Basler Zeitung

10.03.2017

Eine Frage der Moral

Sieg oder Tod

Von Eugen Sorg

Die Geschichte der Völker ist eine Abfolge von Perioden prekärer Stabilität und verheerenden Gewalttätigkeiten. Politische Machtwechsel insbesondere beschworen seit jeher die Gefahr sozialen Chaos, die Dämonen des Bürgerkriegs herauf. Dem Sieger des Kampfs um die Herrschaft fällt alles zu: Ruhm, Reich, Schätze. Auf den Verlierer hingegen wartet der Tod oder Schlimmeres. Entsprechend gnadenlos wird der Kampf geführt.

Eine der grossen Bühnen für shakespearesche Königsdramen und andere Urszenen der Politik blieb bis in die heutigen Tage Afghanistan. In den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts zum Beispiel versuchte König Amanullah das Land zu modernisieren. Sein Vorbild war Atatürk. Er liess eine Verfassung schreiben, schuf eine weltliche Justiz, verbot die Sklaverei, optimierte das Steuersystem, verordnete den Beamten westliche Kleidung, gründete Mädchenschulen. Die junge und westlich erzogene Königin Soraya warf mit einer schockierenden Geste vor versammelter Öffentlichkeit den Schleier von sich, jenes Textil, das die Entrechtung der Frau im überlieferten Islam verkörpert. Die konservativen Mullahs und die Clan­ältesten verabscheuten die säkularen Reformen. Diese beschnitten ihre traditionellen Vorrechte. Die Notabeln riefen die Stämme zum Aufstand gegen den «anti-muslimischen» König auf. Bald war ein grosser Teil des Landes in Aufruhr.

Von den Wirren profitierte Habibullah Kalakani, ein charismatischer Bandit, der sich mit Überfällen auf Reisekonvois, Entführungen, Erpressungen und tollkühner Skrupellosigkeit einen gewissen Ruf erworben hatte. Anfang 1929 marschierte der aus ärmster Familie stammende Analphabet, als «Bacha Sakao», «Sohn des Wasserträgers» in Erinnerung geblieben, mit seinen Männern in Kabul ein, liess sich zum König segnen und gab sich den Namen «Ghazi Khan», «Der Siegreiche». Er ernannte einen seiner Kumpane, einen ehemaligen Küchengehilfen der englischen Botschaft, zum Innenminister, führte die Scharia ein, schloss die Mädchenschulen und liess die Blumen vor dem Königspalast ausgraben, um Gemüse anzupflanzen.

Reformkönig Amanullah und Gattin Soraya entgingen knapp der Hinrichtung. Im weissen Rolls-Royce, begleitet von der Leibgarde und verfolgt von einem Strassenmob, gelang ihnen im letzten Moment die Flucht aus Kabul. Amanullah, der seinerseits an die Macht gelangt war, indem er seinen Amtsvorgänger, einen Onkel, ermorden liess, sollte erst 1960, in Zürich, fern der Heimat, eines natürlichen Todes sterben.

Habibullah alias Bacha Sakao wiederum konnte sich nur kurze Zeit des neuen Amtes erfreuen. Sein Coup hatte die übrigen Stämme in Schock versetzt. Der neue König war Tadschike. Seit Jahrhunderten jedoch stammten die afghanischen Herrscher immer aus denselben zwei Paschtunen-Stämmen. Mehr noch als die ungehobelten Manieren und die niedrige Herkunft störte seine ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit. Bacha Sakao verletzte die durch Tradition geheiligte Thronfolge. Und er gefährdete den Zugang zu den staatlichen Geldpfründen, der für den Machterhalt der eigenen erlauchten Familien unabdingbar war. Er war für die Übergangenen kein legitimer König. Innert kürzester Zeit schmiedeten die ansonsten chronisch zerstrittenen paschtunischen Stämme ein militärisches Bündnis, das Kabul neun Monate später zurückeroberte. Königsbrigant Bacha Sakao, der in die Berge geflüchtet war, wurde mit falschen Versprechen in die Hauptstadt gelockt und zusammen mit seinen zehn engsten Weggefährten gesteinigt und öffentlich aufgehängt.

Eine der gewaltigsten Leistungen der europäisch-westlichen Zivilisation ist die Erfindung der politischen Gewaltentrennung. Rivalen müssen sich nicht mehr umbringen, um zum Erfolg zu kommen. Beide überleben und der Verlierer kann bei den nächsten Wahlen wieder antreten. Dabei sind die destruktiven Leidenschaften nicht verschwunden. Wie mächtig diese weiterhin sind, zeigt sich bei hochemotionalen Politwahlen wie neulich in den USA. Das anhaltende mediale Kesseltreiben gegen den Sieger Trump, ein «illegitimer» Aussenseiter wie damals der Brigant von Kabul, der Hohn und der Hass, die hysterisch-­paranoiden Unterstellungen, all die symbolischen Todeswünsche der Wahlverlierer an die Adresse des demokratisch gewählten Präsidenten, sind ein Echo aus jenen Zeiten, als politische Gegner noch Todfeinde waren. Der Mensch ist gleich geblieben. Nur die hiesigen politischen Systeme sind klüger geworden.

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