Die Weltwoche / Eugen Sorg

13.10.2016

Nahost

«Sorry, Saddam»

Von Eugen Sorg und Nathan Beck (Bilder) _ Der IS ist im Irak in tödliche Bedrängnis geraten. In der Hauptstadt Bagdad glauben die Menschen, dass nach der Befreiung alles noch schlimmer wird.

Die Neun-Millionen-Kapitale des Irak wirkt trostlos, schäbig, seelenlos. Stacheldrahtsperren vor Quartiereingängen, Löcher in den Strassen, herumliegender Schutt, mit hohen Betonquadern abgeschirmte Gebäude, Checkpoints überall, an denen Polizei oder Privatmilizen in der Sommerhitze den quälend langsam fliessenden Verkehrsstrom kontrollieren. Wenige Menschen sind zu Fuss unterwegs, viele Läden sind leer oder geschlossen, an Hauswänden hängen Plakate von gefallenen Kriegern, bärtigen Religionsführern. Bagdad scheint von einem Unheil heimgesucht worden zu sein, von einem tödlichen, aber unsichtbaren Feind, der jederzeit und überall zuschlagen kann.

Wie an jenem Sonntagabend vom 3. Juli im Einkaufsviertel des Stadtteils Karrada. Das Ende des Ramadan stand bevor, und die Leute besorgten sich Essen, Blumen, Geschenke für die Kinder, um das Fest zum Fastenbrechen zu feiern, als ein vor einem Geschäft parkierter, unauffälliger Minibus detonierte. Die Explosion war so heftig, dass sie auf beiden Seiten der Strasse tief klaffende Löcher in die mehrstöckigen Gebäude riss und unter anderem auch ein Café auslöschte, wo die Gäste gerade die Fussball-EM verfolgten. Vor allem aber setzte die Bombe eine höllische Hitze frei, die in Form eines weit herum sichtbaren orangefarbenen Feuerballs alles im Umkreis von fünfzig Metern verbrannte. Dreihundert Menschen wurden zerfetzt, verglühten zu Asche, erstickten im Rauch.

Frauenfuss in den Trümmern

Rund drei Wochen später besuche ich den Anschlagsort. Er ist in einen Gedenkschrein umgewandelt worden. Bilder der Verstorbenen bedecken die Brandruinen – Bilder von fröhlichen jungen Männern, Müttern, Kindern. Es werden Kerzen angezündet, zwei Frauen weinen leise, beten, fallen sich in die Arme, versuchen sich zu trösten. Noch immer suchen Freiwillige nach sterblichen Überresten. Gerade vor zwei Tagen wieder stiessen sie in den Trümmern auf einen Frauenfuss, den sie zur genetischen Identifikation den medizinischen Behörden übergaben. Von einigen Opfern fehlt weiterhin jede Spur.

Ein zirka 45-jähriger Mann nähert sich uns schüchtern. Er sei der Besitzer eines Ladens hier, stellt er sich vor, eines Damenschuhgeschäfts, und er zeigt auf eine verkohlte Höhle hinter uns im Parterregeschoss. Er beginnt ungefragt zu erzählen, wie er nach der Explosion ins Freie rennen wollte, aber angesichts der dichten Feuerwand beim Eingang umkehrte und in den vierten Stock flüchtete, gejagt von Hitze und beissendem Rauch. Er schloss die Tür, schlug das Fensterglas ein, brach mit einem Eisen, das ihm Nachbarn zuwarfen, das Fenstergitter auf und kletterte auf die Strasse. Zehn andere seien oben geblieben und alle erstickt. Er schildert die Geschichte seines Überlebens mit verhaltener Stimme, als glaubte er ihr selber noch nicht ganz, als könnte sie jederzeit noch ein schlimmes Ende nehmen.

Und er ändert den Ton auch nicht, als er auf die Regierung zu sprechen kommt. Vierzig Minuten habe es gedauert, meint er, bis die Löschwagen vor Ort eingetroffen seien, die Schläuche seien kaputt gewesen und das verwendete Wasser ungeeignet, um das chemische Feuer zu löschen. Auffällig sei auch, dass zehn Minuten vor dem Anschlag die Strassensperre ins Einkaufsviertel von Karrada aufgehoben worden sei. Er drückt damit aus, dass sich die Regierung nicht um die Leute kümmert, dass sie korrupt ist und dass sie sogar hinter den verheerenden Anschlägen wie demjenigen von Karrada stecken könnte. Warum? Warum nicht? Alles ist möglich hier, niemandem ist zu trauen, der Regierung schon gar nicht, die Niedertracht ist grenzenlos.

Während tausend Jahren herrschten in Mesopotamien, dem heutigen Irak, sunnitisch-muslimische Regenten. Die amerikanischen Invasoren von 2003 eliminierten nicht nur Diktator Saddam Hussein, einen Sunniten aus dem Zentralirak, sondern zerlegten auch dessen Staat, ein feinaustarierter Apparat des Terrors und der Privilegien. Die entmachtete sunnitische Minderheit fürchtete um ihre Weiterexistenz, und die skrupellose und diskriminierende Politik des ersten schiitischen Regierungschefs Nuri al-Maliki, 2007 von der Bush-Administration ausgewählt, bestätigte sie in ihren Urängsten.

Ein erster sunnitischer Aufstand konnte mit Truhen voller Dollar und amerikanischen Schutzzusicherungen vorerst eingedämmt werden. Doch nur wenige Jahre später tauchten aus dem Chaos des Bürgerkrieges im benachbarten Syrien die ultragewalttätigen Terror-Sunniten des Islamischen Staates (IS) auf und überrannten grosse Teile des Irak.  Ihr Führer Abu Bakr al-Baghdadi rief ein Kalifat aus und unterstrich die Ernsthaftigkeit seines Projekts, indem er jeden Ungläubigen öffentlich köpfen, verbrennen, ertrinken, erschiessen liess. Als Ungläubige gelten auch die Schiiten. Die Blitzeroberung war möglich gewesen dank aktiver Unterstützung der sunnitischen Stämme und vieler Sunniten in den Städten. Nach dem von Präsident Obama verordneten Abzug der amerikanischen Truppen waren sie sich selbst überlassen worden, und es war nur folgerichtig, dass sie die Idee eines sunnitischen Staates begrüssten.

2014 standen die schwarzberockten Krieger des IS nach der Einnahme von Falludscha vor den westlichen Toren Bagdads und begannen Abu Ghraib zu infiltrieren, ein Aussenquartier der Hauptstadt. Autobomben und Selbstmordattentäter sollten die Stadtbevölkerung mürbe machen und den Einmarsch vorbereiten. Die Schiiten wussten, was dieser für sie bedeuten würde. Die Regierung könnte sie nicht schützen. Die Offiziere der Sicherheitskräfte waren vor jedem grösseren Gefecht von ihren Posten geflüchtet, und die im Stich gelassenen Truppen wurden zu Tausenden vom IS abgeschlachtet. Die Schiiten begannen, ihre sunnitischen Mitbürger mit wachsendem Misstrauen zu betrachten, mit einem Argwohn, der nach jedem mittlerweile im Tagestakt stattfindenden Bombenanschlag giftiger wurde und den Wunsch nach Rache befeuerte. Die Front verlief quer durch Bagdad, und aus den paar traditionell gemischten Quartieren, Wohnorte urbaner und weltlicher Mittelschichten, wurden zunehmend religiös homogene, hinter Drahtverhauen und Mauern sich duckende Viertel. Sunniten zogen zu Sunniten, Schiiten zu Schiiten.

«Die Leute sind verroht», meint Adil*, «die Menschlichkeit ging verloren, der Nachbar oder gar der Freund könnte ein Verräter sein.» Adil ist mein Übersetzer. Er stammt aus einer schiitischen Familie, ist 48 Jahre alt, hat früher Englisch studiert und führt heute ein kleines Geschäft für Süsswaren. Man lebe in Angst, erzählt er, und verlasse das Haus nur noch, um das Nötigste zu erledigen, Essen, Arbeit, Schule. Jedes Mal, wenn seine älteste Tochter an die Uni gehe, habe er ein ungutes Gefühl. Nicht nur wegen der Bomben, die auf Märkten, in Moscheen, vor Schulen gezündet werden, sondern auch wegen der Entführungen. Diese fänden oft am helllichten Tag statt, ein Auto halte an, das überrumpelte Opfer werde mit einem Sack über dem Kopf in den Kofferraum gesteckt, das Ganze dauere nur ein paar Sekunden. Kidnapping sei ein florierendes Geschäft, treffen könne es jeden, Geschäftsleute, aber auch Frauen und Kinder. Das Lösegeld betrage zehn- bis vierzigtausend Dollar. Nebenbei rät er uns noch ab, in eines der vielen gelben Taxis zu steigen. Man wisse nie.

«Jeder, der könnte», fährt Adil fort, «würde das Land verlassen.» Er selber habe den Zeitpunkt verpasst. Vor 25 Jahren habe er einen Freund besucht, einen Christen, der in seiner Nähe wohnte. Der Freund packte den Wagen. «Wo gehst du hin?», habe er ihn gefragt. «Ich gehe weg. Und du solltest mitkommen.» – «Nein, Saddam hat eben verkündet, dass er seine Soldaten aus Kuwait wieder abziehe. Bald ist alles vorbei.» – «Dann bleib, Dummkopf.» Gerade vorgestern habe sein Freund telefoniert, aus England. «Nun», habe dieser gesagt, «ist alles bald vorbei?» Adil lacht kurz auf. «Ich habe damals falsch entschieden, und jetzt ist es zu spät, und ich bin müde.»

Paradies der Harmlosigkeit

Als Saddam von den Amerikanern gestürzt wurde, sei er auf die Strasse gerannt und habe das grosse Saddam-Plakat am Platz abgebrannt. «Jetzt wird alles gut», habe er gedacht. Doch würde er ihm heute in der Hölle begegnen, würde er sich dafür entschuldigen: «Sorry, Saddam». «Saddam war schlimm», räumt er ein, aber auf ihn folgten die religiösen Parteien und Sekten, und heute hätten sie viele Saddams. «Die Araber brauchen einen starken Führer», sagt er. «Wie Saddam?», frage ich. «Ja, wie Saddam.» – «Aber er war so brutal, dass die Leute nur schon beim Aussprechen seines Namens vor Angst erbleichten.» – «So muss es sein, anders geht es nicht.»

Zu den wenigen Inseln eines besseren, normalen Lebens gehören Restaurants wie das «Scusi» im ehemals lebendigen und wohlhabenden Viertel Mansour. Es ist grosszügig und hell auf zwei Stockwerken angelegt. Familien bestellen Pizzas, Männer trinken heissen Kaffee, an einem Tisch feiert eine Gruppe junger Mädchen bei Fruchtcocktails ihren Schulabschluss und knipst Selfies. Die Stimmung ist entspannt, und die hässliche Realität draussen verflüchtigt sich, als sei sie bloss ein schlechter Traum gewesen. Der Schöpfer dieses Paradieses der Harmlosigkeit ist der Gastrounternehmer Salam Mejbel al-Mohammed, ein vierzigjähriger Bagdader mit gemütlichem Gesicht und wachen Augen. «Die Irakis lieben es zu essen», erklärt er fröhlich, «und weil man sonst nirgendwo hingehen kann, kommen sie in die Restaurants. Eine gute Situation für jemanden, der Geld verdienen will.»

Vor sechzehn Jahren war er in den Libanon gereist, ohne Geld und ohne Pass, und fand dort bald eine Anstellung im Gastgewerbe. Anfänglich putzte er Böden, wusch Geschirr, kochte, kellnerte, dann verhandelte er mit den Lieferanten, machte die Buchhaltung, schliesslich leitete er den Betrieb. Er war besessen von der Idee, einmal sein eigenes Restaurant zu führen, und als er alles gelernt hatte, was es dazu braucht, kehrte er 2005 heim nach Bagdad.

Die Situation schaute rosig aus. Diktator Saddam war weg, das Embargo aufgehoben, Händler und Investoren kehrten zurück. Doch die Blüte währte nicht lange. Antiamerikanische Aufstände und sektiererische Vendetten brachen aus und drohten das Land zu zerreissen. Trotzdem eröffnete Salam 2010 sein erstes Restaurant, genau genommen nur ein kleiner Raum, aber es hatte einen Namen, «Scusi», für den er sich schon im Libanon entschieden hatte, und es gehörte ihm. Sechs Jahre später ist er Herr über drei prosperierende «Scusi»-Filialen mit insgesamt 400 Angestellten.

Salam verkörpert das Urbild des Entrepreneurs. Er kontempliert und sinniert nicht über Probleme, sondern versucht, sie zu lösen, praktisch und konkret. Was nicht lösbar ist, interessiert ihn nicht. Als mittlerweile stadtbekannter und gutverdienender Geschäftsmann zum Beispiel sind er und seine drei Kinder ein ideales Ziel für Kidnapper. Salam hat Überwachungskameras installieren lassen und zu Hause und bei den Lokalen bewaffnete Sicherheitsleute postiert. Wenn er einen Ort verlässt, sagt er niemandem, wohin er geht und wann er wieder zurückkommt. Und nie würde er grössere Geldbeträge in einem seiner Häuser lassen. Die Bedrohung ist damit nicht gebannt, doch Salam verfügt als Tatmensch über die Fähigkeit der mentalen Ausgrenzung und Fokussierung: «Ich ignoriere die Angst. Sonst könnte ich nicht mehr arbeiten.»

Ebenso pragmatisch handhabt er die Realität der religiösen Blutfeindschaften. Diese mögen das Land zugrunde richten, aber in seinem direkten Einflussbereich lässt er sie nicht zu. Drei seiner fünf Partner, erzählt er, seien Schiiten wie er selbst, zwei Sunniten. Ihr Verhältnis sei gut. Man habe zusammengespannt, um Geschäfte zu machen, und nicht, um über Theologie zu diskutieren. Dann ruft er einige junge Kellner, die zufällig in der Nähe sind, an unseren Tisch und fragt sie nach ihrer Herkunft. Es sind Sunniten aus Anbar und Schiiten aus Basra und Nordbagdad. «Siehst du», meint er, «hier zählt nur, wie jemand seine Arbeit macht, und nicht, woran er glaubt. Fängt aber jemand an, von seiner Religion und seiner Sekte zu reden, fliegt er sofort raus.» In knappsten Worten fasst er seine nüchterne Philosophie zusammen, das Geheimnis seines Erfolgs, der im Gegensatz zum Scheitern der ihn umgebenden Kultur steht, die sich immer wieder von trüben Leidenschaften und kollektiven Rasereien hinreissen lässt.

Ein Freund in Belgien hat ihm gesagt, er solle nach Europa kommen, um dort mit ihm Geschäfte zu machen. Doch trotz all den Gefahren und all den Dieben in der Regierung ist es ihm «unmöglich», aufzugeben. «Ich fühle mich sicherer in Bagdad als in Brüssel», lacht er, «dort haben sie ebenfalls verrückte Araber.»

Nebst Disziplin, Freude am Machbaren und schnellen Reflexen helfen ihm auch gute Beziehungen. Salam hat einen Bruder im Innenministerium. Wenn Polizisten oder Ministeriumsbeamte allzu gierig werden und immer neue Abgaben, Gebühren, Spesen erfinden, kann der Hinweis auf die eigenen Regierungskontakte Wunder bewirken.

Wie dies funktioniert, führt er uns während unseres Treffens vor. Wir hatten erwähnt, dass wir seit Tagen vergeblich auf eine journalistische Akkreditierung warten würden. Eine halbe Stunde später meint er beiläufig, wir könnten unsere Bewilligung übrigens nachher abholen. Während unseres Gesprächs hat er immer wieder kurze Telefonate geführt. Eines auch mit dem zuständigen Amt. «Wenn der andere denkt, du seist stark», meint Salam, «dann hat er Respekt. Ansonsten giltst du nichts. So ist es im Irak.» Die Akkreditierung sollte bereitliegen.

Ende Juni war Falludscha, wegen seiner vielen Gebetshäuser auch «Stadt der Moscheen» genannt, nach zweijähriger IS-Herrschaft von Regierungstruppen zurückerobert worden. Es sei ein wichtiger Sieg gewesen, erklärt General Abdul Wahab al-Saad, militärischer Leiter der Operation, unserer kleinen Gruppe von Journalisten im zerstörten Stadtzentrum. Falludscha sei nicht nur ein für den IS symbolisch bedeutsamer Aufstandsort, erklärt der schlachtenerprobte Militär mit der Baseballmütze, die Stadt habe auch eine ganze Reihe Bombenwerkstätten betrieben, deren tödlich präparierte Autos und Sprengstoffwesten regelmässig nach Bagdad losgeschickt worden seien. Man habe Falludscha abgeriegelt, so dass weder Munition noch Nahrung hineingelangen konnten, und während die irakische und die amerikanische Luftwaffe ununterbrochen Angriffe auf IS-Stellungen flogen, habe sich die Zivilbevölkerung über einen «humanitären Korridor» gleichzeitig in Sicherheit bringen können.

Die zwei Gesichter des IS

Nach einem Monat war die Operation erfolgreich abgeschlossen. Man habe 2500 IS-Kämpfer getötet, rapportiert der General, 1500 weitere seien entkommen, wahrscheinlich im Schutze der Flüchtlinge. Fünf Wochen später ist die einstige Halbmillionenstadt immer noch menschenleer. Der IS hat vor seinem Rückzug die Stadt gezielt vermint. Spezialisten der Regierung suchen nach den verborgenen Sprengsätzen und bringen sie zur kontrollierten Explosion. Während des einstündigen Aufenthalts detonieren in unserer Nähe vier Bomben. Der General meint, dass bis Ende Jahr die Einwohner zurückkehren könnten. Der Enthusiasmus Bagdads beim Wiederaufbau der Häuser, Brücken, Schulen, Spitäler dürfte sich aber in Grenzen halten. Nicht nur wegen der für ihre tiefen Taschen berüchtigten Staatsbeamten. Sondern auch weil eine Mehrheit der sunnitischen Bevölkerung Falludschas dem IS zugejubelt hat. Das Mitleid der schiitischen Iraker mit denjenigen, die ihnen an den Kragen wollten, hält sich in Grenzen. ›››

Der 46-jährige Shamel ist einer der aus Falludscha Geflüchteten, der nun wie Zehntausende andere in einem improvisierten Camp westlich von Bagdad auf seine Heimkehr wartet. Der Sunnit, Vater von vier Kindern und ehemaliges Mitglied der Republikanischen Garde Saddams, ist voll des Lobs für den IS. Dessen Kämpfer seien gute Muslime, sie hätten das muslimische Gesetz, die Scharia, eingeführt, Dieben die Hand abgehackt, und er habe seiner Frau gesagt, sie solle ihr Gesicht verhüllen. Zumindest im ersten Jahr seien sie perfekte Dschihadi gewesen und hätten die Leute gut behandelt. Aber dann sei ein anderes Gesicht zum Vorschein gekommen, ein brutales. Einmal hätten sie auf dem Hauptplatz einem Mann den Kopf mit einem Messer abgeschnitten. «Warum?» – «Weil seine Frau der Polizei erzählt hatte, er habe Gott verflucht.»

Der Mann bestritt dies heftig, aber man glaubte der Frau. Shamel ist nicht gegen die Köpfung von Ungläubigen, aber nur unter dem Vorbehalt, dass es vorher muslimisch korrekt abläuft, mit einem Gericht und einem Prozess mit Zeugen. Allein auf die Aussage der Frau abzustellen, genügt nicht. Aufgrund dieses Vorfalls und einiger weiterer Beobachtungen habe er gemerkt, dass der IS eine «antimuslimische Verschwörung» sei. «Wer steckt dahinter?» Die Antwort kommt sofort und erstaunt nicht. «Der Iran, die USA und Israel.» – «Was würdest du tun, wenn sich dein Ältester dem IS anschliessen würde?» Der Achtzehnjährige sitzt neben ihm und verzieht keine Miene, als der Vater sagt: «Ihn töten.» – «Und was machst du, wenn du wieder zu Hause bist?» – «Ich werde gegen die schiitischen Milizen kämpfen und gegen Amerika, das diese unterstützt.»

Das Kriegsglück hat sich gewendet

Im Sommer 2014 hatte der höchste schiitische Kleriker des Landes, der greise Grossajatollah Ali al-Sistani eine Fatwa erlassen. Alle Iraker seien verpflichtet, in den Heiligen Krieg gegen den IS zu ziehen. Die todesbereiten Hopliten des neuen Kalifats hatten eben die Drei-Millionen-Stadt Mossul im Norden des Landes eingenommen, belauerten Bagdad, und die Streitkräfte der Regierung befanden sich in Auflösung. Dem Marschbefehl von Sistani, der bisher immer für die politische Abstinenz des Klerus plädiert hatte, wurde überwältigend Folge geleistet. Über fünfzig schiitische Milizen mit geschätzt 120 000 Freischärlern formierten sich in das Ordnungsvakuum hinein: Religiös motivierte Kampfverbände, kriminelle Gangs, Quartierverteidigungstrupps. Untereinander häufig unheilbar zerstritten, nur formal verbunden als «Mobilisierte Volksmilizen» unter dem Schirm des schwindsüchtigen Staates, waren sie jedoch vereint durch die gemeinsame Bedrohung IS, die neueste Verkörperung des epischen, 1300 Jahre alten sunnitischen Erzfeindes. Sie machten sich an die Sicherung Bagdads, und sie unterstützten die demoralisierte Armee an den verschiedenen Gefechtsfronten. Ihrem bewaffneten bravado und der finanziellen und militärischen Unterstützung des Iran ist es wesentlich zu verdanken, dass das Kriegsglück gewendet hat und Schlüsselstädte wie Tikrit, Ramadi, Falludscha zurückerobert werden konnten. Der IS ist in tödliche Bedrängnis geraten.

Einer der Helden der schiitischen Reconquista ist Abu Azrael. Der 38-jährige Familienvater war Angestellter im Kommunikationsministerium, als er dem Ruf Sistanis folgte, seine Stelle aufgab und sich dem Imam-Ali-Bataillon anschloss, einer vom Iran unterstützten Miliz. Bald kannte ihn jedes Kind. Ob im Schützengraben, beim Häuserkampf, bei der Exekution von IS-Kämpfern, alles dokumentiert er mit seinem Handy und stellt die Aufnahmen auf Facebook. Sein mitleidloser Wagemut, seine Verhöhnungen des Feindes, seine unerschütterliche Siegesgewissheit tat den geschundenen schiitischen Seelen gut. Er wurde ein Kriegsstar, erwarb den inoffiziellen Ehrentitel «Rambo des Irak» und hat heute  3,7 Millionen Follower auf Facebook.

Wir treffen uns in der Lobby des Hotels «Baghdad» im Zentrum der Hauptstadt. Mit seinem massiven Muskelaufbau erinnert er an Hulk, nur macht er einen aufgeräumteren Eindruck als die tobende Comicfigur. Sein Lachen ist raumfüllend und sympathisch. Am Hals trägt er ein Schwert-Tattoo, am enormen Oberarm tätowierte Symbole aus der schiitischen Heilsgeschichte. Er redet gerne und unbekümmert vor den anderen Gästen im Raum, die ihn erkannt haben und die unauffällig unserem Gespräch zu folgen versuchen. Morgen reise er wieder an die Front, erzählt er, nach Shergat, auf halbem Weg nach Mossul. Er sei zuversichtlich, dass dieses bald befreit und der IS vernichtet sein werde. «Wie kämpft der IS?» «Er hat erfahrene Krieger, die Tschetschenen, die sind gut und tapfer, und wenn sie erwischt werden, rennen sie nicht weg. Sie sind gefährlich und ergeben sich nie, sondern zünden  den Sprenggürtel. Respekt. Die Europäer hingegen werden vor allem für Selbstmordmissionen eingesetzt. Sie sind auf Drogen und realisieren nicht, was sie tun.»

«Vater des Todesengels»

Immer wieder greift er zum Handy und präsentiert ein Filmchen. «Hier, Falludscha, die Tschetschenen waren gleich hinter der nächsten Mauer.» Man sieht ihn in einer Häuserkampfszene, inmitten von Schusslärm und Staub, neben ihm ein Mitkämpfer. «Mein Märtyrerfreund aus Afghanistan. Er starb kurz darauf.» Eine andere verwackelte Aufnahme zeigt ihn mit Regierungssoldaten auf einem Frontposten irgendwo in der Wüste. Plötzlich geraten sie unter Beschuss. Während die Soldaten hinter Sandhügeln verschwinden, rennt Abu Azrael mit einem Gefährten los, in Richtung Feind, aus ihren automatischen Gewehren feuernd. Etwas später folgen zögernd zwei Soldaten ihrem Beispiel. «Ich habe eine Kugel abbekommen.» Lachend weist er auf eine Narbe am Hals. «Aber wir haben das Terroristennest ausgeräuchert.»

Auf einem weiteren Film sieht man einen am Boden auf dem Rücken liegenden Mann, offenbar tot, und Abu Azrael, der dem Reglosen ins Gesicht tritt. «Ein Mörder des IS. Er war im Gefängnis und bestach einen Wächter, damit der ihn freiliess. Wir haben ihn wieder gefasst und getötet.» Sie würden ihre Gefangenen nie der Regierung übergeben, fährt er fort, sondern gleich töten. «Erschiessen, dann verbrennen. Sie verbrennen unsere Kämpfer, und wir verbrennen sie. Auge um Auge.» Ob sie wie der IS die Gefangenen auch köpfen würden? Sie seien keine Terroristen, so seine vage Antwort, er und seine Brüder kämpften gemäss den religiösen Regeln, und Zivilisten zu töten, sei nicht erlaubt. «Ist Abu Azrael dein richtiger Name? Was bedeutet er?» – «Vater des Todesengels. Der IS gab mir den Namen. Seine Leute verfolgen meine Facebook-Beiträge, und wir sprechen miteinander auf Skype. Sie würden mir nachstellen, bis sie mich kriegten, sagten sie, und mich dann wie den jordanischen Piloten bei lebendigem Leib verbrennen.» – «Wie schläfst du?» – «Wie ein Wolf. Ein Auge ist immer offen.»

Wir begleiten ihn zu seinem Minivan auf dem Hotelparkplatz. «Schau hier», sagt er und schiebt die Seitentüre auf. Im Inneren stapeln sich Maschinenpistolen, Snipergewehre, Kisten mit Munition, Kisten mit Handgranaten, kugelsichere Westen, panzerbrechende Projektile, Raketenrohre, Kommunikationstechnologie, Dolche, Schwerter, Benzinkanister. Abu Azraels Wagen ist eine mobile, hochexplosive Waffenkammer. Strahlend greift er zu einem der Säbel mit gezackter Klinge. «Dem IS abgenommen. Der Besitzer braucht ihn nicht mehr.» Inzwischen haben sich einige Leute um uns geschart. «Ein guter Mann», versichert uns ehrfürchtig ein Bursche und reckt den Daumen in die Höhe. Die übrigen stimmen eifrig nickend zu, und die Mutigsten fragen, ob Abu Azrael für ein Selfie mit ihnen posieren würde. Dieser willigt gutgelaunt ein. Nachdem er abgefahren ist, sagt Adil: «Er hat behauptet, sie würden keine Gefangenen köpfen. Schau her.» Er zeigt mir ein Foto auf seinem Handy. Man sieht Abu Azrael mit einigen seiner Mitkämpfer. Alle strahlen breit und zufrieden in die Kamera, und man glaubt unwillkürlich, Abu Azraels raumfüllendes Lachen zu hören. Bei einem genaueren Blick auf das Bild erkennt man den Grund ihrer Fröhlichkeit. Abu Azrael und drei seiner Männer halten abgeschnittene Köpfe von IS-Kriegern in den Händen.

Jeden Freitag wird auf Bagdads Tahrir-Platz gegen die Regierung demonstriert. Heute  hat die Sekte des einflussreichen Predigers Muqtada as-Sadr und gleichzeitig die Kommunistische Partei ihre Anhänger zum Protest auf dem legendären Platz am Ostufer des Tigris aufgerufen. Die Zufahrtsstrassen sind für Autos gesperrt, an den vielen Checkpoints kontrollieren Militärs und Milizionäre die Papiere von Passanten, die zum Tahrir unterwegs sind, Bombenspezialisten mit nervösen Spürhunden untersuchen stichprobenweise Kleider und Taschen. Die Menge, grösstenteils Männer, rückt näher zusammen, als die Veranstaltung beginnt. Die Auftritte der beiden so unterschiedlichen Lager klingen identisch. Beide Redner versuchen aufzuwiegeln, drohen, klagen an, skandieren heiser gebetsartige Slogans, die von den Manifestanten echoartig wiederholt werden. Zwischendurch wird Musik eingespielt, schwer, dramatisch, wie ein Endzeitversprechen, als würde der Mahdi zum letzten Gefecht auf die Erde herabsteigen. Langsam verschmelzen die Teilnehmer zu einem einzigen energetischen Hyperkörper, zu einem archaischen Massenchor, der den Taktanweisungen der Predigerdirigenten widerstandslos folgt.

Der Anlass hat etwas Irreales, Verrücktes, ein Eindruck, der wahrscheinlich verstärkt wird durch die Hitze. Es ist 16 Uhr, aber immer noch 50 Grad heiss, über Mittag waren es brutale  54 Grad. Die Bewegungen verlangsamen sich, Schwindel und Benommenheit setzen ein, und die Dinge beginnen leicht zu verschwimmen. Man hat das Gefühl, das Hirn trockne aus, und würde sich nicht wundern, von Halluzinationen heimgesucht zu werden. Oder was ist mit diesem jüngeren Mann im schwarzen Hemd und dem Rucksack? Er wirkt abwesend und murmelt etwas vor sich hin. Und was ist mit den zwei Burschen auf dem Mäuerchen? Was haben sie sich zugeflüstert, bevor jeder mit einer Tasche in eine andere Richtung verschwand? Der Tahrir ist ein idealer Ort für einen Selbstmordanschlag. Viele Leute auf engem Raum, Panik, Chaos, Blut. Ein unangenehmes Gefühl kriecht in mir hoch, beängstigend, einschnürend. Ich kann es nicht kontrollieren. Das Bagdad-Syndrom, die Paranoia, hat mich erfasst. Ich muss sofort raus aus der Menge und atme erst wieder ruhiger, als ich eine leere Nebenstrasse erreiche.

Im Büro von Oberst Riad al-Musawi hängt neben Bildern von schiitischen Heiligen eine grosse Karte der Hauptstadt. Sie ist dicht gespickt mit blauen, roten und gelben Leuchtknöpfen. Blau steht für entschärfte Bomben, Rot und Gelb für erfolgreiche Selbstmord- und Autobombenanschläge. Drückt man einen Schalter, beginnen sie zu blinken. Die roten und gelben Knöpfe überwiegen bei weitem die blauen. Musawi ist Kommandant der «Adler von Bagdad», der Anti-Bomben-Einheit der Hauptstadt. Dass er einen der gefährlichsten Jobs in einem gefährlichen Land hat, sieht man dem konzentriert, aber entspannt wirkenden Fünfzigjährigen nicht an. Höchstens die dunklen Augenringe deuten auf eine nervenaufreibende Arbeit hin.

Wenn irgendwo ein verdächtiges Auto gemeldet wird oder sich eine Explosion ereignet hat, rücken er und seine Männer aus. Wie vor wenigen Tagen, als an einer Beerdigung im schiitischen Stadtteil Sadr City eine am Strassenrand deponierte Bombe gezündet worden. Als sie den Ort erreichten, jagte sich inmitten des Getümmels der Helfer, Verwundeten und Verzweifelten noch ein Selbstmordattentäter in die Luft. «Ein häufiges Szenario», erklärt Musawi. «Und es ist auch schon vorgekommen», erzählt er, «dass ein Zweitattentäter auf dem Weg zur Menge hin entdeckt und von einem meiner Männer festgehalten wurde. Eine Heldentat, aber auch ein Ausdruck fehlender Erfahrung. Der Attentäter drückte den Zünder in seiner Hosentasche, und beide starben.» Seit der Gründung der Bagdad-Adler 2003 sind 136 Männer im Dienst umgekommen. Aber es sei einfach, so der Oberst, neue Mitglieder für die 54-köpfige Spezialeinheit zu finden.

Wie es möglich sei, frage ich ihn, dass ein mit Sprengstoff vollgepackter Wagen nach Bagdad hineinfahren und unbehelligt zwei Dutzend Checkpoints passieren könne, um vor einem Einkaufsviertel im Stadtzentrum zur Explosion gebracht zu werden, wie neulich in Karrada. Es fehle seit 2003 an zuverlässigen Geheimdienstinformationen, antwortet er vage, und durch die Checkpoints führen täglich Tausende Fahrzeuge. Es ist ihm offensichtlich unangenehm, über das Versagen seiner Kollegen zu reden. Und noch unangenehmer ist ihm die Geschichte von jenen nutzlosen Bombendetektoren, die für grosse Empörung und einen toxischen Zynismusschub im Volk gesorgt hatten. Regierungsmitglieder hatten von einem britischen Betrüger für 40 Millionen Dollar Geräte gekauft, die zum Auffinden von verirrten Golfbällen entwickelt worden waren und nun zum Aufspüren von Explosivmaterial eingesetzt werden sollten. Bald war klar, dass die Teile nichts taugten, aber trotzdem mussten sie weiterverwendet werden, auch in Musawis Einheit. Man habe jetzt neue Detektoren, meint er nur, als ich ihn auf den Skandal anspreche. Einen wie ihn, der seit Jahren am Kraterrand der Hölle sein Leben und das der Kollegen für seine Mitbürger riskiert, muss es besonders schmerzen und erbittern, von korrupten Leadern derart hintergangen zu werden. Aber er lässt sich nichts anmerken. Lieber spricht er über seine Arbeit, über Dinge, auf die er und seine Einheit stolz sind. «Kommt», meint er, «ich zeige euch unser Museum.»

Boshaftigkeit und Kreativität

Er öffnet die Tür zu einem Raum von der Grösse eines Wohnzimmers. Ich trete ein, und sofort geht ein munteres Vogelgezwitscher los. «Du bist tot», lacht Musawi, und die drei vernarbten und hinkenden Teammitglieder, die uns begleiten, finden es ebenfalls urkomisch. Ich war auf den Eingangsteppich getreten, unter dem ein Zünder versteckt gewesen war. Anstatt einer Bombe löste er das künstliche Vogeltschilpen aus. Ich sollte noch dreimal in eine Falle tappen, immer zum Gaudi der Bombenspezialisten. Das «Museum» zeigt Exponate, die vom IS als Sprengfallen benutzt und von den Adlern entschärft worden sind. Auf den ersten Blick glaubt man, in den Bastelkeller eines technisch begabten Jungen geraten zu sein.

Auf den zweiten Blick lernt man, dass sich mit der nötigen Boshaftigkeit und Kreativität praktisch alles in eine Bombe verwandeln lässt. Taschenlampen, Spielzeugautos, TVs, Handys, Tischdekorationen, Plastikblumensträusse, Kameras, Rucksäcke, Gürtel, Stühle, Batterien, Shampooflaschen, Briefe, Teekannen, Türklinken, Puppen, Lichtschalter, Kühlschränke, Damen- und Herrenwesten, Biscuitbüchsen und vieles mehr, alles sorgfältig, aber nach dem Zufallsprinzip auf den Regalen aufgereiht; vertraute Alltagsgegenstände, die durch ihre letale Umnutzung plötzlich in einem neuen, unheimlichen Licht erscheinen; eine brüchige Normalität, nicht ohne schwarzen Humor, eine gefährdete Ruhe und ein oberflächlich geordnetes Chaos, wie von Fischli/Weiss arrangiert. Es ist der bemerkenswerteste Museumsbesuch, an den ich mich erinnern kann.

Am nächsten Tag fährt uns Adil an den Flughafen. Er denkt, dass Mossul bald fallen und der IS aus dem Irak vertrieben werden wird. Doch er hat aus den Erfahrungen der letzten vierzig Jahre seine Lehren gezogen. «Es wird dadurch nicht besser. Dann werden die Schiiten aufeinander losgehen.» Wahrscheinlich hat er recht. In dieser Weltgegend bekommen die düstersten Pessimisten meistens recht.

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