Basler Zeitung

24.12.2014

«Das wäre das Ende der Welt»

Der palästinensische Weihbischof William Shomali über Gründe für den Exodus der Christen aus dem Heiligen Land

Von Eugen Sorg, Jerusalem

Herr Shomali, vor zwei Jahren hat der Vatikan einen alarmierenden Report veröffentlicht, dass weltweit jährlich 100 000 Christen ermordet werden. Das ist dramatisch. Viele davon im Nahen Osten. Was steht dahinter? Gottes Wille? Der Mensch? Das Schicksal?

William Shomali:

Eine gute Frage. Ein Grund ist das Aufkommen des Radikalismus. Es gibt heute mehr Radikalismus als im Mittelalter. Dazu kommt, dass Europa nicht mehr christlich ist und es die verfolgten Christen nicht mehr verteidigt. Christen sind schutzlos geworden. Wenn ein Muslim geschlagen wird, protestiert die ganze muslimische Welt. Wenn ein Christ verfolgt wird, wehrt sich vielleicht der Vatikan, aber nicht mehr ganz Europa, wie es im Mittel­alter der Fall war.

Und der Vatikan hat keine Armee, ausser der Schweizergarde.

Genau (lacht). Und es kommt hinzu, dass Christenverfolgung heute dank den sozialen Medien besser organisiert werden kann. Als zum Beispiel Papst Benedikt XVI. 2006 seine Regensburger Rede gehalten hatte, waren zwei Tage später die Muslime auf allen Kontinenten in Aufruhr.

Und dies wegen einer akademischen Rede, in der ein byzantinischer Kaiser aus dem Mittelalter zitiert wurde, der ­kritisiert haben soll, dass sich der Islam mit dem Schwert ausbreite.

Vor 30 Jahren hätte noch kaum jemand von diesem Vortrag erfahren. Aber mit den neuen Medien wurden Stellen daraus schnell verbreitet. ­Medien können schaden und töten.

Welche Orte sind heute die gefährlichsten für Christen?

Der Norden Nigerias, der Irak, Syrien, ­Pakistan, eine Zeit lang, unter Mursi, war es Ägypten. Und dann die kommunistischen Länder Vietnam, China, Nordkorea.

Es gibt viele Gebiete, die einst christlich waren, wo heute keine Christen mehr sind.

Ja, Nordafrika zum Beispiel. Zur Zeit des heiligen Cyprian und des heiligen Augustinus war es christlich, dann vollzog sich eine Umwandlung und der Islam ersetzte das Christentum vollständig, ausser in Ägypten.

Wie ging das vonstatten? In Syrien und im Irak geschieht dies momentan mit dem Schwert.

Genau wie früher. Und die Überleben­den mussten eine hohe Steuer bezahlen, ausser sie traten zum Islam über. Die erste Generation tat dies noch ohne innere Überzeugung, die zweite war halbherzig dabei, die dritte war hundertprozentig muslimisch. Und die 20. Generation ist radikal.

Warum radikalisiert sich der Islam ausgerechnet im 20. und 21. Jahrhundert, einer Zeit, die gewaltige Fortschritte hervorgebracht hat, von denen frühere Generationen nur träumen konnten? Moderne Medizin, Ausbildung für viele, mehr Freiheit.

Das hat mit dem Kolonialismus zu tun. Die Leute hier unterscheiden nicht zwischen dem Kolonialismus und dem Christentum, sie denken, die Christen seien gekommen, um den Islam zu unterwerfen. Und ebenso erklärten sie sich die amerikanische Invasion des Irak. Das alles hilft dem Radikalismus.

Die Rückkehr des radikalen Islam geschah aber Ende der Siebzigerjahre in Iran mit Khomeini und in Afghanistan im Kampf gegen die Kommunisten und mit einer blutigen Besetzung der Grossen Moschee in Mekka durch Fundamentalisten. Dies war vor dem Irak und lange nach der Kolonialzeit.

Das kollektive Gedächtnis vergisst nur sehr langsam.

Es fällt auch auf, dass nie jemand über den islamischen Kolonialismus redet. Mohammed und seine Nachfolger eroberten in hundert Jahren ein gigantisches Reich, das von Spanien bis nach Indien reichte.

Sie haben recht. Aber im Nahen und Mittleren Osten spielt Religion eine grössere Rolle als irgendwo sonst in dieser Welt. Alles ist Religion. Man sieht nur, wo man sich selbst benachteiligt gefühlt hat.

Lassen Sie uns über Palästina, Ihr Zuständigkeitsgebiet reden. Christen machen dort gerade noch ein Prozent der Bevölkerung aus …

Nein, wir sind 1,25 Prozent

… und es werden laufend weniger. Warum? In Palästina werden sie dank der israelischen Präsenz nicht verfolgt, im Unterschied zu den andern muslimischen Ländern.

In der osmanischen Zeit gab es Ver­folgung, Diskriminierung und Armut, die viele Christen zur Auswanderung zwangen. Später, vor und nach der Gründung Israels, führte eine Reihe von Kriegen zu einem Gefühl der Unsicherheit. Dazu kommt, dass Christen in der Regel kultiviert und gut ausgebildet sind. Sie besuchen christliche Privatschulen, wo sie Englisch und Französisch lernen, was es ihnen leichter machte, sich in Europa oder den USA zu integrieren. Und wenn einer erfolgreich emigriert ist, zieht er seine Geschwister und Verwandten nach. Druck zum Auswandern ergab sich auch aus der Situa­tion als Minderheit, auch wenn man nicht direkt verfolgt wurde. Als Minderheit ist man schwach, speziell in dieser Gegend, wo eine Stammes- und Clanmentalität vorherrscht. Wenn du nicht zu einem starken Clan gehörst, bist du schutzlos.

Die palästinensischen Christen be­­schwe­­ren sich auch über die israelische Trennmauer, die ihr Leben stark einschränke.

Vorher konnten sie in Israel arbeiten, auch wenn sie nur wenig verdienten. Es gibt wenig Jobs und kaum Industrie in Palästina. Mit der Mauer wurde dies schwieriger, es braucht Spezialbewilligungen von Israel.

In Nazareth, das in Israel liegt, nimmt die Zahl palästinensischer Christen aber auch ab, obwohl sie alle Rechte als israelische Staatsbürger haben und es dort keine Mauer gibt.

Sie wollen keine Minderheit im eigenen Land sein. Vielleicht haben sie auch erfolgreiche Verwandte im Ausland, zu denen sie ziehen möchten. Aber ich vermute, dass die Auswanderung kleiner ist als im palästinensischen Bethlehem. In Israel ist der ­Prozentsatz Christen höher als in Palästina. Es gibt mehr Jobs und weniger Unsicherheit.

Wenn Sie einen eigenen Palästinenserstaat haben, der nicht mehr unter Israels Kontrolle steht, wird das Leben für die Christen dann besser sein?

Die Zukunft ist ungewiss. Wenn die israelische Besatzung wegfällt, hilft uns dies. Aber wir wissen nicht, welche Regierung kommen wird. Wenn die Nachfolge dem Islamischen Staat (IS) nahestehen wird, werden wir noch mehr leiden.

Ihr werdet verschwinden wie die Christen von Mossul.

Ja. Aber wenn es jemand wie Mo­hammed Abbas ist, dann sind wir in Sicherheit. Er ist moderat und bevorzugt niemanden.

Aber er ist nur an der Macht, weil ihn die USA und der Westen dort halten. Bei der Mehrheit der Palästinenser ist er unbeliebt. Sie würde radikalere, islamistische Politiker wählen.

Es könnte die Hamas sein, sie ist fundamentalistisch. Aber es gibt noch radikalere Gruppen, wie Al Nusra oder Al Qaida oder IS. Hamas regiert im Gazastreifen. Dort leben noch etwa 1000 Christen. Wir haben Probleme, aber wir werden nicht eingesperrt, nur weil wir Christen sind. Vielleicht bekommt man keine Stelle, weil man Christ ist, aber man wird nicht getötet und man muss keine Kopfsteuer zahlen.

Ihre Existenz hängt von Dingen ab, die sie nicht beeinflussen können. Um das auszuhalten, braucht es einen sehr starken Glauben.

Das stimmt. Aber einige Dinge können sie trotzdem beeinflussen. Es ist wichtig, wie man sich den Muslimen gegenüber verhält. Wir Christen haben gute Schulen, und sie werden von moderaten Muslimen, die es auch gibt, besucht. Dort erleben diese eine gute Umgebung. Christen dürfen sich nicht ins Getto zurückziehen, sondern müssen pragmatisch bleiben. Das hilft ihnen, akzeptiert zu werden. An einigen katholischen Schulen zum Beispiel ist es muslimischen Mädchen untersagt, ein Kopftuch zu tragen. Aber damit werden wir selber zu Fanatikern und wir provozieren Gegenreaktionen.

Westliche Spitzenpolitiker wie Obama, Cameron und Merkel behaupten, radikale Gruppen wie IS seien nicht vereinbar mit dem Islam.

Sie sind eine Variante des Islam. Aber sie repräsentieren nicht die Mehrheit der Muslime. Wäre es so, so bedeutete dies das Ende der Welt.

In Europa befürchten viele eine schleichende Islamisierung des Westens. Seit Jahrzehnten gibt es eine starke muslimische Einwanderung, und im Gegensatz zu den Europäern bringen die Muslime viele Kinder auf die Welt. Bereits existieren Quartiere in Metropolen wie London oder Paris, wo Muslime in der Mehrheit sind.

Eine Zeit lang hat Europa ohne nachzudenken Arbeiter und noch mehr Arbeiter geholt und plötzlich realisiert, dass es mit Millionen von ­Menschen aus fremden Kulturen zu­­sammenlebte, die man nicht mehr zurückschicken konnte. Europa hat das Recht, seine Kultur und seine Demografie zu verteidigen. Arabische Länder wie Dubai oder die Emirate zum Beispiel geben niemandem die Staatsbürgerschaft, der nicht im Land geboren ist. Auch Europa darf die Zahl der neuen Staatsbürger auf vernünftige Weise kontrollieren, um sich selbst nicht zu verlieren. In den USA sind die Muslime besser integriert als in Frankreich oder England, wo sich Gettos gebildet haben. Gettos aber sind Brutstätten der Radikalisierung.

Hier in Palästina haben die arabischen Christen ebenfalls weniger Kinder als die muslimischen Nachbarn.

Meine Brüder, Schwestern und Cou­sins haben alle zwischen drei und fünf Kindern. Wir lieben Kinder. Aber es stimmt, die Muslime und die orthodoxen Juden haben noch mehr.

Wie wollen Sie Ihre Leute überzeugen, nicht auszuwandern?

Ich sage ihnen, dass es für Christen eine höhere Aufgabe sei, im Heiligen Land zu leben. Das Geburtsland von Jesus ohne Christen wäre eine absurde Vorstellung. Ich ermutige sie, Gott habe uns hierher geführt und er werde uns helfen. Und sie sollten nicht vergessen, dass es anfangs nur Jesus und die zwölf Apostel gab und ein paar Hundert Jahre später ganz Palästina christlich war.

Die Realität sieht düster aus, und doch scheint der Tiefpunkt noch nicht erreicht worden zu sein. Syrien und der Irak sind verloren, Jordanien und Libanon sind gefährdet, der islamische Radikalismus nimmt zu, die letzten Christen in Nahost fangen an, ihre Koffer zu packen.

Europa brauchte 500 Jahre, um sich von der Inquisition zur Demokratie zu entwickeln. Auch der Nahe Osten kann sich wandeln. Und wir Christen können bei diesem Wandel mithelfen. Wir haben Einfluss. Wir haben Schulen, Spitäler, Universitäten. Und jeder kann als Einzelner mit seinem Vorbild einen kleinen Beitrag leisten.

Wird es in 40 Jahren im Heiligen Land, in der Wiege des Christentums, noch Christen geben?

Ich sehe eine Paradoxie. Prozentual werden wir weiter schrumpfen bis fast zur Unsichtbarkeit. Aber in ab­­soluten Zahlen werden wir gleich viele sein wie heute oder gar noch mehr. Ja, wir werden noch da sein. Daran glaube ich, sonst würde ich nicht mehr hier sitzen.

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