Die Weltwoche

28.02.2019

Eine Frage der Moral

Tödliche Illusionen

Von Eugen Sorg

Vierfachmörder Thomas N. möchte in die Therapie. Das ist verständlich, schliesslich will er irgendwann das Gefängnis wieder verlassen können. Doch das Böse ist nicht therapierbar.

Wenige hatten mehr Einblick in menschliche Abgründe als der kürzlich verstorbene Publizist Peter Holenstein. Er traf sich mit Kindermördern, Babyquälern, löste ungeklärte Mordfälle. Und als langjähriger Kenner des Strafvollzugs konstatierte er eine «Therapiegläubigkeit der Justiz», die geradezu «religiöse Züge» angenommen habe. Nicht mehr «Strafe, Schuld und Sühne» stünden bei den Gerichten im Vordergrund, so der erfolgreiche Buchautor, sondern die von der «Therapie-Industrie» vorgegaukelte Illusion, «für jeden Delinquenten die punktgenaue Therapie zu haben».

Was Holenstein zum schweizerischen Strafsystem anmerkte, lässt sich in allen reichen Ländern des Westens beobachten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich schleichend ein einzigartiger kultureller Paradigma-Wechsel vollzogen: Das Böse, lautete die neue Frohbotschaft, sei keine zentrale Kategorie der menschlichen Existenz, wie alle Völker und Religionen bisher geglaubt hatten, sondern eine akzidentelle Erscheinung. Nicht der Verbrecher sei böse, sondern die Umstände, die ihn erst zum Verbrecher gemacht hätten – die Erziehung, das Milieu, frühkindliche Traumata. Auch der Täter sei letztlich ein Opfer und die Heilung seiner verletzten Seele der Königsweg zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Das Böse sei therapierbar. Soweit die Utopie.

Nun haben Studien immer wieder die Wirksamkeit von psychotherapeutischen Remeduren erforscht. Und kamen immer wieder zum selben ernüchternden Resultat wie schon Freud, Gottvater der tiefenpsychologischen Sprechkur, der gegen Ende seines Lebens bilanzierte: «Ich glaube nicht, dass unsere Heilerfolge es mit denen von Lourdes aufnehmen können.» Doch die empirisch belegte Erfolglosigkeit hat kaum Konsequenzen. Die Grundannahmen des Therapeutismus gehören längst zu den allgemein akzeptierten Gewissheiten, was es den Seelenexperten leichter macht, trotz dubiosem Leistungsausweis ihrer Zunft sich weiterhin mit dem Nimbus einer angeblich exakten Wissenschaft zu schmücken.

Wie im Fall des Vierfachmörders von Rupperswil, der letztes Jahr vor Gericht verhandelt wurde und die ganze Schweiz aufgewühlt hatte. Der 33-jährige Täter Thomas N. hatte sich unter einem Vorwand Zugang zu einer Familie verschafft. Er fesselte die Mutter, die zwei Söhne und die Freundin des älteren Sohnes, verging sich pervers und sadistisch am jüngeren, dreizehn, filmte sich dabei, schnitt allen die Kehle durch und setzte das Haus in Brand, um die Spuren zu verwischen. Danach lud er seine Mutter, bei der er wohnte, in die Ferien ein. Der Rucksack mit den Utensilien für das nächste Verbrechen war bereits wieder gepackt, als er gefasst werden konnte. Schockierend war neben der Tat an sich die kalte Gnadenlosigkeit, mit der er sie ausgeführt hatte. Thomas N. hatte jeden Schritt akribisch geplant und mit maschineller Konsequenz umgesetzt.

Er war bis anhin noch nie polizeilich aufgefallen. Er stammte aus einem intakten Elternhaus und war mit einem Bruder aufgewachsen, der ein normales Leben führt. Was für ein Mensch ist Thomas N., was trieb ihn an? Zwei Gerichtspsychiater wurden aufgeboten. Der eine diagnostizierte beim pädophilen N. eine «narzisstische», der andere eine «zwanghafte Persönlichkeitsstörung»; eine «durchschnittliche Intelligenz» der erste, eine «überdurchschnittliche» der zweite. Was dies mit den skrupellosen Morden zu tun haben sollte, blieb unklar. Ähnliche Persönlichkeitsbilder finden sich bei vielen Menschen. Sie werden deswegen nicht zu Killern. Erstaunlicherweise waren sich die zwei Psycho-Experten aber darin einig, dass Thomas N. «therapierbar» sei. Wie wollten sie dies diagnostizieren, ohne zu wissen, warum er gemordet hatte? Was sollte therapiert werden? Amoral, tiefste Verworfenheit, mitleidlose Triebvergottung? Wussten die Psychiater von einem einzigen vergleichbaren Fall weltweit, wo dieses therapeutische Wunder gelungen wäre? Von den beiden renommierten Gutachtern kamen nichts ausser Banalitäten und ein paar psychiatrischen Imponiervokabeln. Sie gelangten nicht einmal in die Nähe dieses Abgrunds des Bösen.

Aber auch das Gericht stellte diese elementaren Fragen nicht. Es folgte dem rätselhaften Befund «therapierbar» und verzichtete auf eine lebenslange Verwahrung des monströsen Zeitgenossen. Doch Richter sollten sich nicht an utopischen Heilsillusionen orientieren. Eine «therapiegläubige Justiz» kann gefährlich werden. Die Morde an Lucie, Marie, Adeline beweisen es.

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