ging der kurze Videofilm in rasendem Tempo um die Welt und wurde zur dunklen Ikone der Todesmiliz.

Der Schock war noch kaum verklungen, setzte die Deutungsarbeit der sogenannten Experten ein. Warum können Menschen, die offensichtlich nicht geisteskrank sind, solch schreckliche Dinge tun? Eine Frage, die sich hier umso mehr aufdrängt, als Foleys Mörder einen Londoner Dialekt spricht und aus Geheimdienstkreisen bald durchsickerte, dass es sich um einen 23-jährigen ehemaligen Rapper handeln soll, Sohn ägyptischer Einwanderer, aufgewachsen in einem gepflegten Anwesen im Westen Londons.

Versuch der Erklärung

Zudem war bekannt geworden, dass er nur einer von vielen jungen europäischen oder amerikanischen Muslimen ist, die sich den Schreckensmännern der IS angeschlossen haben. Tausende haben Familien, Sicherheit und Komfort in ihren englischen, französischen, deutschen Städten aufgegeben, um von den Einöden Syriens und des Iraks aus die Welt, wie sie ist, zu zerstören, und an deren Stelle die Utopie eines reinen muslimischen Gottesreichs, eines Kalifats zu errichten. Ihr Erfolg ist beängstigend. In kurzer Zeit eroberten sie ein Gebiet viermal so gross wie Israel. Ebenso verstörend ist ihre Vorgehensweise. So systematisch brutal, mit solch offen zelebrierter Grausamkeit agierte bisher keiner der anderen islamischen Terrorverbände.

Die Erklärung der Motive durch die Experten folgen mehrheitlich dem im Westen vorherrschenden Therapeutismus, der glaubt, dass jeder bösen Tat eine Verletzung oder eine traumatische Kränkung vorangegangen sei. Je schlimmer ein Verbrecher, desto schlimmer müsse er einst selber behandelt worden sein. Er verdient Hilfe und nicht Strafe. Denn am Ursprung des Täters steht ein bedauernswertes Opfer, das letztlich nicht verantwortlich gemacht werden kann für seine späteren Vergehen. Schuld an diesen sind die Umstände, die Kindheit, die Verhältnisse.

Wenn also junge Muslime aus Europa nach Syrien reisen, um dort zu töten und zu plündern, heisst dies, wie eine österreichische Studie festhält, dass «persönliche Entfremdung, gesellschaftliche Diskriminierung und mangelnde Anerkennung im unmittelbaren Umfeld eine Rolle spielen», also die Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz der nichtmuslimischen Mehrheit. Bei «jungen Konvertiten», weiss wiederum die Studie, sind oftmals «ein labiler Charakter, gestörte familiäre Verhältnisse und Gewaltaffinität ausschlaggebend». Und Gewaltaffinität, so das müde Mantra der Spätmoderne, geht zurück auf «eigene Erfahrungen von Gewalt und emotionaler Vernachlässigung in Kindheit und Jugend».

Viel Empathie für Jihadisten bringt auch Islamwissenschaftler Reinhard Schul­­ze auf. In einem Interview (Weltwoche Nr. 35/14) gefragt, warum immer mehr europäische Muslime der Faszination des bewaffneten Glaubenskrieges erliegen, verweist der Professor auf individuelle biografische Erlebnisse der Jungfanatiker. Als Beispiel erzählt er die Geschichte eines der vier London-­Attentäter, die 2005 in U-Bahn und Bus eine Serie Bomben detonieren liessen und ein Blutbad anrichteten. Dieser habe in einem Club in England mit einer Frau angebändelt. Diese habe ihn nett gefunden und gefragt, woher er mit seinem südlichen Teint herkomme. Aus Pakistan, habe er geantwortet, und sie fragte, ob er Muslim sei. Ja, habe er gesagt, worauf sie meinte: «Sorry, dann wird es nichts mit uns.»

Diese Zurückweisung, gerät nun Islamexperte Schulze ins Tiefgründeln und Psychologisieren, sei die Grundlage für sein «Ressentiment» gewesen, das er zunächst gegen alle britischen Frauen richtete und das moralisch verstärkt worden sei, nachdem ihm ein radikaler Prediger erklärt habe, die Zurückweisung durch diese Frau sei in Wirklichkeit eine durch den «Westen» gewesen. Wenn er etwas dagegen unternehme, so versprach der Prediger, würde er nicht nur eine Frau, sondern auch einen Mercedes bekommen. Und so habe sich eine kleine Abfuhr in der Disco auf komplex-rätselhafte Weise zu einem gigantischen, eine ganze Kultur umfassenden Ressentiment ausgeweitet, das den Sohn von fleissigen pakistanischen Einwanderern letztlich zum Massenmord im Londoner U-Bahn-Schacht getrieben habe.

Es ist nicht bekannt, wo der Professor diese hanebüchene Story aufgelesen oder wer sie ihm aufgetischt hat. Sicher ist nur, dass Schulze besser darin ist, einen Text vom Hocharabischen ins Deutsche zu übersetzen, als eine plausible Geschichte von einer komplett unsinnigen zu unterscheiden oder einen realistischen seelischen Werdegang von einer dümmlichen biografischen Schmonzette, die einmal mehr aus einem Killer ein Opferlamm zu machen versucht.

Mehr Einsicht in die Motivlage der jungen Kampfmuslime gewinnt man, wenn man sich die Videos ansieht, die der IS von seinen Aktionen ins Netz stellt. Neben Köpfungen demonstrieren sie, wie sie jene behandeln, die ihnen in die Hände fallen. Zum Beispiel jene syrischen Soldaten, die sich bis auf die Unterhosen ausziehen müssen, in einer Kolonne in die Wüste getrieben werden und sich aufgereiht als bizarre Menschenkette in den heissen Sand legen müssen, wo sie mit Kopfschüssen oder mit Enthauptungen umgebracht werden.

«Hier wurde geschlachtet»

Die Killer handeln nicht im Blutrausch, sie gehen organisiert und diszipliniert vor. Natürlich sind die Auftritte choreografiert, sie werden zu Propagandazwecken gemacht. Sie sollen eine übermächtige und unbarmherzige Gottesarmee zeigen, die jeden, der sich ihr in den Weg stellt, demütigt und vernichtet. Trotz der präzisen Regie spürt man aber die Euphorie und das Hochgefühl der bärtigen Schwarzröcke. Sie geniessen die Todesangst der Besiegten, sie lachen und verhöhnen die Männer, die wie stumme Tiere in die Grube geführt werden, die sie selber ausheben mussten und die ihr Grab sein wird, und wenn sie in eine eroberte Stadt einfahren, schwenken sie die Messer in der Luft, voller Vorfreude auf die Beute an Frauen und Geld und auf das Gemetzel.

«Tschuldigung, Tschuldigung», witzelt in einer Videoaufnahme ein junger deutsch-algerischer Jihadist, als er über eine Ansammlung von Leichen steigt, «hier sind offenbar einige Leute über­fahren worden.» Dann setzt er sich auf einen kleinen Hügel, schaut auf die Masse der Körper, lacht und sagt: «Hier wurde geschlachtet.» Ein 20-jähriger englischer Gotteskrieger twittert, «der Bruder, der Foley hingerichtet hat, sollte der nächste Batman werden». Und etwas später prahlt er mit seiner Betei­ligung an einer Köpfung: «Es war verrückt, Mann. Einige unserer Brüder waren 1,95 gross und muskulös lol und es brauchte vier von uns, um es zu tun.»

Die Versuche, den Blutkarneval mit verunglückten Lebensläufen und gescheiterter Integration zu erklären, geraten angesichts der Realität zu hilflosem Stammeln. Die Jihadisten töten nicht, weil sie wütend sind oder gekränkt oder verblendet. Sie töten, weil sie es können. Die Menschen tragen ein uraltes evolutionäres Erbe an zerstörerischen Neigungen in sich. Der zivilisatorische Prozess besteht darin, diese Impulse zu bändigen, einzugrenzen und zu kanalisieren. Die menschliche Spezies muss sich vor sich selber schützen. Das Gelingen ist ständig gefährdet, die Versuchung zum Chaos begleitet die Geschichte. In Mesopotamien, der Wiege der Humankultur, sind diese Grenzen dieser Tage ausser Kraft gesetzt. Die Tabus sind gebrochen worden, die Pforten zur Unterwelt wurden geöffnet, die Dämonen sind entwichen.

An die Stelle Gottes gesetzt

Der Jihadist ist an keinerlei moralische oder weltliche Gesetze gebunden. Er ist absolut frei. Er nimmt sich Frauen aus den Häusern, die er erobert hat, er schändet sie, bevor er sie tötet oder verkauft. Das Gefühl der Unsterblichkeit durchströmt ihn, wenn er in die panischen Augen des Gefangenen blickt und entscheidet, ob er ihn köpfen, ans Kreuz nageln, erschiessen, lebendig begraben oder am Leben lassen will. Vor jeder Tat, vor jeder Scheusslichkeit preist er Allah, seinen Gott, er hat das erhebende Empfinden, von diesem legitimiert zu sein. In Wirklichkeit preist er sich selber. Er hat die menschliche Ursünde begangen und sich an die Stelle Gottes gesetzt.

Vertreten die Kalifat-Jünger in Mesopotamien den wahren Islam, wie sie selber behaupten? Oder haben sie nichts mit dem Islam zu tun, wie westliche Politiker, aber auch einige wenige islamische Würdenträger beschwören? Als theoretische Frage kann sie nur Theologen interessieren. Als praktische Frage aber muss sie von den islamischen Gesellschaften selber gelöst werden. Ist der Islam eine «Kriegsreligion», wie Elias Canetti in «Masse und Macht» schreibt, für deren Anhänger der Kampf gegen die Ungläubigen «Schicksal» und «die Schlacht der genaueste Ausdruck des Lebens» sind? Oder gelingt es der arabisch-islamischen Welt, sich von archaischen Erbelementen zu lösen und sich den neuzeitlichen Realitäten anzupassen? Der Ausgang ist offen.

Neues Hinrichtungsvideo ist echt

Washington. Das Weisse Haus hat gestern die Echtheit eines Videos der Jihadistengruppe Islamischer Staat (IS) bestätigt, auf dem die Hinrichtung des US-Journalisten Steven Sotloff zu sehen ist. Das Video war am Dienstag im Internet aufgetaucht und hatte weltweit für Entsetzen gesorgt. Eine Analyse durch Geheimdienstexperten habe bewiesen, dass das Video authentisch sei, sagte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates, Caitlin Hayden.

Derweil haben die Republikaner im Kongress in Washington eine klare ­Strategie gegen die Jihadisten verlangt. ­US-Präsident Barack Obama müsse «der amerikanischen Bevölkerung und dem Kongress erklären, wie wir mit ­dieser Bedrohung umgehen», sagte der Vorsitzende des Ausschusses für ­Auswärtige Angelegenheiten im Repräsentantenhaus, Ed Royce. Er kündigte an, Aussenminister John Kerry in der kommenden Woche vor seinem Ausschuss zu den Plänen der Regierung befragen zu wollen.

Obama war am Dienstag zu seiner Reise nach Estland und zum Nato-Gipfel in Wales aufgebrochen, ohne sich öffentlich zum ­Hinrichtungsvideo zu äussern. Zwar wirkt Obama auf den ersten Blick scheinbar hilflos. Doch Experten ­meinen, die Morde der Milizen könnten durchaus auch ein «gutes ­Zeichen» sein – ein Zeichen, dass die Luftschläge der US-Kampfjets bereits deutliche Wirkung zeigen. Ausdrücklich meint der Vermummte auf dem Video, Sotloff müsse wegen der Luftschläge gegen IS-Stellungen nahe des Mossul-Damms sterben. «So wie deine Raketen weiter unsere Leute treffen, werden unsere Messer weiter die Hälse deiner Leute treffen.»

Tatsächlich sind den USA mit ihren Bombardierungen innerhalb weniger Wochen erste Erfolge gelungen. Weit über 100 Angriffe flogen die USA laut Pentagon: Sie brachen die Belagerung am Sindschar-Gebirge, Zehntausende Menschen, Angehörige der Minderheit der Jesiden, konnten fliehen. Auch der Mossul-Damm befindet sich nicht mehr unter Kontrolle der Milizen. Doch neue Gräueltaten sind schon angedroht. Das nächste Opfer, so die Milizen, sei eine britische Geisel. Laut der New York Times haben sie mindestens zwei ­weitere Amerikaner in ihrer Gewalt.

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