Basler Zeitung

07.11.2014

Anleitung zur Höllenfahrt

Der IS handelt nach der «Verwaltung der Barbarei», einem irrationalen, apokalyptischen Werk von Abu Bakr Naji

Von Eugen Sorg

Wenn die Kalifatskrieger des Islamischen Staates (IS) eine Stadt erobert haben, gehen sie zielstrebig und ohne Zeit zu verlieren weiter vor. Sie konfiszieren die Banktresore; sie belohnen die siegreichen Kämpfer mit Mädchen und jungen Frauen, die sie in den Häusern der Ungläubigen eingesammelt haben; sie erschiessen, köpfen, kreuzigen deren Ehemänner, Brüder, Väter; und sie exekutieren zu Hunderten die Soldaten der gegnerischen Armee, denen die Flucht nicht mehr gelang.

Erschreckend sind die feierliche Kälte, die Mitleidlosigkeit und der Wille der heiligen Henker, ihre Taten öffentlich zu machen. Nicht nur in der eingenommenen Stadt, wo am helllichten Tag auf dem Hauptplatz das blutige Werk verrichtet und die abgeschnittenen Köpfe ordentlich aufgereiht werden. Sondern in der ganzen Welt, indem man professionell komponierte Filmclips der Scheusslichkeiten aufs Netz lädt.

Diese zeigen nicht Raserei oder entfesseltes Wüten, sondern Männer, die bei klarem Bewusstsein sind und wissen, was sie tun. Die mit heiterem Ernst einen Menschen mit einem Dolch zu Tode bringen, mit unaufgeregten, kräftigen Schnitten, so wie man bei der Geburt eines Sohnes oder beim Fastenbrechen ein Schaf schlachtet. Die vor­gehen, als würden sie einem gut ein­studierten Drehbuch folgen.

Manifest zur Welteroberung

Dieses Skript existiert tatsächlich: «The Management of Savagery» (Die Verwaltung der Barbarei), ein Buch ­verfasst von Abu Bakr Naji, einem ­mutmasslichen Ägypter und ehemaligen Chefdenker von Al Qaida. Die 2004 online auf Arabisch («Edarat al-Wahsh») erschienene und 2006 auf Englisch übersetzte Schrift ist ein trockenes Strategiehandbuch für Jihadisten, ein nüchternes intellektuelles Manifest zur islamischen Welteroberung. Auf erschreckend genaue Weise nimmt es das Handeln des IS in Syrien und dem Irak vorweg, aber auch das­jenige anderer Trupps wie Boko Haram in Nigeria oder vieler Einzeltäter wie den Bostoner Bomben-Brüdern Tsarnaev, dem Francoalgerier Mohammed Merah, den Londoner Schlächtern des Soldaten Lee Rigby, den jüngsten islamistischen Fememördern in den USA und in Kanada.

Osama bin Laden hatte noch darüber spekuliert, dass einige spektakuläre Anschläge die Amerikaner als Anführer der «Ungläubigen» in eine politische Krise stürzen und letztlich den Verlust ihrer globalen Dominanz herbeiführen würden. Die entschlossene und harte Reaktion des «grossen Satans» auf die Attentate vom 11. September 2001 aber zeigte, dass man sich verschätzt hatte. Naji entwickelte darauf das Konzept, dass der Jihad weltweit auf alle Länder mit muslimischen Bevölkerungsanteilen ausgedehnt werden sollte.

Ordnung zum Kollaps bringen

Aus dem Schutz glaubenstreuer Milieus in den arabischen, asiatischen und afrikanischen Kernländern heraus, aber auch aus den wachsenden islamischen Parallelgesellschaften in den westlichen Staaten soll mit «unzähligen kleinen Operationen» der Alltag der Ungläubigen und deren Kollaborateure unerträglich gemacht werden. Keiner soll sich mehr sicher fühlen können. Naji empfiehlt Kidnapping, Geiselnahme, Verwendung von Frauen und Kindern als lebende Schutzschilde, öffentliche Tötungen, um den Feind zu terrorisieren, Selbstmordattentate, aber auch Anschläge auf Ölfelder, Häfen, Flugplätze, Touristentreffpunkte.

Das Ziel ist der Kollaps der Ordnung, die Schaffung von Zonen der Gesetzlosigkeit, des Chaos, der Wildheit. Dort herrschen die idealen Bedingungen, um die gerechte Ordnung der Scharia einzuführen. In einer Situation der Barbarei und Willkür, so Naji, würden sich die Leute jedem unterwerfen, egal ob gut oder böse, der ihnen Sicherheit und Überleben garantiert. Dies entspreche der «menschlichen Natur».

Naji sieht in einer ganzen Reihe von muslimischen Ländern vielversprechen­­de Kandidaten für ein «management of savagery», unter ihnen Afghanistan, Irak, Libanon, Ägypten, Somalia, die Maghreb-Staaten inklusive Libyen, aber auch Saudi-Arabien, Pakistan, Jemen, Türkei oder Jordanien. Diese Liste als grössenwahnsinnige Träumerei abzutun, wäre voreilig. Mindestens zwei Länder, die sogar Naji 2004 noch als ­stabil eingeschätzt hatte, Mali und Syrien, sind mittlerweile blutige Chaosregionen.

«Der Westen», diagnostiziert der ­Terror-Stratege, «hat nicht den Magen für einen langen Kampf.» Auch Amerika, die letzte Bastion der Ungläubigen, bringt den langfristigen Willen dazu trotz überlegener Feuerkraft nicht mehr auf. Das einzige wahre Hindernis auf dem Weg zur Errichtung der Herrschaft Allahs liegt bei den Muslimen selbst. So zum Beispiel, wenn sie sich Weichheit erlauben. Weichheit führt zum Verlust von Stärke und ist einer der Faktoren des Scheiterns. «Wir müssen den Jihad mit äusserster Gewalt führen, sodass der Tod nur ein Herzschlag entfernt ist.»

Dies ist der Weg zum Sieg über die Westler: rohe, schockierende Gewalt. «Wir müssen den Feind massakrieren und ihm einen Schrecken einjagen.» Aber auch die muslimischen Massen werden durch die Logik des Massakers, ob sie es wollen oder nicht, in die Schlacht hineingezogen. Gewalt ist segensreich, schreibt Naji und verweist auf die zwei ersten Kalifen und Gefährten des Propheten Mohammeds, als es darum ging, das entstehende muslimische Reich zu sichern. «Sie verbrannten Leute bei lebendigem Leibe, obwohl dies abscheulich ist. Aber sie wussten um die Wirkung von roher Brutalität in Zeiten der Not.»

Der grausame Inhalt der Schrift steht im Gegensatz zum abwägenden, scholastischen, belehrenden Stil, in dem sie verfasst wurde. Der offensichtlich gebildete Autor Naji kann auf 1400 Jahre islamisches Herrschafts­wissen zurückgreifen, auf eine imperiale Tradition der Landnahme und Kunst der Unterwerfung ganzer Völkerschaften. Er beruft sich unter anderem auf Ibn Taimiya, einen arabischen Theologen und Ur-Salafisten aus dem 13. Jahrhundert – ein vollkommen Unbekannter im Westen, eine verehrte Figur hingegen im Weltbild aller frommen Jihadsoldaten. Aber Naji hat auch abendländische Denker wie den Yale-­Historiker Paul Kennedy aufmerksam gelesen, der mit seiner Studie «Aufstieg und Fall der grossen Mächte» (1987) und seinem Begriff der «imperialen Überdehnung» für Diskussionen unter den Eliten in Paris, Berlin, New York über den Niedergang Amerikas gesorgt hatte. Und er verweist auf westliche Ethnologenberichte über das Verhalten von Stämmen oder auf Erkenntnisse aus der Verwaltungswissenschaft.

Die besonnene Gedankenführung und die rational anmutende Argumentation könnten jedoch darüber hinweg täuschen, dass Naji in der «Verwaltung der Barbarei» ein zutiefst irrationales, apokalyptisches Projekt entwirft. Dessen Ideologie und Praxis sind mit den üblichen Erklärungswerkzeugen des aufgeklärten Westens nicht zu verstehen. Ökonomie, Soziologie, Politologie, Psychologie, alle gehen davon aus, dass menschliches Verhalten letztlich rationalen Kriterien gehorcht, dem Kampf um Ressourcen, um politische Macht, um kulturelle Würde, Selbstbestimmung, ein besseres Leben.

Ohne praktisches Konzept

An den Äusserungen Najis und all der anderen Kalifatsutopisten fällt aber auf, dass sie nie einen Gedanken daran verschwenden, wie sie nach einer Machtübernahme Wirtschaft und Handel organisieren, die in islamischen Ländern epidemische Arbeitslosigkeit bekämpfen, das Gesundheitswesen einrichten wollen. Sie liefern nicht mal den Hauch eines Konzepts, wie sie ihre Bevölkerung vor Armut, Hungersnöten, Krankheiten bewahren wollen. Das reale, praktische Leben interessiert sie nicht. Sie interessiert nur der Jihad, der Krieg, die ewige Schlacht für das herbei­delirierte Kalifat.

Der Jihadismus ist die arabische Variante des Hitler’schen Nationalsozialismus. Er ist ein Todeskult. Sein zentrales Ritual ist das Menschenopfer. Aufnahme im Blutorden findet derjenige, der einen lebenden Ungläubigen eigenhändig enthauptet. Zur düsteren Ikonografie des IS gehört jenes Bild, auf dem ein australischer Muslim zusammen mit seinem zirka achtjährigen Sohn zu sehen ist. Der hübsche Junge streckt schüchtern lächelnd einen frisch ab­­geschnittenen Männerkopf in die Kamera. Hinter ihm steht der Vater, strahlend, stolz.

Die Gotteskrieger sind auch jederzeit bereit, das eigene Leben zu opfern, wenn sie mit diesem Akt nur möglichst viele Ungläubige in den Abgrund reissen können. Je gewaltiger das Gemetzel ausfällt, desto näher fühlen sie sich der Erfüllung. Der Untergang der Welt bedeutet den Beginn einer neuen, islamisch gereinigten Welt. Ihr Kalifat ist die Vollendung des Sadismus. Sie haben sich einen Gott geschaffen, der ihnen alles erlaubt.

Wir erleben in diesen Tagen den politischen, kulturellen und moralischen Kollaps der arabisch-islamischen Zivilisation. Aus den Trümmern steigen toxischen Blutnebeln gleich Strategeme auf wie diejenigen von Abu Bakr Naji und todessehnsüchtige Verbände wie der IS, die alles daran setzen, auch noch die restlichen staatlichen Ordnungs­gefüge zu zerlegen. Bereits jetzt gibt es in der Region 18 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene ohne Aussicht auf baldige Rückkehr in ihre Heimat. Ihre Zahl wächst täglich, viele werden ins nahe Europa kommen und mit ihnen auch todesbereite Partisanen des Chaos.

Militärisch hat der Westen von den islamistischen Verbänden nichts zu befürchten, seine Armeen und Sicherheitskräfte sind unvergleichlich stärker und letaler. Und auch grössere Terroranschläge könnten das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben nur zeitweilig unterbrechen, aber nicht zerstören. Im Zweiten Weltkrieg liess Hitlers Luftwaffe während über sieben Monaten Bomben auf englische Städte regnen, es gab 43 000 Tote und allein in London wurden eine Million Häuser zerstört. Weder wurde die Kriegsproduktion der Briten entscheidend geschwächt, noch knickten sie politisch ein. Ihr Widerstandswille blieb intakt.

Aber in diesem letzteren mentalen Bereich liegt heute die wirkliche Bedrohung. Der Westen hat das Aufkommen des islamischen Todeskultes lange verleugnet, verharmlost oder wegpsychologisiert. Die vorherrschende Kultur des Therapeutismus hat den Begriff des Bösen abgeschafft, menschliche Boshaftigkeiten zur Spätfolge von früheren Kränkungen verkitscht und sich so der Fähigkeit beraubt, existenzielle Gefahren zu erkennen und sich vor ihnen zu schützen. Das ansonsten raffinierte westliche Gemüt erträgt keine Schonungslosigkeit. Konfrontiert mit Verworfenheit, Grausamkeit und Horror, reagiert es mit Panik, psychotischer Kopflosigkeit und Unterwerfungsreflexen. Es würde alles dafür tun, damit der Albtraum wieder verschwindet. Mit ihm geschieht das, was Tolkien in «Herr der Ringe» beschrieben hat, wenn die Lebewesen des Kontinents Mittelerde vom «schwarzen Atem» der mächtigen, untoten Reiter Mordors gestreift werden: Jene werden von einer todeskalten Schwäche erfasst, winden sich in Angst und Schrecken und verwandeln sich schliesslich selbst in Untote, willenlos den schwarzen Reitern ausgeliefert.

Der feinnervige Humanismus ist die Achillesferse des Westens. Seine Feinde kennen diese Schwäche besser als er selbst und nützen sie aus. Die somalischen Klankrieger kannten sie, als sie in Mogadischus Strassenkämpfen gegen die Amerikaner Frauen und Kinder als Schutzschilde vor sich herschoben, in der richtigen Annahme, dass sich die GIs so kaum getrauen würden, zurückzuschiessen. Die abgründig zynische Hamas kennt sie und versuchte auch im jüngsten Gazakrieg wieder eine möglichst hohe Zahl eigener ziviler Opfer zu produzieren. Die IS-Partisanen Najis kennen sie und durchschlugen mit einer kurzen Serie diabolisch kalkulierter Bestialitäten das mentale Verleugnungs­dispositiv des Westens und zogen ihn in ihre apokalyptische Schlacht hinein, ohne dass er ein aussenpolitisches Konzept, eine militärische Strategie oder ein plausibel begründbares Eigeninteresse hätte.

Opferbonus einspielen

Und auch islamische Verbände in Europa und Amerika versuchen von der hinter multikulturellen Toleranz­beschwörungen versteckten Angst vor archaischen Gewaltausbrüchen über­eifriger Korananhänger zu profitieren, um ihre religiöse Sonderagenda voranzutreiben: Mit einer subtilen Mischung aus Gekränktsein, Opfersimulation und Drohungen massieren sie den naiven Eliten in Kirche, Politik und Medien geduldig die Botschaft ein, dass es rassistisch und Ausdruck einer krankhaften Gesinnung sei, den Islam zu kritisieren. Mit Erfolg. Die Mehrzahl der Meinungs- und Kulturberufler verzichtet mittlerweile freiwillig auf eine offene Auseinandersetzung mit einer Religion, in deren geistigen Herrschaftsbereich ­Intoleranz, Unfreiheit, intellektuelle Trostlosigkeit grassieren. Freier Wettstreit der Ideen, Lachen, Spott sind jedoch der Sauerstoff eines gesunden kulturellen Lebens.

Soll der Westen den «Magen» haben, um dem lähmenden schwarzen Atem Mordors standzuhalten, muss er seinen Humanismus wieder robuster und selbstbewusster machen. Und sich ab und zu an die Anfänge erinnern, an die Initianten des Projekts Aufklärung, eines der grossartigsten, aber immer gefährdeten Unternehmen des menschlichen Geistes.

«Doch dass ein Kamelhändler», schrieb Voltaire 1740 in einem Brief an Friedrich den Grossen über den Islam und seinen Propheten, «in seinem Nest Aufruhr entfacht, dass er seine Mitbürgen glauben machen will, dass er sich mit dem Erzengel Gabriel unterhielte; dass er sich damit brüstet, in den Himmel entrückt worden zu sein und ein Teil jenes unverdaulichen Buches empfangen zu haben, das bei jeder Seite den gesunden Menschenverstand erbeben lässt; dass er, um diesem Werke Respekt zu verschaffen, sein Vaterland mit Feuer und Eisen überzieht, dass er Väter erwürgt, Töchter fortschleift; dass er den Geschlagenen die freie Wahl zwischen Tod und seinem Glauben lässt: Das ist mit Sicherheit etwas, das kein Mensch entschuldigen kann.»

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