Die Weltwoche

17.01.2019

Eine Frage der Moral

Katastrophen-Theater

Von Eugen Sorg

Die korrigierende Schwerkraft des praktischen Lebens greift bei Berufsintellektuellen wie Milo Rau nur bedingt. Das macht sie anfällig für die Versuchungen des Totalitarismus.

Ein Aufsatz des britischen Essayisten und Gefängnisarztes Theodore Dalrymple trägt den verblüffenden Titel «Why Intellectuals Like Genocide» (Warum Intellektuelle Genozid mögen). Dalrymple greift darin eine Kontroverse auf, die Anfang dieses Jahrhunderts Australien nachhaltig aufgewühlt hat. Der Historiker Keith Windshuttle war nach umfassenden und peniblen Recherchen zum Resultat gelangt, dass bei der frühen britischen Besiedelung Tasmaniens entgegen der bisherigen Lehrmeinung kein Genozid, also kein planmässiger Massenmord an der Urbevölkerung, stattgefunden habe.

Anstatt Erleichterung oder zumindest Neugierde hervorzurufen, versetzte dieser Forschungsbefund einen Grossteil der nationalen Intelligenzija in Empörung. Sie verwünschte den Historiker und beschimpfte ihn als australische Variante eines Holocaustleugners. Sie reagierte wütend «wie ein Kind, dem man das Spielzeug aus den Händen gerissen hatte».

Verderbtheits-Apriori

Warum, so fragte sich Dalrymple, wollte man unbedingt, dass die Gründerväter einen Völkermord begangen hatten? Intellektuelle, so seine Vermutung, betrachteten sich als natürliche geistig-moralische Elite. Nur sie sind gemäss Eigeneinschätzung genügend geschult, in Abstraktionen zu denken und die wirklich grossen Probleme wie Schuld und Sühne zu erkennen und zu lösen. Und was gäbe es für ein grösseres Problem als eine wohlhabende, sich glücklich wähnende Nation wie Australien, deren Geburt sich einem monströsen Verbrechen verdankt?

Hier lag die epochale Aufgabe der Intelligenzija: ein unwissendes, blindes Volk aus seinem moralischen Labyrinth heraus ans Licht der Wahrheit und der Reue zu führen und bei einem gesellschaftlichen Neubeginn anzuleiten. Und in diesem Sinne, folgert Dalrymple, «mögen» die Intellektuellen den Genozid. Er verleiht ihnen Macht und gravitas. Der ketzerische Historiker hingegen, der in seiner Studie nachzuweisen versuchte, dass es keinen Genozid gab, stellte damit auch ihre grandiose Rolle als moralische Zentralinstanz und geistige Leader in Frage.

Dalrymples Beobachtung an der australischen Geisteselite lässt sich unschwer in unseren Breitengraden wiederholen. Auch hier huldigen viele Intellektuelle dem Verderbtheits-Apriori, wenn es um das eigene Land oder die eigene Kultur geht. Der Berner Theatermacher Milo Rau etwa, für sein Bühnen-Reenactment von Gewalt und Massenmord international gefeiert, generiert in Interviews und Aufsätzen regelmässig Aufmerksamkeit durch masslose Schweiz-Beschimpfungen – «kriminelles Land», «Verbrechensstandort» – und apokalyptisches Raunen: «Der Sozialismus ist tot, die Klimakatastrophe ist unvermeidlich, die Geschichte der Menschheit neigt sich ihrem Ende zu.»

Berufsintellektuelle wie Rau existieren in Ideen, Sätzen, Begriffen. Die korrigierende Schwerkraft des praktischen Lebens greift bei ihnen nur bedingt. Umso anfälliger sind sie für die narzisstischen Versuchungen des Jesuskomplexes – «in unseren Seelen [jenen der Künstler] wiederholt sich der objektive Horror unseres Planeten» – oder des Totalitarismus. Vor allem wenn sie selber an ihre Untergangsprophetie zu glauben beginnen. Dann schlägt ihre Stunde, «ins Getriebe der Geschichte einzugreifen», und alles ist erlaubt, dient es der Rettung der Welt. Und so schwärmt Milo Rau in seinem Essay «Was tun?» von der eiskalten, einen «befreienden Browning-Geruch» verströmenden Prosa des roten Terminators und Diktators Lenin, der nicht nur den «Kapitalismus» «zerschmettert», sondern als «lächelnder Philosophen-König» auch die kommunistische Utopie antizipiert habe.

Raus Essay schliesst mit einem etwas rotzigen inneren Dialog. Er enthüllt, wahrscheinlich ungewollt, was sich alles hinter der angeblichen Sorge um die Welt verstecken kann: blasierter Zynismus, Wichtigtuerei, moralischer Nihilismus.

«Es geht also darum, noch einmal von vorn anzufangen? Mit Lenin und dem ganzen Scheiss?» – «Genau.» – «Aber ist es nicht schon das erste Mal danebengegangen?» – «Könnte man sagen.» – «Ist es also nicht erwartbar, dass uns die Sache auch diesmal entgleitet?» – «Ehrlich gesagt, wäre das egal.» – «Warum?» – «Die Sache ist uns ja ohnehin längst entglitten.» – «Das heisst, wir haben gar keine Wahl?» – «Nein, wir haben die Wahl. Aber eben nur genau diese.»

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